Es gibt viele Arten, eine Person einzuschüchtern: Man kann eine Schlägertruppe einsetzen, die Bremsleitungen des Autos ansägen oder den Hund am Fensterkreuz aufknüpfen. Das alles hat Sihem Bensedrine, Chefredakteurin der tunesischen Internet-Zeitung „Kalima“, hinter sich. Und noch viel mehr. An Phantasie hat es der Geheimpolizei nie gemangelt. Das Perfideste, was der 52jährigen Journalistin widerfahren ist, war vielleicht die Geschichte mit dem Porno. Da schickte ihr die Post einen dicken Briefumschlag zu. Als sie ihn öffnete, fand sie ein Album mit einem Dutzend Fotos, die ein Pärchen zeigen, das am Strand kopuliert. Das Gesicht der Frau ist zwar verschwommen, die Bildunterschriften jedoch klar: „Die Hure Sihem.“ Dieselbe Postsendung ging auch an alle Journalisten und Rechtsanwälte Tunesiens und an sämtliche Vereine des Landes. Omar Mestiri, der Ehemann der Journalistin, fand das abstoßende Album zusammen mit einem geköpften Vogel unter die Scheibenwischer seines Autos geklemmt. Und auch in der Schulklasse ihres jüngsten Sohnes zirkulierte die Fotosammlung.
„Man wollte meine guten Ruf beschädigen“, erinnert sich Sihem Bensedrine, die seit dem 10. Juli in Hamburg lebt, „gegen diesen Angriff konnte ich mich kaum wehren.“ Ihre Reputation hat sich die Journalistin vor allem durch ihren unerschrockenen und kompromisslosen Einsatz gegen Folter und Repression erworben. Schon zu Beginn der 90er Jahre gründete sie die „Tunesische Liga für Menschenrechte“. 1987 hatte Ministerpräsident Ben Ali den Staatschef Habib Bourguiba, der das Land 30 Jahre lang regiert hatte, für psychisch krank und amtsunfähig erklärt und seine Nachfolge angetreten. Schon kurz nach dem „medizinischen Staatsstreich“ wies er die demokratische Opposition, die wie im benachbarten Algerien Frühlingsluft witterte, in die Schranken. Die Presse, die in den letzten Jahren der Herrschaft Bourguibas relativ frei gewesen war, wurde an die Kandare genommen. Ben Ali ist noch heute an der Macht, und während die Zeitungen im unruhigen Algerien und seit zwei Jahren auch in Marokko die Regierung kritisieren und über den Islam diskutieren dürfen, sind die heutigen Gazetten Tunesiens noch am ehesten mit der „Prawda“ und dem „Neuen Deutschland“ zu Zeiten Breschnews und Honeckers zu vergleichen.
„Ben Ali hat die Mentalität und den Horizont eines Polizeikommissars“, urteilt Sihem Bensedrine, „wir haben in Tunesien eine sechsmal höhere Polizeidichte als in Frankreich.“ Auch unter Bourgiba habe es Menschenrechtsverletzungen gegeben, sagt sie, „aber erst Ben Ali hat die Sippenhaftung eingeführt.“ Ihre Schwester wurde wegen Fahrerflucht zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt, obwohl sie zum fraglichen Zeitpunkt nachweislich im Krankenhaus als Kardiologin arbeitete. Ihre drei Kinder wurden jahrelang von Geheimpolizisten belästigt und bedroht. Ihrem Mann, der Landwirt ist, wurden dreimal Fahrzeuge gestohlen. Da sich die Polizei aber weigerte, eine Diebstahlanzeige entgegenzunehmen, rückte die Versicherung kein Geld heraus. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, Generalsekretär des „Nationalen Rates für die Freiheit in Tunesien“ zu werden.
