„Sie wollen unseren Fisch – aber uns wollen sie nicht“

Djibril Dioum hat überlebt. Als die Piroge, in die sich 115 Männer gequetscht hatten, vier Kilometer vor der Küste der Westsahara mit Wasser volllief und sank, schwamm er um sein Leben. „36 von uns verschluckte das Meer“, sagt er, „auch ich schaffte es nicht, an Land zu schwimmen. Ich sah schon mein Ende, hatte mit allem abgeschlossen, mich aufgegeben. Doch er hat mich gerettet.“ Er zeigt auf den Mann, der stumm neben ihm auf einem alten Gummireifen Platz genommen hat. Mamadou Diop hatte als erster schwimmend den Strand erreicht und einen Fischer alarmiert, der einige der Schiffbrüchigen an Land brachte. Ein Flugzeug der Royal Air Maroc brachte die Überlebenden in ihr Heimatland Senegal zurück. Das war im Jahr 2006.

Dioum, einst Berufssoldat, später bei einer Sicherheitsfirma angestellt, war damals arbeitslos, 49 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder. Seine dramatische Geschichte erzählt der schlaksige Mann mit weißem Basecap in Yarakh, einem Viertel an der Peripherie von Dakar, der Hauptstadt Senegals.

Elf Tage lang waren sie in einem schmalen Holzkahn mit einem 40-PS-Außenbordmotor die Küste Senegals, dann Mauretaniens hochgefahren, waren schon auf der Höhe der Westsahara angelangt und wollten von dort zu den nahe gelegenen Kanarischen Inseln übersetzen, um in Spanien um Asyl nachzusuchen. Dann sickerte Wasser in die Piroge. Erst nur wenig und langsam, dann mehr und mehr und immer schneller.

„Nie wieder!“ so habe er sich geschworen, sagt Dioum, nie wieder werde er den Versuch machen, übers Meer zu fliehen. Vielleicht sagt er das so bestimmt, weil er schon zwei Jahre nach der Bootskatastrophe mit einem Arbeitsvisum legal nach Spanien ausreisen konnte, um im Baskenland Oliven, Tomaten, Bohnen und Pfefferschoten zu pflücken.

Später kellnerte er in einem Restaurant, schließlich half er in Andalusien bei der Weinernte. „Mehr als die Hälfte meines Verdienstes schickte ich über Western Union an die Familie“, sagt er, „als das Visum ablief, kehrte ich zurück.“ Jetzt schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durchs Leben und schafft es nur mühsam, seine Familie zu ernähren. Sein Wunsch: ein eigenes Taxi. Aber dafür reicht das Geld nie und nimmer.

Diop, der Dioum das Leben gerettet hat, war 25 Jahre alt, als das Boot sank. Er hat keine Kinder und – anders als Dioum – keinen Cousin in Spanien, der ihm vielleicht einen Arbeitsvertrag besorgen könnte, dort Voraussetzung für eine legale Einreise. Aber die spanischen Behörden geizen inzwischen ohnehin mit Arbeitsvisen und die Route zu den Kanarischen Inseln ist nun weitgehend dicht. Zwar hält Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fest: „Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren.“

Aber die senegalesische Küstenwache, assistiert von der spanischen Guardia Civil, die mit zwei Patrouillenbooten und einem Hubschrauber die Küste Senegals überwacht, sieht das offenbar anders. Also bleibt die nicht minder gefährliche Reise durch die Wüste und die Überfahrt übers Mittelmeer.

Es gibt viele Gründe, sein Land zu verlassen

Diop kennt die Risiken, er hat von den grauenhaften Zuständen an der libyschen Küste gehört. Aber er hat auch Nachrichten von einem Freund, der über Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien nach Lampedusa gelangt ist und heute in Spanien arbeitet. Der schickt ihm über WhatsApp Fotos. Es scheint ihm gut zu gehen. Auf die Frage, ob er das Risiko einer solchen Reise auf sich nehmen wolle, antwortet Diop mit einer Gegenfrage: „Was soll ich hier in Senegal?“ und fügt hinzu: „Mich will doch keine heiraten.“ Ohne Geld, keine eigene Wohnung, ohne eigene Wohnung keine Ehe und keine Familie. Ab und zu findet er als Fliesenleger Arbeit. Am liebsten würde er ein Stück Land kaufen und es bewirtschaften. Aber dafür reicht das Geld nicht. „Ich werde es wieder versuchen“, sagt Diop, „trotz aller Risiken.“

