Willkommen in Hackerville

RÂMNICU VÂLCEA. Es ist eine friedliche Landschaft, durchzogen von sanft geschwungenen Hügeln. Vor den Toren stattlicher Bauernhäuser tummeln sich Gänse. Ab und zu ruckelt ein Pferdefuhrwerk vorbei. Am Horizont türmen sich schneebedeckte Berge. Râmnicu Vâlcea liegt am Fuß der Karpaten, in Oltenien, der westlichen Walachei, zwei Autostunden von Bukarest entfernt. Die Oltenen gelten in Rumänien als besonders pfiffig. Viele lassen sich senkrecht beerdigen, heißt es, damit sie am Tag der Wiederauferstehung der Toten die ersten sind, die nach oben fahren, am Himmelstor anklopfen und von Petrus empfangen werden.

Vielleicht ist es dieser Bauernschläue geschuldet, dass Râmnicu Vâlcea eine besondere Stadt ist, eine besonders reiche. Im Zentrum stöß

t man auf ungewöhnlich viele Edelshops mit Lederwaren, teuren Parfums und Juwelen. Ungewöhnlich für eine rumänische Provinzstadt ist auch die Anzahl schicker Limousinen der Premium-Klasse von Mercedes, BMW und Audi, die durch die Straßen kreuzen. Auffällig aber ist vor allem die Dichte der Schilder von Western Union und MoneyGram, beides Dienstleistungsunternehmen, die sich auf schnelle und unkomplizierte Geldüberweisungen spezialisiert haben. In Râmnicu Vâlcea laufen viele krumme Geschäfte. Redlich erworben aber hat sich die Stadt ihren Spitznamen: Hackerville.

Râmnicu Vâlcea steht im Ruf, Welthauptstadt des Internet-Betrugs zu sein. Eine Nummer kleiner würde es auch tun. Fest steht jedenfalls: Hunderte, vielleicht weit über tausend Einwohner haben sich hier ein Vermögen ergaunert, indem sie im Internet Waren anbieten, die Kaufsumme einstreichen, aber dann nichts liefern, indem sie Pins und Passwords „hacken“, Kreditkarten klonen oder über Phishing und Skimming, wie es im Fachjargon heißt, fremde Konten plündern.

„Es ist eine mysteriöse Stadt“, sagt Gheorge Smeoreanu leise, und es liegt etwas Verschwörerisches in seiner Stimme, „der Rubel rollt. Sie brauchen sich bloß die Gäste hier anzuschauen und die Autos, die draußen parken.“ Am Tresen des Nobelrestaurants im Stadtzentrum trinken zwei sportlich gekleidete junge Männer ihren Whisky. Am Nebentisch schweigen sich vier Frauen an, alle in High Heels, hautengen Klamotten, üppig geschminkt. Smeoreanu, 58 Jahre alt, ist Journalist. Er hat nach dem Sturz der Ceausescu-Diktatur 1990 die erste unabhängige Tageszeitung der Stadt gegründet, leitet jetzt eine Wochenzeitung und kennt die Stadt wie seine Hosentasche. „Nicht hinter jedem Steuer eines Luxuswagens sitzt ein ehemaliger Hacker“, sagt er, „aber hinter jedem zweiten schon.“ Und ist Internet-Betrug für seine Zeitung ein Thema? Gibt es journalistische Recherchen? „Ach was, das interessiert doch niemanden hier“, wehrt Smeoreanu ab. Das Thema ödet ihn an.

