COVA DA MOURA. Es ist ein bunter Flecken inmitten grauer Vorstadtsiedlungen. In der engen Gasse brät eine Frau über einem Gaskocher Sardinen. Sie ist in ein farbiges afrikanisches Gewand gehüllt. Auf dem kleinen Holztisch vor ihr türmen sich Mangofrüchte und Maniokwurzeln. Ein junger Mann mit Dreadlocks lehnt lässig an der Mauer und zieht an einem Joint – auch er von schwarzer Hautfarbe wie auch die Kinder, die da, wo sich die Gasse zu einem kleinen Platz erweitert, Fußball spielen.

Über dem mit Lappen markierten Tor zeigt ein riesiges Wandgemälde einen Mann mit akkurat gestutztem Bart 

und Brille. Es ist Amilcar Cabral, der Gründer und Führer der Unabhängigkeitsbewegung von Guinea-Bissau und Kap Verde. Den Rückzug der portugiesischen Kolonialmacht nach der Nelkenrevolution von 1974 hat er nicht mehr erlebt. Er wurde ein Jahr zuvor ermordet.

Mit mütterlichem Charme

Hier in Cova da Moura, einer Siedlung auf einem Hügel am Nordrand Lissabons, kennt seinen Namen jeder. Drei Viertel der rund 6000 Einwohner stammen von den Kapverdischen Inseln, die restlichen stammen aus Angola, Mosambik und Portugal. In jüngster Zeit sind auch einige Osteuropäer hierhergezogen.

In Cova da Moura standen bis in die 70er-Jahre bloß einige Baracken von Landarbeitern. Nach der Nelkenrevolution, die einem halben Jahrhundert Diktatur ein Ende setzte und den Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialreichs besiegelte, verließen Hunderttausende weiße Siedler Angola und Mosambik. Rückkehrer errichteten in Cova da Moura die ersten Häuser, und schon bald kamen Afrikaner aus den ehemaligen Kolonien, vor allem aus Kap Verde, auf der Suche nach einem besseren Leben.
Man spricht auf dem Hügel bis heute vom „europäischen Viertel“, wo die etwas besseren Häuser stehen, und vom „afrikanischen Viertel“, wo die Gassen enger und die Häuser kleiner sind. Cova da Moura ist einer der ärmsten Vororte Lissabons – ein Problemviertel, wie es in der Sprache der Soziologen heißt. Ihm geht der Ruf voraus, ein Nest von Drogenhändlern und Kriminellen zu sein.

„Wir sind gewiss nicht alle Engel“, sagt Godelieve Meersschaert, „natürlich gibt es hier auch Probleme, aber die Medien übertreiben maßlos, ohne jede Scham, ohne wirklich hinzuschauen.“ Der Ärger ist verständlich, denn Lieve, wie die 68-jährige Rentnerin im Viertel genannt wird, hat viel dafür getan, dass Cova da Moura seinen schlechten Ruf loswird. Was es heute auf dem Hügel an Nachbarschaftshilfe, an sozialen Projekten, an solidarischer Gemeinschaft gibt, ist vor allem ihr Verdienst. Kaum jemand kennt das Viertel so gut wie sie. Schon seit 30 Jahren lebt sie hier.

Hinter dem mütterlichen Charme, den Lieve ausstrahlt, verbirgt sich eine kämpferische Natur. Nach Portugal kam die Belgierin, um in Braga, im Norden des Landes, eine Hilfsaktion für Arbeiterinnen zu organisieren, die eine holländische Textilfirma entlassen hatte. 1978 zog sie nach Lissabon um, wo sie mithalf, eine Gewerkschaft der Hausangestellten zu gründen, bei der sie drei Jahre lang arbeitete. Schließlich ließ sie sich mit ihrem portugiesischen Mann in Cova da Moura nieder. Das war 1982. „Wir waren damals 900 Personen, die sich eine Wasserstelle teilen mussten“, erzählt sie, „am 1. November 1984, dem Tag der Allerheiligen, taten wir uns zum ersten Mal zusammen, um die Versorgung unserer Häuser mit fließendem Wasser zu fordern.“

