LISSABON. Bougainvilleen leuchten an jahrhundertealtem grauem Gemäuer. Eine klapprige Straßenbahn zuckelt den Berg hinauf. Durch das Labyrinth enger Gassen zieht der Duft gebratener Sardinen. Nirgends ist Lissabon schöner und romantischer als in der Alfama, dem maurisch geprägten Fischerviertel über dem Tejo, dem Fluss, der sich hier zum Meeresarm weitet. Es ist eine verwunschene Welt, von der ein seltsamer Zauber ausgeht, vor allem am Abend. Dann durchbrechen die klagenden Melodien des Fado die Stille: Lieder von Sehnsucht und Liebe, von Trauer und der Weite des Meeres, von verlorenen Welten und dem mühseligen Alltag. Fado ist das portugiesische Wort für Schicksal, Verhängnis. Der Grundtenor des Fado-Gesangs ist Schmerz.
Da, wo sich das Gassengewirr zu einem Plätzchen weitet, auf dem der Wirt einige Stühle und Tische mit Gedeck aufs Pflaster gestellt hat, steht Nuno, ein schlanker, junger Mann, und singt mit Inbrunst. Mit seiner Bügelfaltenhose, weißem Hemd und schwarzer Krawatte wirkt er in diesem doch ziemlich heruntergekommenen Viertel wie eine Fehlbesetzung. Zwei Musiker begleiten ihn. Der eine zupft leise an einer zwölfsaitigen portugiesischen Gitarre, der andere an einer Viola, wie hier die spanische Gitarre genannt wird. Nuno singt herzzerreißend, mit geschlossenen Augen. Seine Töne ziehen sich unendlich in die Länge, bis sie dann leise verhallen. Die Worte – eine einzige Klage.
Auch nach seinem Auftritt klagt Nuno, unten in einer Bar am Ufer des Tejo, doch über ganz irdische Dinge. „Seit zwei Jahren bin ich arbeitslos“, sagt er, „ich erhalte vom Staat nicht einen einzigen Escudo.“ Seit zehn Jahren bezahlen die Portugiesen in Euro. Aber Nuno spricht noch immer vom Escudo, der alten Währung. Vielleicht, weil Euro nach Europa klingt, und auf Europa, an dessen Tropf Portugal hängt, ist Nuno nicht gut zu sprechen.
Bald wird er aus Europa verschwinden. Bis es so weit ist, muss er sich irgendwie über Wasser halten. So singt er jeden Tag viermal eine halbe Stunde seinen Fado im kleinen Restaurant, das einem Freund eines Freundes gehört. „Der Fado, den du hier in der Alfama hören kannst“, sagt er abschätzig, „ist kein richtiger Fado, der ist gerade gut genug für euch Touristen.“ Und mit echter oder gespielter schlechter Laune fügt er hinzu: „Ich bin ja auch keine Amßlia Rodrigues.“ Die berühmteste Fadistin Portugals, gestorben 1999, ist die einzige Frau, die unter prominenten Politikern und Poeten im nationalen Pantheon ihre letzte Ruhe gefunden hat.
Nuno ist kein Musiker. Er ist Architekt. Ein brotloser Beruf in Zeiten, wo kaum noch jemand bauen will. In drei Monaten wird er Europa verlassen. Er wird nach Afrika auswandern, zusammen mit seiner Xuxa, einer Brasilianerin, die er vor einer Woche geheiratet hat. Eine Baufirma hat ihm einen festen Vertrag angeboten, mit einem Gehalt, von dem er in Portugal nur träumen konnte, und vielleicht findet ja auch Xuxa in Luanda, der boomenden Hauptstadt Angolas, eine Stelle. Hier in Lissabon jedenfalls nicht.
Weit über 100000 Portugiesen sind seit zwei Jahren, seit die Krise das Land im Würgegriff hält, allein nach Angola ausgewandert, fast ebenso viele nach Brasilien, vor allem gut ausgebildete und hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Angola, einst bitterarme portugiesische Kolonie, ist heute – aufgrund der Ausbeutung der Ölvorkommen – nach Südafrika und Nigeria die drittstärkste Wirtschaftsmacht Afrikas. „Die angolanischen Neureichen“, sagt Nuno, „sind heute beliebte Kunden in der Avenida da Liberdade.“ Dort, im modernen Zentrum Lissabons, reihen sich Juwelierläden an Edelboutiquen und Luxushotels.
Vor 40 Jahren ist Nunos Onkel als Leutnant der portugiesischen Armee im Krieg gegen die angolanische Guerilla gefallen. Drei Jahre später, 1975, wurde die Kolonie unabhängig. Nun entflieht der Neffe der Armut der ehemaligen Kolonialmacht ausgerechnet nach Angola.
