ZÜRICH. Der Weg zu dem Mann, den manche den Todesengel nennen, führt durch blühende Landschaften. Wiesen und Wälder wechseln sich ab. Der rote Regionalzug fährt zum Rücken des Pfannenstiels hoch, wie der Hügelzug oberhalb von Zürich heißt. Am Horizont taucht ab und zu die verschneite Kette der weit entfernten Hochalpen auf. Schließlich hält der Zug in Scheuren, einem Dörfchen mit adretten Häusern und blitzsauberen Autos vor den Garagen. Hier wohnt Ludwig A. Minelli.
Der 77-jährige Jurist, der 27 Jahre lang als Journalist gearbeitet hat, zehn Jahre davon als Korrespondent des Spiegels, führt den Gast durch den lichtdurchfluteten Salon in den Wintergarten. Neben Blumen und Kräutern wachsen Bergamotten, gelbe Zitrusfrüchte, denen der Earl Grey sein spezifisches Aroma verdankt. „Teeologie ist die einzige Theologie, die ich akzeptiere“, sagt er, „und in religiösen Fragen halte ich es mit der Maxime: lieber Heidenspaß als Höllenqualen.“
Höllische Qualen
Es sind einstudierte Phrasen, die er wohl schon oft gedroschen hat. Trotzdem, es sind die höllischen Qualen, die viele Menschen an ihrem Lebensende erleiden, die Minelli bewogen haben, 1998 den Verein „Dignitas“ – zu Deutsch „Würde“ – zu gründen. Der Mensch, so betont er, hat nicht nur das Recht auf ein würdevolles Leben, sondern auch auf ein würdevolles Sterben. Minelli organisiert Freitodbegleitungen – oder „Beihilfe zum Selbstmord“, wie seine Gegner meinen.
Die Schweiz hat wohl weltweit die liberalste Regelung der Sterbehilfe. Wer hingegen in Deutschland, wo die Nazis einst psychisch Kranke und physisch oder geistig Behinderte als „unwertes Leben“ systematisch vernichteten, Beihilfe zum Suizid leistet, riskiert ein Strafverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung. Bisher jedenfalls. Das könnte sich am 25. Juni ändern. Dann wird der Bundesgerichtshof in Karlsruhe sein Urteil im Fall Wolfgang Putz bekanntgeben. Der Rechtsanwalt hatte der Tochter einer Frau, die seit fünf Jahren im Wachkoma lag, empfohlen, den Schlauch zu durchschneiden, der zur Ernährungssonde führte. Die Frau befolgte den Ratschlag, worauf das Pflegeheim die Polizei rief und die künstliche Ernährung wieder aufnahm. Die alte Frau starb zwei Wochen später aus einem anderen Grund.
In einem Prozess wurde ihre Tochter freigesprochen, der Rechtsanwalt aber zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Nun will der Bundesgerichtshof eine Grundsatzentscheidung fällen, ob das Durchschneiden des Schlauchs eine aktive Tötungshandlung oder lediglich die Beendigung einer lebensverlängernden Maßnahme ist.
Während also in Deutschland die Sterbehilfe möglicherweise schon bald ein Stück liberalisiert wird, zeichnet sich in der Schweiz just eine gegenteilige Tendenz ab. Jahr für Jahr begeben sich viele Deutsche zum Sterben ins Nachbarland. Schon lange ist von einem „Sterbetourismus“ die Rede. Nun will die Bundesregierung in Bern die Hilfe zum Suizid stark einschränken. Sie soll nur noch erlaubt sein, wenn die sterbewillige Person „an einer unheilbaren Krankheit mit unmittelbarer tödlicher Prognose“ leidet – und dies von zwei unabhängigen ärztlichen Gutachten bescheinigt wird.
