ST. GALLEN/BASEL/LUZERN: Ulrich Thielemann lebt gern in der Schweiz. Seit elf Jahren wohnt er in St. Gallen, einer Stadt mit einer imposanten Kathedrale, erbaut im Spätbarock, einer weltberühmten Stiftsbibliothek und vor allem einer Universität mit internationaler Reputation. Zum Bodensee ist es nicht weit, und auch die Berge liegen fast vor der Haustür. Der Deutsche fühlt sich wohl hier. Aber verwurzelt sei er noch immer nicht, sagt er. Wie so viele seiner Landsleute ist er wegen der Arbeit gekommen. Thielemann, 48, ist Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen, die als Schweizer Kaderschmiede für Führungskräfte gilt. Vielleicht erklärt dieser Ruf die Heftigkeit der Reaktionen, die er jüngst über sich ergehen lassen musste. Denn wo wirtschaftliche Kader geschmiedet werden, ist der Raum für ethische Fragestellungen eng.

Die Wogen schlugen hoch. Der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück hatte im Frühling das Schweizer Bankgeheimnis scharf attackiert. Er hatte von Zuckerbrot gesprochen und angedroht, zur Peitsche zu greifen. Zuckerbrot und Peitsche – da denkt doch „kein vernünftiger Mensch an wirkliche Patisserie und konkrete Folterwerkzeuge“, versuchte der Literaturwissenschaftler Peter von Matt die aufgebrachte Öffentlichkeit zu beschwichtigen. Ohne viel Erfolg. In der Schweiz hatte man wieder den hässlichen Deutschen entdeckt, den arroganten Besserwisser aus dem großen Kanton im Norden. Und ein Regierungsmitglied in Bern tauschte sogar seine in Deutschland produzierte Staatskarosse gegen ein französisches Modell ein.

Damals luden die Grünen Thielemann als Experten zu einer Sitzung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags ein. In seinem Referat sprach der Wirtschaftsethiker von „abenteuerlichen Argumenten zur Rechtfertigung des Bankgeheimnisses“. Und auf eine Nachfrage des SPD-Abgeordneten Ortwin Runde antwortete er, er habe den Eindruck, dass die politische und wirtschaftliche Elite der Schweiz bei Steuerdelikten „keinerlei Unrechtsbewusstsein“ habe. Die helvetische Presse jaulte auf: Ein solcher Deutscher – untragbar an einer Schweizer Universität!

„Man schimpfte mich überall einen Nestbeschmutzer“, sagt Thielemann in seinem Büro in St.Gallen und fügt schelmisch hinzu, „aber ist die Schweiz denn ein Nest? Ich dachte, sie sei ein modernes – und also auch kritisierbares – demokratisches Gemeinwesen.“ Es habe ihn sehr geärgert, meint er dann aber durchaus ernst, „dass man in der Schweiz offenbar in der Sache nicht scharf argumentieren kann, ohne dass das Gegenüber dies als persönlichen Angriff auffasst“. Er sagt es in jenem Stakkato und in jenem gestochenen Hochdeutsch, bei dem sich Schweizer so schnell gemaßregelt fühlen. Die Schweizer, findet Thielemann nebenbei, sollten sich um ein besseres Deutsch bemühen. Wenn es darum gehe, über die persönliche Befindlichkeit zu sprechen, möge ja der Dialekt – die Mundart, wie die Schweizer sagen – die passende Sprache sein; was aber die Reflexion betreffe, lasse das Hochdeutsche mehr Differenzierung zu.

Im übrigen aber weiß der Wissenschaftler die Schweiz durchaus zu schätzen. Die Lebensqualität ist hoch, die Landschaft schön und der menschliche Umgang angenehm. „Man ist hier generell höflicher als in Deutschland, und es gibt viel weniger Dünkel und viel mehr Egalität.“ Seit 1998 lebt Thielemann in der Schweiz. Aber Schweizer Freunde hat der Deutsche aus Remscheid kaum, „eigentlich nur deutsche, das hat sich so ergeben“.

Knapp 300 000 Deutsche leben in der Schweiz, allein im vergangenen Jahr kamen über 30 000 an, vor allem wegen der hohen Löhne und der niedrigen Steuern. Fast alle lassen sich in der deutschsprachigen Schweiz nieder, vor allem in den Großstädten, viele als Professoren, Ärzte oder CEO, wie Vorstandsvorsitzende, alleinige Geschäftsführer und Generaldirektoren in der Schweiz nach angloamerikanischem Vorbild genannt werden. Deutscher Nationalität sind auch die CEOs der UBS, der größten Schweizer Bank, und von ABB, einem elektrotechnischen Konzern, der sich mit Siemens einen harten Wettbewerb liefert.