Als Sihem Bensedrine im Oktober 1999 – „von irgendwas musste ich ja leben“ – einen Verlag gründete, dauerte es keine drei Monate, bis die Büros schon zweimal verwüstet waren. Die Banken sperrten auf Anweisung von oben die Kredite, und im März 2000 wurde der Verlag polizeilich geschlossen. Doch die Journalistin liess sich nicht kleinkriegen. Als Ben Ali, wenige Monate nachdem er mit 99,84% zum drittenmal zum Präsidenten gewählt worden war, öffentlich behauptete, die tunesischen Zeitungen seien so schlecht, weil die Journalisten Selbstzensur ausübten, verpflichtete sie sich dem Innenminister gegenüber schriftlich, eine Zeitung zu gründen, in der es keine Selbstzensur geben werde. Als sie, wie erwartet, keine Druckgenehmigung erhielt, wich sie aufs Internet aus. Im Dezember 2000 kam die erste Nummer ihrer online-Zeitung „Kalima“ (www.kalimatunisie.com) heraus. Eigentlich sollte es ein Monatsjournal werden. Doch nachdem, vermutlich unter dem Druck der Regierung, zwei von insgesamt fünf Journalisten absprangen, dauert es in der Regel zwei Monate, bis wieder eine neue Nummer im Ausland ans Netz geht. Natürlich sperrte die Regierung die Internet-Seite umgehend. Aber über sogenannte „mirror sites“ (gespiegelte Seiten) wird aus Tunesien trotzdem monatlich rund 40.000 mal auf die verbotene Zeitung zugegriffen.
„Kalima“, was so viel wie „Wort“ heisst, nimmt kein Blatt vor den Mund. „Die Angst, unsern Kindern kein Dach über dem Kopf und kein Brot mehr bieten zu können, quält uns natürlich“, hatte Sihem Bensedrine dem Innenminister im Dezember 1999 geschrieben, „aber die Angst ihnen ein ruiniertes Tunesien zu hinterlassen, wo wir uns über unser Schweigen zum Komplizen des Verbrechens gemacht haben, schreckt uns noch mehr.“ Sechs Jahre lang durfte die Journalistin, die in Tunesien rund um die Uhr beschattet wurde, das Land nicht verlassen. Erst im Jahr 2000 erhielt sie ihren Pass zurück. Im Juni des vergangenen Jahres reiste sie nach London, wo sie vom privaten arabischen Fernsehsender „Al-Mustaqilla“ für die Diskussionssendung „Le Grand Maghreb“ eingeladen war. Sie zögerte nicht, einen riesigen Zollbetrug, in dessen Zentrum der Schwager des Präsidenten war, anzuprangern, und sie zeigte auch Fotos von gefolterten Tunesiern.
Als sie danach wieder in ihre Heimat zurückkehren wollte, wurde sie schon am Flughafen in Tunis verhaftet. Doch diesmal hatte sich die Regierung verrechnet. 250 Rechtsanwälte boten sich sofort an, ihre Verteidigung zu übernehmen. Vor dem Gefängnis forderten Demonstranten täglich ihre Freilassung, auf Autokorsos prangte ihr Porträt an der Windschutzscheibe. Das Regime gab nach. Sechs Wochen nach ihrer Festnahme kam die unbeugsame Journalistin frei – und wurde noch am selben Tag von maskierten Männern überfallen. Das war im August des vergangenen Jahres.
Am 10. Juli traf nun Sihem Bensedrine in Deutschland ein. Die Hamburger „Stiftung für politisch Verfolgte“ wird ihr ein Jahr lang ein Stipendium zahlen. Nein, im Exil sei sie nicht, sagt sie, sie brauche bloss eine Pause, etwas Ruhe, wolle Energie schöpfen, und dann: „Wenn meine Kinder und mein Mann nicht wären, ohne die Solidarität der Familie, hätte ich das alles nicht durchgestanden.“
Als sie ihren Mann aus Hamburg anrufen wollte, um ihm mitzuteilen, dass sie trotz des stürmischen Wetters gut gelandet war, kam auf der andern Seite nur ein Besetzt-Zeichen. Ihr Telefon in Tunis war wieder mal gesperrt.
‚Thomas Schmid (verfasst am 16.07.2002 – veröffentlicht, aber ich weiß nicht mehr, wo )