Vor drei Jahren hat das Schweizer Bundesgericht festgestellt, dass das Selbstbestimmungsrecht im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention „auch das Recht, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden“, umfasst. Suizidhilfe darf deshalb – bislang noch – in der Schweiz gewährt werden, wenn die sterbewillige Person weiß, was sie tut (Urteilsfähigkeit), nicht aus Affekt handelt (Wohlerwogenheit), einen dauerhaften Sterbewunsch hegt (Konstanz), von Dritten nicht beeinflusst wird (Autonomie) und den Suizid eigenhändig ausführt (Handlungsfähigkeit).
„Rein rechtlich gesehen dürfen also auch junge gesunde Menschen begleitet werden“, sagt Hans Wehrli, „aber wir helfen nur Menschen mit hoffnungsloser Prognose oder mit unerträglichen Beschwerden oder mit unzumutbarer Behinderung.“ Wehrli, geboren 1940, ist Präsident von „Exit“, der mit 53 000 Mitgliedern größten Schweizer Sterbehilfeorganisation, die bereits 1982 gegründet wurde. Für einen Jahresbeitrag in Höhe von umgerechnet 30 Euro bietet sie nach einer Mitgliedschaft von mindestens drei Jahren eine kostenlose Sterbebegleitung an.
Hans Wehrli hat Naturwissenschaften studiert, ist Doktor der Philosophie, hat ein ziemlich schwer verständliches Buch mit dem Titel „Metaphysik. Chiralität als Grundprinzip der Physik“ geschrieben und wohnt in einer Villa in bester Lage oberhalb des Zürichsees. Er wirkt abgeklärt, lacht oft etwas verstockt just an den Stellen des Gesprächs, wo es andere vielleicht gruseln würde. Womöglich hat er einfach zu viel erlebt oder zu oft über das geredet, was man zu verdrängen gewohnt ist. „Wir machen effiziente Suizidprävention“, sagt er, „wer weiß, dass er im äußersten Notfall bei ‚Exit‘ Hilfe findet, wird nicht so schnell Hand an sich selbst legen wie derjenige, der keinen Notausgang sieht.“
Im Unterschied zu „Dignitas“ begleitet „Exit“ nur in der Schweiz ansässige Personen in den Tod – im Krankenhaus, im Altersheim, im Pflegeheim oder zu Hause. Die Sorgfaltspflicht lasse Hilfe für Personen im Ausland nicht zu, meint Wehrli. Ein Arzt muss schließlich die Urteilsfähigkeit des Sterbewilligen bescheinigen, und die Freitodbegleiter müssen entscheiden, ob der Patient tatsächlich autonom – und nicht etwa unter dem Druck von Erben – zu seinem Beschluss gekommen ist. Auch über die Konstanz des Sterbewillens und über die Wohlerwogenheit des Entschlusses befindet der Freitodbegleiter. Wohlerwogen – das heißt der Patient muss auch über mögliche Alternativen, etwa Palliativmedizin, Bescheid wissen, und er muss sich auch Gedanken machen, was seine Entscheidung für die Angehörigen bedeutet.
Das alles fordert Zeit, viele Begegnungen, viele Gespräche. Etwa 1 500 Anfragen erhält „Exit“ jährlich, in rund 300 Fällen werden die tödlichen Rezepte – entweder vom Hausarzt oder einem Konsiliararzt der Sterbehilfeorganisation – ausgestellt. „In etwa 170 Fällen kommt es dann zum Tod“, bilanziert Wehrli, „die anderen 130 Fälle melden sich gar nicht mehr.“
„Exit“ gilt in der Schweiz weithin als seriöse Organisation. Trotzdem meldet Otfried Höffe Bedenken an. Er befürchtet, dass der Giftbecher zu schnell gereicht wird. Der deutsche Moralphilosoph, der im schweizerischen St. Gallen eine ständige Gastprofessur für Rechtsphilosophie hat, präsidiert die von der Regierung eingesetzte Nationale Ethikkommission der Schweiz. „Jeder hat das Recht, sich zu töten“, sagte er jüngst im Interview mit der Basler Zeitung. Doch sei die Frage berechtigt, „ob Suizidhilfe, die unter die Kategorie der Tötungsdelikte fällt, zulässig ist und in welchem Fall sie missbräuchlich ist“.