An der Universität Zürich dozieren neben 238 Schweizer Professoren 163 deutsche. Die Deutschen sind in der Schweiz die am schnellsten wachsende und nach den Italienern die zweitgrößte Ausländergruppe. Die Schweizer benötigen sie dringend. Sie selbst haben zu wenig Ärzte und vor allem zu wenig hochqualifizierte wissenschaftliche Fachkräfte.

Vor 150 Jahren ist das Waisenmädchen Heidi aus Graubünden nach Frankfurt ausgewandert, um dort die gelähmte Klara zu pflegen. Damals gehörte die Schweiz zu den ärmsten Ländern Europas. Seit dem Abschluss eines Freizügigkeitsabkommen mit der EU 2002 haben zehntausende Deutsche den umgekehrten Weg angetreten und sich in der reichen Schweiz angesiedelt.

Sie sind weniger beliebt, als sie selbst glauben. Noch hört man das Wort „Sauschwoob“ – „Schwabe“ allein schon ist in der Schweiz ein abwertender Ausdruck für Deutsche generell – selten, und selten auch das Wort „Kuhschweizer“, ein Begriff, der aus dem Schwabenkrieg von 1499 stammt und den Schweizern unterstellt, sie trieben es mit Kühen. Doch konstatierte die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus vor wenigen Monaten, dass sich „die Gehässigkeiten“ gegen Deutsche häuften. Vor allem im Internet würden stereotype Bilder und Klischees verbreitet. Die Spannungen nehmen zu. „Wie viele Deutsche erträgt die Schweiz?“ schlagzeilte die Boulevard-Zeitung Blick, und in ihrer neuesten Ausgabe titelt die Zürcher SonntagsZeitung: „Es wird eng im Paradies“.

Einem Clash of Civilizations, einem Zusammenprall der Kulturen diesseits und jenseits des Rheins, will Eleonore Wettstein entgegenwirken. Die Schweizerin ist Integrationsbeauftragte der GGG, der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige in Basel. Sie führt kostenlos spezielle Informationsveranstaltungen für deutsche Zuwanderer durch. Da sollen die deutschen Führungskräfte lernen, wie man sich in der Schweiz besser nicht benimmt. „Wir schauen, dass die nicht in alle Fettnäpfchen und Fußangeln treten, die der helvetische Alltag so parat hält“, erzählt die Mittfünfzigerin. „Man sagt nicht: Ich kriege die Unterlagen morgen um neun Uhr auf den Tisch. Sondern: Ist es Ihnen vielleicht möglich, mir morgen gegen neun Uhr die Unterlagen vorbeizubringen? Und man sagt nicht: Das ist unbrauchbar. Sondern: Das müssen wir noch mal zusammen anschauen.“

Wettstein rät auch davon ab, am ersten Tag bei der neuen Nachbarin mit einem „Grüezi, ich bin Ihr neuer Nachbar“ hereinzuplatzen. Die Schweizer bräuchten etwas mehr Zeit als andere, meint sie. Wenn die Deutschen Kontakt zu den Einheimischen suchten, sollten sie am besten einem der zahllosen Vereine beitreten. Gewiss sei die Sprache eine Barriere, räumt Wettstein ein. Es gibt zwar Kurse für Schweizerdeutsch. Aber die Deutsche bräuchten den schwierigen Dialekt nicht zu lernen, tröstet die Baslerin, doch verstehen sollten sie ihn schon.

Der Deutsche kann es den Schweizern im übrigen schwerlich recht machen. Mit seinem korrekten Hochdeutsch wirkt er anmaßend. Wenn er sich andererseits im kehligen Dialekt versucht oder gar an jedes zweite deutsche Wort die helvetische Verkleinerung -li anhängt, fühlt sich der Schweizer nicht ernst genommen. „Die Deutschen finden uns niedlich, oft quaken sie es auch noch laut heraus“, sagt die Baslerin Wettstein. „Wir wollen aber nicht niedlich sein.“

Auch Mathias Weigl will den deutschen Immigranten helfen. Der 39-jährige Hamburger ist vor fünf Jahren in die Schweiz gekommen. Im Schaufenster seines Büros in Luzern prangt Schwarz-Rot-Gold friedlich neben dem weißen Kreuz auf rotem Grund. Der Versicherungsmakler hat vor einem halben Jahr den „Verein Deutsche in der Schweiz“ gegründet. Viele Einwanderer haben ganz praktische Probleme: Wie melde ich mein Auto um? Welche Krankenversicherung ist für mich am günstigsten? Wo muss ich bei doppeltem Wohnsitz Steuern bezahlen? Fragen über Fragen. Weigl hilft gerne. Die Vereinsmitgliedschaft kostet 49 Franken (32 Euro) im Jahr. „Aber beim Abschluss von Versicherungen schlage ich ihnen einen Rabatt raus“, behauptet Weigl, „viele sparen jährlich 700 Franken, da lohnt sich die Mitgliedschaft allemal.“