Senegal ist einer der ganz wenigen Staaten Afrikas, in denen die Armee nie geputscht hat. Es wird regelmäßig gewählt, einigermaßen korrekt. Wer die Regierung kritisiert, riskiert keine Haftstrafe. Die Presse ist frei. Und doch fliehen aus Senegal, wo weder Krieg noch Hunger herrschen, bezogen auf die Gesamtbevölkerung weit mehr Menschen als aus fast allen Staaten Westafrikas – Nigeria, wo die Dschihadisten von Boko Haram ganze Landstriche mit Terror überziehen, eingeschlossen. Auch aus dem deutlich ärmeren und politisch instabilen Mali fliehen weniger als aus Senegal.

So wurden nach Angaben von Frontex im Jahr 2016 insgesamt 10.378 Flüchtlinge aus Senegal registriert, die übers Meer nach Europa gelangt waren – und das bei einer Gesamtbevölkerung von gerade mal 15,4 Millionen Einwohner/innen. Zum Vergleich: aus Nigeria, welches mit seinen 186,1 Millionen Einwohner/innen, mehr als zehnmal so bevölkerungsreich ist wie Senegal, flohen im selben Jahr nur etwas mehr als dreimal so viele Menschen nach Europa – nämlich 37.759.

Bloß aus dem kleinen Gambia, 2016 noch eine Diktatur, und aus Guinea, dem laut Transparency International korruptesten Staat Afrikas, flohen – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – mehr Menschen als aus Senegal.

Krieg ist ein Grund, ein Land zu verlassen – auch extreme Armut und Hunger. Aber es gibt eben auch noch andere Gründe. Mangel an Perspektiven und verlorene Hoffnungen, der Wunsch, mit eigener Arbeit ein einigermaßen würdiges Leben führen, eine Familie gründen, sich eine eigene Wohnung oder ein eigenes Häuschen leisten, eine Zukunft bauen zu können. Und es fliehen ja nicht die Allerärmsten.

Expert/innen gehen sogar davon aus, dass eine erfolgreiche Entwicklungspolitik, die extreme Armut beseitigt, kurzfristig zu mehr Emigration führt, weil mehr Menschen das Geld für korrupte Beamte und kriminelle Schlepper aufbringen können. Ein steigendes Bildungsniveau bei jungen Menschen bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, im eigenen Land eine der Qualifikation entsprechende Arbeit zu finden, ist ebenfalls ein Motor für Migration. Auch mag bei Jugendlichen der Wunsch, der familiären Enge und den patriarchalen Verhältnissen zu entfliehen, eine Rolle spielen – die Bilder einer anderen Welt, einer modernen, scheinbar sorgenfreien, glitzernden Welt. Diese Bilder, die dank Smartphones und sozialen Medien in Senegal omnipräsent sind, haben große Anziehungskraft.

„Schon mein Vater war Fischer“, sagt Lamine Ndiaye, der seine bunt bemalte Piroge am Strand von Kayar, 50 Kilometer nördlich von Dakar, gerade an Land gezogen hat. „Auch mein Großvater war Fischer, mein Urgroßvater auch und wahrscheinlich auch schon mein Ururgroßvater. Aber mein Sohn wird sich wohl eine andere Arbeit suchen müssen.“ Ndiaye, 35 Jahre alt, drahtige Gestalt, kahl rasierter Schädel, erinnert sich, wie er vor 20 Jahren seinen Vater auf dem Fischfang begleitete. „Wir fuhren einige Kilometer ins Meer hinaus und kehrten nach wenigen Stunden mit vollen Netzen zurück. Heute fahren wir frühmorgens viele Kilometer hinaus und können froh sein, wenn wir spätabends oder am nächsten Tag überhaupt einen Korb voll Fische zurückbringen.“

Heute hat Ndiaye immerhin 45 Kilo gefischt, mehr als sonst, viel weniger als früher. Wenn es unter 30 Kilo sind, und das ist oft der Fall, macht er Verluste. Er muss ja ein Dutzend Männer bezahlen, die ihm beim Fischfang helfen, und auch das Benzin.

