Die Schweiz ist ein Sonderfall. So hat sie sich immer gesehen, und so hat sie sich immer präsentiert. Wo sonst leben vier Sprachgemeinschaften so friedlich in einem Staat zusammen? Wo sonst hat jeder Mann sein Dienstgewehr zu Hause im eigenen Schrank? Und in welchem Land sonst gehen die Regierungsmitglieder ohne Leibwächter von ihrem Amtssitz zu Fuß über die Strasse, um im nächstbesten Restaurant zu speisen. Mit solchen Sätzen, die jeder Schweizer mit der Muttermilch einsaugt, versichern sich die Eidgenossen ihrer Andersartigkeit. Andererseits aber sind sie längst auf dem Weg der Normalisierung. Ein erster Meilenstein wurde vor 30 Jahren gesetzt, als die Mehrheit der Männer beschloss, den Frauen das Wahlrecht zuzugestehen. Dann wurde in Zürich das Konkubinatsverbot aufgehoben, fortan war die „wilde Ehe“, das Zusammenleben unverheirateter Paare, auch in der größten Stadt der Schweiz legal. In den 90er Jahren entdeckte man, dass die Schweizer im Zweiten Weltkrieg, umzingelt von deutschen Nationalsozialisten und italienischen Faschisten, doch nicht ein Volk von Widerständlern gewesen waren, sondern ein relativ gewöhnliches Volk von vielen Ängstlichen und wenigen Couragierten, das mit einer Mischung von Anpassung und geschickter Diplomatie die Tragödie nicht nur unbeschadet, sondern auch bereichert um geraubtes Gold überstanden hatte. Und nun hat vor wenigen Tagen der Bundespräsident ein Dokument unterzeichnet, mit dem die Schweiz um den Beitritt zur UNO ersucht.

Ist also die Schweiz ein ganz normales Land geworden? Ungefähr alle 30 Jahre versucht die Alpenrepublik, sich selbst zu vergewissern, wo sie steht. Dann organisiert sie eine Landesausstellung, die sich vornehmlich an die eigenen Bürger richtet. Das vorletzte Mal war dies 1939 der Fall. Die Zürcher „Landi“ stand am Vorabend des Zweiten Weltkrieges ganz im Zeichen der „geistigen Landesverteidigung“ und präsentierte ein einiges Volk neutraler Eidgenossen. Bei der letzten Landesausstellung, der „Expo“ in Lausanne 1964, präsentierte sich die Schweiz als modernes, fortschrittliches, selbstbewusstes, zu allerlei technischen Spitzenleistungen fähiges Land. Zehntausende von Besuchern tauchten im ersten touristischen Unterseeboot der Welt, das den Namen „Mésoscaphe Auguste Piccard“ trug, in die Tiefen des Genfersees ein. Und nun gibt es also wieder eine Landesausstellung, die „Expo.02“, die am 20. Oktober ihre Tore schliessen wird. Der Eröffnung vorangegangen waren jahrelange Querelen und Intrigen und eine erbitterte Debatte ums Konzept, die viele Kränkungen und Blessuren hinterließ. Zahlreiche Verantwortliche warfen das Handtuch. Auch die Computer- und Videokünstlerin Pipilotti Rist, die lange Zeit zwischen Zürich und Berlin pendelte und künstlerische Leiterin des Gesamtprojekts war, gab vor drei Jahren entnervt auf und machte dem Museumsdirektor Martin Heller Platz. Köpfe rollten, Finanzierungslücken mussten gestopft werden. Aber nun ist es so weit.

Anders als all ihre Vorgängerinnnen hat die „Expo.02“ keine klare Botschaft. Das wurde ihr vor allem von konservativer Seite, der an nationaler Identitätsstiftung gelegen ist, vehement vorgeworfen. Die neue Landesausstellung  bricht mit einer Tradition. Sie verzichtet darauf, ein ungebrochen positives Bild der Schweiz zu entwerfen, – insofern reflektiert sie durchaus die Befindlichkeit einer Nation, der gerade in den letzten zehn Jahren einige Selbstgewissheiten abhanden gekommen sind, ob es nun um ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg oder über ihre Position in Europa geht. Das Grounding der Swissair im vergangenen Jahr war da geradezu emblematisch. Die „Expo.02“ versteht sich vielmehr als Selbstbefragung und Ort der Erfindung. Sie will Denkräume öffnen, zur Kontemplation einladen. Sie gibt sich kritisch, selbstkritisch, aber immer auch verspielt, versonnen, lustbetont, nur selten hölzern-didaktisch.