„Die Schweizer haben einen Minderwertigkeitskomplex.“ Weigl sagt den Satz apodiktisch. Er hat auch eine Erklärung für die These: „Der Deutsche redet schneller, als der Schweizer denken kann.“ Auch sonst ist der Versicherungsmakler mit Allgemeinplätzen schnell zur Hand: „Der Deutsche ist kritisch. Der Schweizer ist neutral. Er verträgt keine Ehrlichkeit. Er nimmt alles persönlich. Er kann nicht Tacheles reden. Er will immer allen alles recht machen. Der Deutsche ist ein schwieriger Kunde, er will immer alles genau wissen. Der Schweizer unterschreibt blind, wird beschissen, regt sich darüber aber nicht auf, weil er keinen Streit will.“

Er sei aus rein wirtschaftlichen Gründen in die Schweiz ausgewandert, sagt Weigl. „In Deutschland muss man ja für immer weniger Geld immer mehr arbeiten.“ Auf Steinbrück ist er ganz schlecht zu sprechen: „Der will doch bloß an das Geld anderer Leute ran. Man hat ja in Deutschland keine Sicherheit mehr. Ich empfehle: Zweitkonto in der Schweiz. Geschäftsleute werden doch in Deutschland alle als potenzielle Betrüger behandelt.“

Integriert fühlt sich der umtriebige Versicherungsmakler in der Schweiz nicht. „Die Leute reden zwar aus Höflichkeit mit mir, aber eigentlich wollen sie, dass ich abhaue.“ Trotzdem: Weigl will bleiben, auch wegen seiner Freundin. Die ist Schweizerin. Aber sie werde immer wieder gefragt: „Wie kannst du nur mit einem Deutschen?“

Es ist Zeit, dass sich die Proxemik des Problems annimmt. Das ist das Fachgebiet von Psychologen, die das Raumverhalten von Menschen untersuchen. Es geht um Nähe und Distanz – körperlich wie emotional. Was empfinden wir als aufdringlich? Was als abweisend? Was als angenehm und was als unangenehm?

Susanne Schmutte, Eventmanagerin der Schweizer Zigarren- und Stumpenfabrik Villiger, sagt: „Ich akzeptiere die Schweizer, wie sie sind, und bin eben doch Deutsche. Ich trage mein Herz auf der Zunge. Das mögen die Schweizer nicht unbedingt. Aber ich gewöhne mir an, mein Ziel dreimal zu umkreisen, bevor ich sage, was ich will.“ Es gibt einen Misstrauensvorschuss gegenüber den Deutschen. „Am Anfang hatte ich Hemmungen, in der Straßenbahn zu telefonieren. Ich fühlte mich sofort beobachtet“, erinnert sich Schmutte. Doch heute ist sie „voll integriert“. Nach Deutschland zurück will sie nicht mehr.

„Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!“, lautete eine Parole der rebellischen Jugend zu Beginn der Achtzigerjahre. Sie spiegelt das Bild wider, das viele Schweizer von andern Schweizern haben: Dem Schweizer gebricht es an Weitblick und an einer mediterranen Nonchalance. Er ist eben ein Spießer – oder ein „Bünzli“, wie man in der Schweiz sagt. Er ist ein „Tüpflischiisser“ – oder Korinthenkacker auf Hochdeutsch. Aber ähnliche Muster gibt es ja auch in Deutschland. Wenn ein Deutscher etwas „typisch deutsch“ findet, meint er das in der Regel negativ.

Auch die Stuttgarterin Christiane Binder, Journalistin in Zürich, ist gegenüber ihren eigenen Landsleuten recht kritisch: „Viele Deutsche sind einfach taktlos. Sie merken nicht, dass sie hier im Ausland sind. Sie sind laut und lärmig, wie man hier sagt. Viele halten die Schweizer für verschlagene Hinterwäldler. Sie sind misstrauisch und – kein Wunder – ernten deshalb auch Misstrauen.“ Mit den Schweizern hat Binder vor allem angenehme Erfahrungen gemacht. Allerdings schaut sie sich Fußballspiele der deutschen Nationalmannschaft nie zusammen mit Schweizern an: „Die freuen sich ja, wenn die Deutschen verlieren.“

Vielleicht erklärt sich das komplexe Verhältnis zwischen Schweizern und Deutschen am besten mit dem, was Sigmund Freund in seiner Abhandlung über „Das Unbehagen in der Kultur“ 1930 den „Narzissmus der kleinen Differenzen“ genannt hat. Man ist sich doch ähnlicher, als man wahrhaben will, und pflegt deshalb gerade die kleinen Unterschiede. Dieser Narzissmus, so meint der Begründer der Psychoanalyse, sei eine „relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung“. Gemeinschaften stabilisieren sich, wenn sie die Aggression, statt nach innen, nach außen lenken. Vielleicht ist ja das, was die Schweizer an den Deutschen nicht mögen, nur das Deutsche in ihnen selbst. Ein ketzerischer Gedanke.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 26.08.2009