Hackerville? „Natürlich weiß ich, dass ich hier in Hackerville bin“, sagt auf der Straße Ioan L., der aus dem siebenbürgischen Tirgu Mures stammt und in Râmnicu Vâlcea eine militärische Ausbildung absolviert. Er zollt den Internet-Betrügern durchaus Respekt. „Das muss denen erst mal einer nachmachen. Chapeau.“

Hackerville? „Ja, das hier ist Hackerville, den Ausdruck kennt hier jeder“, sagt der Bildhauer Marian F., der davon lebt, Marmorkreuze für die Toten zu meißeln. Für die kriminellen Hacker hat er kein gutes Wort übrig: „Das ist purer Diebstahl! Die sollen sich eine anständige Arbeit suchen.“


Polierter Landrover


Hackerville? „Nie gehört“, sagen zwei junge Männer, der eine mit Kapuzenpulli, der andere mit Basecap, in Ostroveni, einem arg heruntergekommenen Plattenbau-Viertel am Rand der Stadt. Ostroveni gilt hier gemeinhin als als Stadtteil mit der höchsten Dichte an Internet-Betrügern. In den kaum beleuchteten schmuddeligen Straßen trifft man auf auffällig viele Luxuswagen. „Nein, wir können Ihnen wirklich nicht weiterhelfen“, entschuldigen sich die beiden, verschwinden in einem nagelneuen, auf Hochglanz polierten Landrover und brausen davon.

Das Dezernat für Organisierte Kriminalität ist in einem einstöckigen Häuschen untergebracht, das versteckt in der Innenstadt liegt. Chef ist Kommissar L.M. Er bittet, in der Zeitung nur seine Initialen zu publizieren, obwohl man kein Hacker zu sein braucht, um im Internet seinen vollen Namen zu finden. Aber versprochen ist versprochen. L.M. also ist ein Einmeterneunzigmann, athletisch gebaut. Sein Büro ist spartanisch eingerichtet. An der Garderobe hängt ein Gummiknüppel. Vier Polizisten seines Dezernats beschäftigen sich ausschließlich mit Internet-Betrug.

„Ungefähr um die Jahrtausendwende wurden wir auf die Cyberkriminalität aufmerksam“, erinnert sich der Kommissar. „Am Anfang war alles recht einfach. Da offerierte ein Täter auf der geklonten Website eines Online-Anbieters eine Ware gegen Vorkasse und lieferte sie nicht, strich aber das Geld ein, das das Opfer auf das Konto, das auf dem gefälschten Formular angegeben war, einbezahlt hatte.“ So simpel lief Internetkriminalität ab, als sie noch in ihren Kinderschuhen steckte. Damals fiel es L.M. noch leicht, den Betrügern auf die Schliche zu kommen.

„Schon bald verfeinerten die Kriminellen ihre Methode“, fährt L.M. fort. „Einer bot die Ware an, ein anderer ließ sich das Geld überweisen.“ Dieser zweite, der sein Konto zur Verfügung stellt, wird im Jargon der Ganoven „Pfeil“ genannt. Er kassiert eine Kommission zwischen fünf und sieben Prozent. Und bei Entdeckung hat er eben keine Ahnung, weshalb ihm jemand Geld auf sein Konto überwiesen hat. Clevere „Pfeile“ arbeiten mitunter gleich für mehrere Betrüger, die sie in der Regel gar nicht persönlich kennen. Man steht nur im E-Mail-Kontakt miteinander.

„Angeboten werden Möbel, Laptops, Uhren, Boote, Autos, Parfums, wirklich alles“, sagt L.M., „in der Regel zum halben Ladenpreis – gegen Vorkasse oder wenigstens Teilanzahlung.“ Der deutsche Schnäppchenjäger sieht auf der gefälschten Website eines seriösen Unternehmens das Objekt seiner Begierde und überweist Geld auf ein deutsches Konto, das auf einen deutschen Namen läuft. „Bei rumänischen Namen werden ja manche misstrauisch.“ Längst sind zwischen Tätern und Opfern mehrere „Pfeile“ zwischengeschaltet, die sich untereinander nicht kennen und oft in verschiedenen Ländern oder gar auf verschiedenen Kontinenten wohnen. Das Geld läuft so nacheinander über verschiedene Konten. Jeder „Pfeil“ sahnt eine Kommission ab. Beim Betrüger kommt dann vielleicht noch die Hälfte des ergaunerten Betrags an.