Aus dem Kampf ums Wasser entstand eine Bürgerinitiative, die nach und nach das Viertel veränderte. Als erstes sorgte sie für eine Jugendbibliothek, später kamen eine Kinderkrippe, schließlich ein Kindergarten hinzu, in dem die Eltern für 70 Euro im Monat ihren Nachwuchs von sechs Uhr früh bis neun Uhr abends pädagogisch geschultem Personal überlassen können. „Früher haben 20 Prozent nicht bezahlt, heute sind es 40 Prozent“, sagt Lieve, „man merkt die Krise schon.“

Die Bürgerinitiative bietet auch Nachhilfeunterricht an sowie Computer- und Internetkurse. Sie unterhält ein Büro, das sich um die Vermittlung von Arbeitsplätzen kümmert, und bemüht sich um die Reintegration von entlassenen Häftlingen. Für Touristen organisiert sie Spaziergänge, um ihnen Kunst und Küche des Viertels, beide stark kapverdisch gefärbt, nahezubringen. Einige der Projekte werden finanziell vom Staat unterstützt, andere von der EU. Heute ist die Bürgerinitiative, bei der 85 Personen aus dem Viertel eine bezahlte Vollzeitbeschäftigung gefunden haben, der größte Arbeitgeber von Cova da Moura.

Aber trotz des Elans der Bürgerinitiative, trotz aller Projekte, ist Cova da Moura eben doch ein Problemviertel geblieben. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Es gibt Gewalt und Drogen. Wie in andern ärmeren Vierteln der Lissaboner Peripherie auch. Bloß ist dies hier alles zum Thema einer öffentlichen Debatte geworden. Unter professioneller Anleitung drehten Einwohner von Cova da Moura sechs kurze Dokumentarfilme, die das staatliche Fernsehen ausstrahlte. Ein Film handelt von den Bemühungen, entlassene Häftlinge zu reintegrieren, die dann oft doch wieder straffällig werden. Ein anderer diskutiert die Probleme Jugendlicher, die vorzeitig die Schule abbrechen, und wieder ein anderer hat sich des sensibelsten Themas im Viertel angenommen: die Staatsgewalt und die Gewalt von Jugendlichen. Bei polizeilichen Übergriffen wie bei Übergriffen auf die Polizei kam es schon zu Toten. Auf beiden Seiten herrscht Angst – eine schlechte Voraussetzung für sozialen Frieden. Es wäre viel geholfen, so die Botschaft des Kurzfilms, wenn jede Seite merken würde, dass die andere Seite auch Angst hat.

Seit Jahren wollen die Behörden von Amadora, der Vorstadt von Lissabon, zu der Cova da Moura gehört, das Viertel abreißen. Auf dem stadtnahen Hügel ließe sich mit dem Bau einer modernen Wohnsiedlung prächtig Geld verdienen. Die Einwohner von Cova da Moura wehren sich gegen den geplanten Abriss. Gewiss, viele Gebäude sind etwas heruntergekommen, einiges bedarf der Reparatur.

„Die Hoffnung ist da“

Aber es ist ein lebendiges, für den Fremden ein pittoreskes Viertel. Aus zwei Dutzend kleinen Restaurants steigen afrikanische Düfte. Am Abend hallen dumpfe Rap-Rhythmen durch die Gassen. Die Bürgerinitiative steht in permanenten Verhandlungen mit den Behörden. „Inzwischen wollen sie nur noch 40 Prozent abreißen“, sagt Lieve.

„Eine andere Welt ist möglich, wenn die Leute nur wollen“, heißt es in großen Lettern an der Mauer des Kulturzentrums der Bürgerinitiative, und auf einer andern wird der portugiesische Nationaldichter Fernando Pessoa zitiert: „Gott will, dass der Mensch träumt.“ Hat Cova da Moura eine Chance? Gibt es ein gutes Leben im schlechten, das von Armut und Ausgrenzung gekennzeichnet ist? Der portugiesische Filmer Joaquim Leitão hat einen Film im afrikanischsten Viertel von Lissabon gedreht. Er trägt den Titel: „Die Hoffnung ist da, wo man sie am wenigsten erwartet.“


© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 06.04.2013

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