Höffe plädiert für den Ausbau der aus finanziellen Gründen staatlich vernachlässigten Palliativpflege, die umfassende Sterbebegleitung unter Einsatz schmerzlindernder Medikamente bietet. Außerdem unterstützt Höffe die Hospizbewegung. Gegen die geplante Einschränkung des Rechts auf Sterbehilfe wird er nicht opponieren.
Angst vor Einsamkeit
In der Schweiz ist der Anteil der nicht tödlich Erkrankten, denen organisierte Sterbehilfe gewährt wird, markant gestiegen. Betrug er in den 90er-Jahren noch 22 Prozent, so stieg er im Zeitraum von 2001 bis 2004 auf bereits 34 Prozent. Rheuma und chronische Schmerzen wurden am häufigsten als Gründe für den Sterbewillen angeführt. Vielleicht würde sich in vielen Fällen bei umsichtigem Nachfragen herausstellen, dass der Sterbewunsch so groß gar nicht ist, dass der Patient eigentlich Angst vor Einsamkeit hat oder den Angehörigen nicht zur Last fallen will.
In einzelnen Fällen wurde auch psychisch Kranken Suizidhilfe gewährt. Kann aber ein Sterbebegleiter entscheiden, ob ein psychisch Kranker oder jemand, der an Alzheimer leidet, urteilsfähig ist, sich autonom und nach Abwägung der Alternativen entscheidet?
Der an Demenz leidende frühere Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens war einst ein großer Verfechter der aktiven Sterbehilfe. Er hat mit seiner Frau Inge zusammen eine Patientenverfügung unterzeichnet, aus der hervorgeht, dass er in seinem jetzigen Zustand nicht mehr leben will. Inge Jens berichtete jüngst in einem Interview mit der Deutschen Presseagentur: „Neulich hat er gesagt: ‚Nicht totmachen, bitte nicht totmachen.‘ Ich bin mir nach vielen qualvollen Überlegungen absolut sicher, dass mich mein Mann jetzt nicht um Sterbehilfe, sondern um Lebenshilfe bittet.“
Dass die Schweiz nun wieder über Sterbehilfe diskutiert, hat allerdings nicht so sehr mit einem neuen Problembewusstsein oder mit einer Kritik an „Exit“ zu tun, sondern viel mehr mit Minelli, dem Chef von „Dignitas“. Der sorgt zuverlässig und regelmäßig für Schlagzeilen wie „Sterbehilfe auf dem Parkplatz!“ oder „Asche in den Zürichsee gekippt!“
Zudem wird ihm vorgeworfen, dass er möglichst viel Leute möglichst schnell aus der Welt schaffe, um sich daran zu bereichern. Die Beihilfe zu Suizid „aus selbstsüchtigen Beweggründen“ aber ist auch in der Schweiz strafbar. Doch wurde Minelli in einem Gerichtsverfahren, bei dem er lukrativer Geschäfte bezichtigt wurde, freigesprochen – mangels Beweisen.
An seinem schlechten Image ist Minelli nicht unschuldig. „Dignitas hat zwei aktive Mitglieder“, sagt er, „das eine bin ich, das andere will anonym bleiben, was ich respektieren muss.“ Die Buchhaltung legt er nicht offen. „Ich muss mich dauernd in Strafprozessen verteidigen“, klagt er, „ich komme gar nicht dazu, eine ordentliche Buchhaltung zu führen.“
Natürlich habe er die Asche in den See schütten lassen, sagt Minelli, das sei der letzte Wunsch des Sterbewilligen gewesen. Ja, da sei tatsächlich einer auf dem Parkplatz in seinem Auto gestorben. „Aber wenn es im Hotel geschieht, gibt es ja auch Schlagzeilen. Wer will schon in einem Hotel nächtigen, in dem einige Zimmer weiter jemandem Gift bereitgestellt wird?“
Das Problem ist, dass mittlerweile neunzig Prozent der Patienten, die sich an „Dignitas“ wenden, im Ausland wohnen. Sie können also nicht zu Hause sterben. Die Wohnung, die er in Schwerzenbach angemietet habe – „übrigens just über einem Puff“ -, sei ihm gekündigt worden, klagt der Sterbehelfer.