Illegal, nicht deklariert, regelwidrig

Jeder fünfte Senegalese lebt direkt oder indirekt vom Fischfang. Die Gewässer vor Westafrika gehören zu den fischreichsten der Welt. Aber die Fischbestände sinken dramatisch. Der „Thiof“, wie die Senegales/innen den Weißen Zackenbarsch in ihrer Sprache, dem Wolof, nennen, galt einst als Nationalgericht und gehörte auf jeden Teller. Heute ist er vom Verschwinden bedroht, weil bis vor kurzem Megatrawler an einem einzigen Tag so viel Fisch fingen, auf hoher See verarbeiteten und in Kühlcontainern abtransportierten, wie 50 Pirogen zusammen in einem ganzen Jahr fischen konnten.

Inzwischen hat Senegal die Fischfabriken in seiner 200-Meilenzone, in der es nach dem internationalen Seeübereinkommen ein exklusives Recht zur wirtschaftlichen Nutzung hat, zwar verboten. Aber weiterhin kreuzen russische, chinesische, japanische und EU-Trawler vor der Küste. Nur müssen sie den Fang nun an Land bringen. In Kayar, dessen 20.000 Einwohner/innen zum überwiegenden Teil vom Fischfang leben, gibt es jetzt zwei koreanische, eine chinesische und eine libanesische Fabrik, die den Fisch verarbeiten – oft zu Fischmehl, das dann Futter für europäische Hühner wird. Ein großer Teil des Fangs aber wird angelandet, tiefgefroren und in Containerschiffen gleich wieder abtransportiert.

„Westafrika ist die einzige Region der Welt, in der der Konsum von Fisch aufgrund von Überfischung und illegalem Fischfang zurückgeht“, sagt Ibrahima Cissé, Kampagnenleiter von Greenpeace Westafrika in seinem Büro in Dakar. Und die Senegalesen und Senegalesinnen decken einer WWF-Studie zufolge ihren Proteinbedarf zu 40 Prozent über den Fischkonsum.

In die Überfischung seien auch die einheimischen Fischer verstrickt, stellt der Meeresbiologe vorab klar. Sie fischen nicht mehr nur für den Eigenbedarf und den lokalen Markt, sondern verkaufen ihren Fang zu einem beachtlichen Teil an die Verarbeitungsfabriken. 600.000 Menschen sind im Fischfang und in der Fischverarbeitung beschäftigt. Sie erwirtschaften einen Drittel der Exporterlöse des Landes. Vor allem an der Überfischung von Arten, die auf europäischen Märkten besonders begehrt sind, sind auch die Kleinfischer beteiligt.

Doch hauptverantwortlich für die Überfischung sind zweifellos die großen Trawler. Cissé ist drei Monate lang auf der „Esperanza“, einem Schiff von Greenpeace, in der 200-Meilen-Zone von sechs Staaten Westafrikas unterwegs gewesen. Fünf dieser sechs Staaten, unter ihnen Senegal, haben das Angebot der Umweltorganisation angenommen, Inspekteure der staatlichen Fischereibehörde mitfahren zu lassen, die befugt waren, die Trawler auf IUU-Fischfang zu kontrollieren. IUU steht für illegal, undeclared, unregulated. „Illegal“ heißt ohne Lizenz des Staates, in dessen „Zone exklusiver wirtschaftlicher Nutzung“ gefischt wird.

Oft haben Trawler Lizenzen für mauretanische Gewässer, schalten dann aber nachts Positionslichter und Transponder aus, um über Satellit und Radar nicht entdeckt zu werden, und dringen in senegalesische Gewässer ein. „Nicht deklariert“ meint die Umgehung der Pflicht, dem Staat Menge und Arten des Fangs korrekt anzugeben. Und „regelwidrig“ ist beispielsweise das Fangen von geschützten oder zu jungen Fischen. Die industrielle Fischerei mit Grundschleppnetzen, die den Meeresboden und Laichplätze zerstört, hat Senegal inzwischen verboten. Doch haben die Staaten Westafrikas allein aufgrund von IUU-Fischfang, so schätzt Greenpeace, in den Jahren 2010-2016 über 2,3 Milliarden Euro verloren.