Vilma, 30, ist den umgekehrten Weg gegangen – von Afrika nach Europa. Geboren wurde sie auf São Tomé, einer Insel in der Größe Berlins, 200 Kilometer vor der afrikanischen Küste am Äquator gelegen, die ebenfalls 1975 von Portugal unabhängig geworden war. Zusammen mit ihrer Mutter, die von den Kapverden stammt, einer weiteren portugiesischen Ex-Kolonie, zog sie im Kindesalter nach Lissabon. Nun lebt sie in Arrentela, einem Industrievorort auf der anderen Seite des Tejo. Schon die Straßennamen weisen darauf hin, dass es eine neue Stadt ist: Straße der freiwilligen Feuerwehrleute, Straße der Metallarbeiter, Straße José Afonso, benannt nach dem Komponisten von „Grandôla Vila Morena“, der Hymne der Nelkenrevolution von 1974.
Vilma ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern, elf, sieben und fünf Jahre alt. Vom Staat erhält sie monatlich 126 Euro Sozialhilfe, vor einem Jahr war es noch doppelt so viel. Zudem ist die Mehrwertsteuer innerhalb von zwei Jahren von elf auf 23 Prozent gestiegen. Im Mai des vergangenen Jahres hat eine Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds dem vor dem Bankrott stehenden Staat eine Finanzhilfe in Höhe von 78 Milliarden Euro gewährt. Im Gegenzug muss Portugal privatisieren, Steuern erhöhen und vor allem sparen.
Das Land scheint sich kaputt zu sparen. Sinkende Löhne führen zu sinkendem Konsum und zu sinkender Nachfrage. Täglich melden in Portugal im Durchschnitt 50 Firmen Konkurs an. Auch in Arrantela, einem Zentrum der Chemie- und Stahlindustrie, ist die Arbeitslosigkeit rapide gestiegen.
„Als Schwarze hast du hier auf dem Arbeitsmarkt ohnehin kaum eine Chance“, sagt Vilma, die Portugiesin mit schwarzer Haut, deren mickrige Sozialhilfe halbiert wurde, weil irgendwelche Finanzhaie und von niemandem kontrollierte Kräfte entfesselter Märkte ihr Land an den Rand des Ruins trieben. Aber mit der Opferrolle will sich Vilma nicht abfinden. Schließlich ist sie nicht nur arbeitslose Mutter, sondern auch Rapperin. Zusammen mit Anokas und Monika hat sie die Band Red Chikas – rote Mädels – gegründet. Seit zehn Jahren arbeitet das Trio nun schon zusammen, von Braga im Norden bis zur Algarve im Süden des Landes, überall in Portugal sind sie schon aufgetreten. Auch aus Frankreich haben sie Einladungen erhalten.
Es ist die einzige ausschließlich weibliche Rap-Gruppe Lissabons, wahrscheinlich ganz Portugals. Der aggressive Sprechgesang ist weltweit eher Männersache. Vilma hat drei Jahre auch bei den Red Eyes mitgespielt, der Gruppe von Chullage, dem berühmtesten Rapper des Landes. „Chullage ist ein Revolutionär“, sagt sie, „er rüttelt auf, ruft zum Widerstand. Unsere Texte handeln mehr vom Alltag.“
„Wir machen alles zum Thema“, sagt Anokas, die mit einer dampfenden Feijoada, einem schmackhaften, mit Stockfisch angereichertem Bohneneintopf, aus der Küche kommt, ihr langes blondes Haar nach hinten wirft und ihren Joint ausdrückt, „wir reden über Gewalt, über Drogen, über Prostitution, Schwangerschaft und Lesben, über alles, was in den Köpfen steckt und oft nicht raus kommt, und vor allem über die Nöte des Alltags.“ Anokas, 29, Tochter eines Polizisten, gehört zu der kleinen weißen Minderheit in der vorwiegend schwarzen Welt des Rap. Aber das kapverdische Kreolisch, eine portugiesisch-afrikanische Mischsprache, das unter den afrikanischen Einwanderern und ihren Nachkommen gesprochen wird, beherrscht sie perfekt.
Es gibt Hunderte Rapper in Lissabon, aber von öffentlichen Auftritten und dem Verkauf ihrer CDs können nur die Allerwenigsten leben. Anokas kellnert zweimal die Woche in einem Restaurant, zudem hat sie zu Hause in einem etwa acht Quadratmeter großen Zimmer einen Schönheitssalon eingerichtet. Sie bietet Maniküre, Enthaarung und Intimrasur an.
Wie auch Vilma textet sie den Rap der Red Chikas. Im neuesten Gesang schreit sie ihre Empörung über die Gefühlskälte ihrer Mitmenschen heraus und ihre Frustration über „so viel Streit, Dummheit und verlorenes Leben“, um dann festzustellen, dass, „wenn es einem schlecht geht, es immer noch jemanden gibt, dem es noch schlechter geht“.