Ort des Geschehens ist das Drei-Seen-Land an der Sprachgrenze zwischen französischer und deutscher Schweiz. Die 38 Ausstellungen der „Expo.02“ verteilen sich auf vier Kleinstädte, Biel, Neuchâtel, Yverdon, Murten, die an drei Seen liegen, die untereinander mit Kanälen verbunden sind. Jeder Ausstellungsort hat seine eigene „Arteplage“ – ein Kunstwort, das sich aus „art“ (französisch für „Kunst“) und „plage“ („Strand“) zusammensetzt. Schon allein die künstlerische Gestaltung der Arteplages am Übergang von Wasser zu Land lohnt einen Besuch. Zwar wird man den Beitrag von Schweizer Stararchitekten wie Mario Botta und Peter Zumthor vermissen. Dafür aber kam eine Reihe origineller Ausländer zum Zug.

Zum Beispiel am Murtensee. Ein friedliches Gewässer in sanfter Hügellandschaft, umgeben von Wiesen und Wäldern. Doch ein riesiger rostiger Klotz im See draussen stört die Idylle. Der Monolith, entworfen von Jean Nouvel, zieht den Besucher in Bann. Offenbar hat sich der Pariser Architekt von Arnold Böcklins „Toteninsel“ inspirieren lassen. Der magische Würfel, der an einen riesigen Sarkophag gemahnt, scheint so uneinnehmbar wie die mittelalterlichen Burgen, auf die man hier in der Gegend überall trifft. Wie groß er ist, lässt sich vom Ufer aus nicht bestimmen. Es fehlen in der Landschaft sämtliche Vergleichsmaßstäbe. Erst wer sich dem Kubus geräuschlos im Solarboot nähert, kann die wirklichen Dimensionen ermessen. Zwölf Stockwerke hoch ist das unheimliche Ungetüm. Und wer es durch die Luke betritt, merkt, dass es gar nicht so fest im Boden verankert ist, wie es von weitem schien, sondern nur auf dem Seegrund vertäut ist und schwimmt. Wieder eine Allegorie auf Schweizer Zustände und Befindlichkeiten? Die Arteplage von Murten steht unter dem Motto „Augenblick und Ewigkeit“. Im Innern des Monolithen findet der Besucher zwei Plattformen. Auf der unteren steht er in der Mitte eines grossen kreisrunden Bildschirm und wird einem Stakkato auf ihn hereinstürzender Fotos ausgesetzt, die vom grauen Alltag handeln, aber auch Träume aufblitzen lassen. Über eine böse rasselnde Rolltreppe fährt er in den oberen Stock und steht vor dem größten Rundgemälde der Welt, dem „Panorama der Schlacht von Murten“. Das Gemetzel zwischen den Eidgenossen und den burgundischen Heeren Karls des Kühnen von 1476 forderte 12.000 Tote. Das Bild, 111 Meter lang und 10,5 Meter hoch, hat Louis Braun 1893 gemalt. Der verblüffte Betrachter buchstäblich im Zentrum des Geschehens.

Das Wahrzeichen der Arteplage von Yverdon, die unter dem Motto „Ich und das Universum“ steht, ist eine künstliche Wolke. Sie schwebt über dem See und symbolisiert das Unscharfe, Unbeständige, Ungewisse, aber auch das Verspielte, Mysteriöse. Über Stahltreppen kann der Besucher in die Wolke hieninsteigen. Im Innern stösst er auf eine Bar, in der es allerdings nur Wasser zu trinken gibt – allerdings in rund 50 verschiedenen Sorten. Die Wolke, produziert von über 30.000 Düsen, die Millionen und Abermillionen von Tröpfchen des Seewassers in die Luft blasen, verändert ihre Lage je nach Windverhältnissen, kann aber auch per Computer gesteuert werden. Ihr Architekt ist der Deutsche Dirk Hebel, Mitglied eines New Yorker Architekturbüros. Die Arteplage der Kleinstadt am Südende des Neuenburger Sees widmet sich dem Sinnlichen und Erotischen. Es gibt einen Garten Eden mit dem Baum, unter dem Adam und Eva einst saßen, und „Swiss Love“, einen begehbaren Film, in dem sich der Zuschauer seine Handlung selbst zusammenstellt. Eine Ausstellung mit dem Namen „Le premier regard“ („Der erste Blick“), führt den Besucher in die Körpersprache ein und lehrt ihn die Bedeutung von Gerüchen und Tönen im Spiel der Verführung. Schließlich kann man sich, wenn man auf dem gemeinsamen Spaziergang auf den See hinaus den Mut findet, sogar für 24 Stunden das Ja-Wort geben.