Die Spur des Geldes wird nach allen Regeln verbrecherischer Kunst verwischt. Es werden Konten unter Vorlage gefälschter Ausweispapiere eröffnet. Die Überweisung über Western Union oder MoneyGram, die weltweit Filialen – oft Büros mit Einmannbetrieb – unterhalten, ist unkompliziert. Man zahlt Geld ein, erhält eine Transaktionsnummer, die man dem Empfänger über E-Mail mitteilt, der dann noch in derselben Minute unter Angabe dieser Nummer das Geld – abzüglich einer Kommission – in einer andern Stadt abholt. So zirkuliert das Geld im Eiltempo rund um den Erdball. „Die Vertreter von Western Union und MoneyGram sind zwar verpflichtet, die Identität der Kunden festzuhalten“, sagt L.M., „doch wie soll ein ungeschultes Auge einen gefälschten Ausweis erkennen?“ Und wird notfalls nicht manch einer zwei Augen zudrücken, wenn es dem eigenen Geldbeutel dient?

Längst haben Großkonzerne oder Auktionshäuser wie Ebay Formulare für Polizeianzeigen auf ihre Websites gestellt, um betrogenen Kunden entgegenzukommen. Und längst stellen pfiffige Betrüger diese Formulare auf die geklonten Websites, um ihre Seriosität unter Beweis zu stellen. Die einen verschlüsseln immer komplizierter, die andern hacken immer gewiefter. „Der technische Fortschritt hilft beiden Seiten“, stellt L.M. lakonisch fest. Oft scheint es ein Rennen zwischen Hase und Igel. Ick bün all dor! Wie viele Fälle er zur Zeit bearbeitet, will der Kommissar nicht verraten. Er sagt nur: „Viele.“

Der Justizpalast in neoklassizistischem Stil ist das imposanteste Gebäude von Râmnicu Vâlcea. Eine breite Treppe führt zu den mächtigen Säulen vor dem Eingang. Hoch oben, auf dem Dach, thront Justitia, wie es sich gehört, mit verbundenen Augen. Adrian Gheorghita empfängt nicht in Richterrobe, sondern im gestreiftem Pullover. Sein kleines Büro ist vollgestopft mit Hunderten Büchern: Wirtschaftsrecht, Strafrecht, Strafprozessordnung, Kommentare, juristische Nachschlagewerke. Der 38-jährige Präsident des Strafgerichts hat jede Woche mit Internetbetrügern zu tun.

„Am Anfang waren es oft noch Einzeltäter“, sagt der Richter, „jetzt hingegen sind wir immer häufiger mit großen, gut organisierten Gruppen von einigen Dutzend Kriminellen konfrontiert. Sie arbeiten mit Prepaid-Handys, Satellitentelefonen, gehen in Restaurants und Hotels drahtlos ins Netz, um die IP-Adresse ihres Computers nicht preiszugeben. Wir hatten Gruppen, die bei bis zu 500 Opfern abgezockt haben, da kommt auch mal eine Schadenssumme von einer Million Euro zusammen.“ Es geht um Betrug, Fälschung, Geldwäsche, Organisierte Kriminalität. „Solche Prozesse dauern dann oft zwei Jahre“, sagt der Richter, „zumal die Täter alles Erdenkliche tun, um das Verfahren zu verschleppen.“ Und sieht Gheorghita Fortschritte im Kampf gegen die Cyberkriminalität? „Vor vier Jahren haben wir zwei große Gruppen aus dem Verkehr gezogen“, sagt der Richter. „Seither gibt es wohl etwas weniger Internetbetrug hier in der Stadt. Die Kriminellen weichen auf andere Städte aus.“ In Râmnicu Vâlcea ist der Verfolgungsdruck doch sehr groß. Man will das Label Hackerville loswerden.