Nun hat Minelli eine Lösung gefunden. Er zeigt sein neues Sterbehaus am Rand einer Industriezone von Pfäffikon, einem Dorf im Zürcher Hinterland. Im Teich des Gartens schwimmen Goldfische. Das Sterbezimmer, in das von zwei Seiten Licht hereinströmt, ist spartanisch, aber doch freundlich eingerichtet: ein Bett, wie man es in Krankenhäusern findet, zwei Stühle, ein Tisch, ein Blumenstrauß, alles sehr sauber.
„Wir stellen dem Sterbewilligen Dosen von 15 Gramm Natrium-Pentobarbital und 60 Milliliter Wasser zur Verfügung“, erklärt der „Dignitas“-Chef, „wir fragen immer ein letztes Mal: ‚Wollen Sie wirklich?‘ Nach drei bis fünf Minuten schlafen die Leute mitten im Satz ein. Dann wird das Atemzentrum außer Betrieb gesetzt, absolut schmerzlos.“ Aber es komme schon vor, dass man einen Patienten auf die Seite legen müsse, „damit es vorangeht“.
Seine Organisation habe mehr Menschen gerettet als in den Tod begleitet, behauptet Minelli. Viele, die zu ihm gekommen seien, hätten vom Freitod Abstand genommen, nachdem sie die Sicherheit hatten, notfalls Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können. „Wenn es uns nicht gäbe“, sagt er, „müsste man noch viel öfter Reste von Leuten zusammenkratzen, die sich vor einen Zug werfen“. Der „Dignitas“-Chef gebraucht gern derbe Ausdrücke.
In die Schlagzeilen
Wenn Minelli aber davon berichtet, wie seine Großmutter gelitten habe, wie er selbst keine Gelegenheit hatte, sich von seiner Mutter zu verabschieden. Wenn er von den Menschen spricht, mit denen er zu tun hatte, von Situationen, die ihm sehr nah gegangen sind, glaubt man ihm sofort, dass er nicht der geldsüchtige Todesengel ist, als den ihn die Medien so oft hingestellt haben.
Andererseits schreckt er vor keiner Provokation zurück. „Im Zweiten Weltkrieg haben wir (Schweizer) an der Grenze Juden abgewiesen, die später in KZs gestorben sind“, diktierte er vor Monaten dem britischen Guardian ins Mikrofon, „jetzt zwingen wir Menschen, die ihr Leben in der Schweiz beenden möchten, weiterzuleben. Was ist grausamer?“ Sagt dies der ehemalige Journalist, um die Menschen zum Nachdenken anzuregen oder um Schlagzeilen zu machen?
Dass das eidgenössische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Sterbehilfe erschwert, glaubt Minelli nicht. „Exit“ und „Dignitas“ würden sofort Unterschriften sammeln und eine Volksabstimmung erzwingen. Fast drei Viertel der Schweizer Bevölkerung seien laut einer neuen Umfrage für die Beibehaltung der geltenden gesetzlichen Bestimmungen, und 56 Prozent würden notfalls selbst auch Sterbehilfe annehmen.
Und wie denkt Minelli über sein eigenes Lebensende? „Für mich ist der Tod nichts Schreckliches“, sagt der streitbare Rentner, der so viel Leute hat sterben sehen, „ich habe keine Angst vor ihm. Es ist einfach wieder der Zustand vor meiner Existenz. Und in der kurzen Zeit dazwischen will ich etwas hinterlassen haben.“
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 21.06.2010