Nüchterner geht es in Biel zu, dessen Arteplage sich mit „Macht und Freiheit“ beschäftigt. Ihr Wahrzeichen sind drei gläserne, eigenartig geknickte Türme, die wie Schwurfinger der alten Eidgenossen in den Himmel ragen und die Macht der Finanzwelt symbolisieren. Hier wird das letzte Tabu der Schweizer gebrochen. „Geld und Wert“, heißt die von Harald Szeemann entwickelte Ausstellung, die in einem Pavillon untergebracht ist, dessen Außenwände von einer dünnen Schicht Gold bedeckt und deshalb von den Besuchern schon arg zerkratzt sind. Im Zentrum des Goldpalastes steht die Geldvernichtungsmaschine. Ein metallener Roboter greift sich alle 30 Sekunden einen Hundertfrankenschein, zeigt ihn dem Publikum und wirft ihn in eine Schreddermaschine. Heraus kommen dünne Streifen, die zum Abfall wandern. Mehrere zehntausend Franken vernichtet die Maschine täglich. Im Lauf der gesamten „Expo.02“ werden es 20 Millionen Franken (14 Millionen Euro) werden. Und es handelt sich zweifellos um echte Scheine. Eine Provokation sondergleichen. Für Schweizer allemal. Das Geld wird erbarmungslos vernichtet. Ist damit aber auch ein Wertverlust verbunden? Was ist Geld wert, das nie im Umlauf war und von der Notenbank nur für das Spektakel herausgerückt wurde?

Die „Expo.02“ ist keine Kasseler Documenta. Sie richtet sich nicht allein an ein kunstinteressiertes Publikum, sondern an alle: an Kinder, Jugendliche und Erwachsene, an Stadtmenschen und Landbewohner, an Hauptschulabgänger und Akademiker, an Kunstbanausen und Kunstkenner. Sie will nicht nur Ausstellung, sondern auch Fest sein: Tanz und Theater, Musik und Mimik. Rund 1.500 Veranstaltungen mit insgesamt 10.000 Aufführungen stehen auf dem Programm. Einige Events werden auf der „Arteplage Mobile du Jura“ stattfinden. Als Kanton hat sich der Jura erst 1978 konstituiert, aber er hat eine rebellische Geschichte und war immer eine Hochburg anarchistischen Aufruhrs. So werden die Jurassier nun auf einem zum Piratenschiff umgebauten Kieskahn unter der Flagge Che Guevaras, der Mutter Theresas und Andy Warhols durch die drei Seen kurven und, akustisch als Vogelschwarm oder Speed-Metal-Band getarnt, die andern Arteplages überfallen. Jüngst hat die Mobile Arteplage sogar einen Kongress gegen die Demokratie abgehalten. Nichts scheint ihr heilig zu sein. Sie ist quasi der Virus in der gut programmierten Maschine der „Expo.02“.

Es gibt natürlich auch einiges Langweiliges, Überflüssiges, Ärgerliches im riesigen Angebot. Doch ist die „Expo.02“ insgesamt ein Sinnenschmaus, ein Fest der freien Assoziationen, eine in der Regel sympathisch und unprätentiös hervorgebrachte Aufforderung, nachzudenken, nachzuspüren und nachzuempfinden. Man wird sich bewusst, was Schmerz bedeuten kann, wenn man durch ein Gewirr von Kunstoffbändern schreitet, die wie lose Nerven von der Decke herunterhängen und schaurige Botschaften verkünden. Man wird zwar lächeln, wenn man die topographischen Karten der Schweiz mit Ortsnamen in kyrillischer Schrift sieht, die der sowjetische Geheimdienst  benutzte, aber sich dann doch vielleicht etwas erschrocken die Frage stellen, weshalb es solche Karten gab. Und man wird ahnen, was Blindsein bedeutet, wenn man sich von einem Blinden durch einen völlig abgedunkelten Raum führen lässt und dort an der Bar das Portemonnaie einem unbekannten Mann abgibt, damit der das passende Geld herausklaubt.

In Murten ist das Unterseeboot „Mésoscaphe Auguste Piccard“ ausgestellt. Was 1964 eine Ikone des Fortschritts war, ist heute ein hässliches Wrack, vom Zahn der Zeit angefressen, ein rostiges Denkmal der Vergänglichkeit. Was aber wird von der „Expo.02“, der größten und teuersten aller sechs Schweizer Landesausstellungen erhalten bleiben? Man wird den Strom abdrehen, und die künstliche Wolke von Yverdon wird sich in Luft auflösen. Alles soll im Oktober wieder abgeräumt, abmontiert und abtransportiert werden. Alles wird wie vorher sein. Nichts wird von der „Expo.02“ übrig bleiben. Nur die Erinnerung. Es wird Leute geben, die sagen werden: „Ja, ich habe sie gesehen. Ja, ich war damals dabei.“ Doch bereits taucht in der Öffentlichkeit die Idee auf, als Monument eines großen Ereignisses wenigstens den Monolith im Murtensee stehen zu lassen. Aber kann man den Murtenern wirklich zumuten, mit dem Ausblick auf diesen störenden Koloss im See zu leben? Na ja, die allermeisten Pariser fanden ja ihren Eiffelturm nach Ende der Weltausstellung von 1889 auch nur ein hässliches, monströses Gerüst aus Eisen.

Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 27./28.07.2002 (dort unter dem Titel „Magie am See“ erschienen, hier unredigierte Fassung

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