Harry Potter hackt


Die Internet-Betrüger selbst halten sich in Râmnicu Vâlcea bedeckt. Jeder weiß, dass die Stadt Hackerville genannt wird, aber keiner will einen Hacker kennen. Nach zwei Tagen hat sich immerhin herumgesprochen, dass ein Reporter aus Deutschland in der Stadt ist und Kontakt zu Cyber-Kriminellen sucht. Ein junger Mann bittet um eine Zigarette, offensichtlich nur um einen Anlass zu finden, ein Gespräch anzuknüpfen. Mit seiner großen Brille sieht er ein bisschen aus wie Harry Potter. Man kann sich gut vorstellen, wie er nächtelang am Computer sitzt und auf die Tasten seines Keyboards hackt. Sein Englisch ist ausgezeichnet.

Schnell kommt das Gespräch auf Internet-Betrüger. Der Mann druckst ein bisschen herum, sagt schließlich: „Ich war vier Monate in Untersuchungshaft. Ich bin Hacker. Ich kann Ihnen meine Geschichte erzählen.“ Gerne. Wir setzen uns in ein Café. In die hinterste Ecke. „Nennen Sie mich einfach Gabriel“, beginnt der Mann, um zu signalisieren, dass er in Wirklichkeit anders heißt. Ist ja verständlich. Doch dann verlangt er 50 Euro für seine Geschichte. Na ja, für 50 Euro kann jeder eine gute Geschichte erfinden! Das Argument leuchtet ihm ein. Er kratzt sich am Kopf. Schließlich redet er trotzdem.

Er wohne in Ostroveni, erzählt Gabriel, sein Vater sei arbeitslos, seit das Chemie-Kombinat, der größte Arbeitgeber der Stadt, die Produktion faktisch eingestellt habe. Er selbst habe zwar eine Ausbildung als Elektroingenieur, aber keine Arbeit gefunden, sei nach Spanien gegangen, wo er drei Jahre als Maurer geschuftet habe. Und tatsächlich spricht Gabriel auch spanisch. „In Alcalá de Henares, einem Vorort von Madrid, sprach mich ein Kollege an und fragte mich, ob ich bereit sei, ein Konto zu eröffnen, auf das jemand Gelder einzahlen werde. So wurde ich, was man ‚Pfeil‘ nennt“, sagt Gabriel. „Als ich zurück nach Râmnicu Vâlcea kam, war mir das zu wenig. Ich wollte aufsteigen und lernte Websites klonen.“

Irgendwann ist ein Handy-Gespräch abgehört worden, eine IP-Adresse aufgeflogen, und Gabriel geriet in die Justizmühle. „Doch nachweisen konnte man mir nur die Sache mit einem einzigen Konto, über das einige Geschäfte abgewickelt wurden. Aber ich hatte mehrere Konten, unter falschen Namen.“ Wie viel Geld er auf kriminellem Weg verdient hat, will er nicht verraten, nur: „Ich habe nicht schlecht gelebt, einen BMW gefahren und viele Mädchen gehabt.“ Und was sagten seine Eltern, als er in Untersuchungshaft kam? „Na ja, ich gab ihnen ja auch Geld. Sie fragten nicht, woher ich es hatte. Und ich habe meiner Schwester eine Ausbildung bezahlt.“ Und er selbst? „Ich bin wieder da, wo ich schon mal war. Habe nichts mehr. Keine Arbeit. Kein Geld. Kein Auto. Nichts.“ Wird er gleich um ein bisschen Geld bitten? Der junge Mann spürt den Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Geschichte. Ungebeten sagt er: „Ich kann Ihnen die Papiere zeigen: Prozess, Urteil, Entlassung aus Untersuchungshaft. Alles offizielle Papiere.“ Ja, bitte.

Ostroveni ist nicht weit. „Ich bin spätestens in einer Stunde mit den Papieren wieder hier“, verspricht Gabriel und nimmt das Geld entgegen für ein Taxi hin und zurück: drei Euro. Er ist nicht wieder gekommen.


© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.02.2013

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