Die Red Chikas sind um die 30 Jahre alt. Natürlich wollen sie alle drei weiter arbeiten, weiter produzieren, sich professionalisieren. Vielleicht haben sie einmal von einem großen Durchbruch geträumt. Inzwischen aber sind sie realistisch genug, um zu wissen, dass ihr Sprechgesang sie nie ernähren wird. „Für mich bedeutet Rap eben einfach auch, aus dem Alltag auszubrechen, das Elend ein paar Stunden zu vergessen“, gesteht Vilma ein. Täglich wird sie von Neuem in die triste Realität zurückgeholt.
Schließlich ist sie nicht nur Rapperin, sondern auch dreifache Mutter und arbeitslos dazu. Also geht sie putzen, schwarz natürlich, um ihre Kinder durchzubringen. Oder sie findet über eine Zeitarbeitsagentur irgendeinen Job. Zuletzt hat sie in einem Call Center gearbeitet – „auf grüne Quittung“, wie sie sagt.
Von den knapp über fünf Millionen Erwerbstätigen Portugals arbeiten vermutlich mindestens eine Million „auf grüne Quittung“ – das heißt in zeitlich befristetem Vertrag, sozialabgabepflichtig (die Leistungen werden auf grünem Zettel quittiert), aber ohne Anrecht auf Urlaub, auf Arbeitslosengeld und mit Recht auf Krankengeld erst nach 30 Tagen. Der Arbeitgeber bezahlt für sie keine Sozialabgaben und kann sie faktisch von heute auf morgen entlassen. Und wer auf „grüne Quittung“ arbeitet, ist meistens unterbezahlt und muss einen höheren Prozentsatz an Abgaben entrichten als der regulär Beschäftigte. „Es ist ein riesiger Skandal“, sagt Tiago. In der Tat ist in der Europäischen Union Portugal das Land mit dem höchsten Anteil an prekär Beschäftigten.
Tiago, Agronom mit Hochschulabschluss, ist 34 Jahre alt, ein Mann mit kantigem Gesicht und markanten Augenbrauen. Ein bisschen sieht er aus wie Rudi Dutschke. Den Gesprächspartner fixiert er mit durchdringendem Blick. Vor fünf Jahren hat er die „Précarios inflexíveis“ gegründet, die „Unbeugsamen Prekären“, ein Wortspiel, denn „inflexíveis“ heißt im Portugiesischen auch „Inflexible“, solche also, die sich der Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen widersetzen wollen. „Vor wenigen Jahren noch kannte kaum ein Portugiese das Wort ,prekär'“, sagt Tiago, „heute ist es in aller Munde.“
Spätestens seit dem 15. September. Da stand das Wort tausendfach auf Transparenten. Da sind landesweit etwa 500000 Portugiesen auf die Straße gegangen, vielleicht auch doppelt so viele, um gegen eine Entscheidung der konservativen Regierungskoalition zu demonstrieren. Diese hatte beschlossen, den Anteil der Sozialabgaben der Arbeitgeber von 23,75 Prozent auf 18 Prozent zu senken und jenen der Arbeitnehmer von elf auf 18 Prozent zu erhöhen. Viele empfanden dies als Transferleistung der Armen an die Reichen. Zur Demonstration hatten vor allem die Aktivisten der „Unbeugsamen Prekären“ aufgerufen. Die Forderung: „Wir wollen unser Leben zurück.“
Die massive Beteiligung an der Demonstration, für die über Facebook mobilisiert wurde, hat alle überrascht, auch die „Unbeugsamen Prekären“. „Der Bann ist gebrochen“, sagt Tiago, „nichts ist mehr wie vorher.“ Glaubt er tatsächlich daran, dass es gelingt, die von der EU geforderte Sparpolitik zu kippen, eine Alternative durchzusetzen? „Ich bin ein optimistischer Skeptiker“, sagt er etwas kryptisch zum Abschied.
Werden die Portugiesen, denen eine große Leidensfähigkeit nachgesagt wird, sich tatsächlich wehren?
„Ich bin nichts. Ich werde nie etwas sein. Ich kann nicht einmal etwas sein wollen. Abgesehen davon trage ich in mir alle Träume der Welt“, verkündet ein Graffiti in der Alfama, dem pittoresken Altstadtviertel von Lissabon, wenige Häuser oberhalb des Restaurants, in dem Nuno mit seinem Fado die Herzen der Touristen erweicht. Es ist der Anfang des „Tabakladen“, des bekanntesten Gedichts von Fernando Pessoa. In Portugal kennt es jeder.
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 05.10.2012
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