„Die Regierung hat unser Meer verkauft“

Zu ähnlichen Resultaten kommt das Overseas Development Institute. Der britische Thinktank hat noch eine andere Rechnung aufgemacht. In einer Studie kommt er zu dem Schluss, dass in der Region Westafrika über 300.000 neue Arbeitsplätze entstehen könnten, wenn die Staaten ihre Fischgründe selbst ausbeuten und den Fang selbst industriell verarbeiten würden.

Dazu bedürfte es massiver Investitionen in Fischfangflotten und Verarbeitungsfabriken. Dies könnte die Strategie einer nachhaltigen Entwicklungspolitik sein. Zwar hat Senegal in jüngster Zeit einiges in die lokale Fischerei investiert, den Fischern Subventionen für Netze und Motoren angeboten. Aber das große Geschäft machen weiterhin ausländische Fischfanggesellschaften.

Auch die EU ist seit Jahren wieder mit von der Partie. Nachdem Senegal sich auf Druck der einheimischen Kleinfischer geweigert hatte, das 2006 ausgelaufene Fischereiabkommen mit der EU zu erneuern, kam es 2014 schließlich doch wieder zu einer Einigung. 38 spanische und französische Schiffe dürfen seither in der 200-Meilen-Zone vor Senegal jährlich 14.000 Tonnen Thunfisch und 2.000 Tonnen Seehecht fangen. Die EU bezahlt dem westafrikanischen Staat dafür jährlich einen Beitrag von rund 1,8 Millionen Euro. Ungefähr eine weitere Million entrichten die französischen und spanischen Schiffseigner dem senegalesischen Staat als Steuer auf den gefangenen Fisch – 5,5 bis 7 Cents pro Kilo Thunfisch und 9 Cents pro Kilo Seehecht.

„Die Regierung hat unser Meer verkauft – an die Chinesen, Japaner, Russen, Europäer“, schimpft  mit donnernder Stimme und zeigt auf den Atlantik hinaus. Am Horizont erkennt man ein halbes Dutzend Trawler. Diouf, 49 Jahre alt, lebt in Thiaroye-sur-Mer, einem Fischerstädtchen an der Peripherie von Dakar.

Die Straßen sind ungepflastert. Zwischen den Pirogen spazieren Pelikane und ausgemergelte Ziegen. Männer waschen ihre Schafe im Meer. Diouf ist Präsident der „Association des jeunes repatriés de Thiaroye-sur-Mer“, der fast 600 jugendliche Rückkehrer, alle aus diesem Städtchen, angehören. Die einen sind freiwillig zurückgekommen, die andern wurden abgeschoben. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, junge Männer vom gefährlichen Trip durch die Wüste und übers Mittelmeer abzuhalten. Diouf reist in Städte und Dörfer, um mit Jugendlichen zu reden, sie vor den tödlichen Risiken zu warnen. „Aber was können wir Ihnen als Alternative anbieten?“ fragt er. Er kann die jungen Männer verstehen.

Er kann sie verstehen, weil er selbst auch zweimal den Versuch gemacht hat, nach Europa zu gelangen. 1994 wurde er schon in Mauretanien festgenommen und zurückgeschickt. 2006 hat er es dann auf einer Piroge immerhin auf die Kanarischen Inseln geschafft, auf spanischen, also europäischen Boden. Dort schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis er festgenommen und zurückgeschickt wurde. Die Mutter hatte Bauland verkauft, um ihm einen Platz in der Piroge zu bezahlen. Sie hatte gehofft, dass er bald Geld aus Europa schicken würde, um der Familie zu helfen. Trotzdem nahm sie den abgeschobenen Sohn mit offenen Armen auf. Der Vater hingegen war sauer über die Fehlinvestition. „Und vor meinen Freunden mochte ich mich nicht blicken lassen“, sagt Diouf. Wer scheitert, schämt sich.

Jetzt fährt er mit seiner Piroge wieder täglich zum Fischfang aufs Meer hinaus, das von den großen Trawlern aus Asien und Europa leergefischt wird. „Weshalb lassen sie das afrikanische Meer nicht den Afrikanern?“, fragt er zum Abschied und stellt verbittert fest: „Sie wollen unseren Fisch, aber uns wollen sie nicht.“

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Thomas Schmid , https://www.boell.de/de/2017/09/19/sie-wollen-unsern-fisch-aber-uns-wollen-sie-nicht