Der Mohr soll jetzt gehen

Zwischen dem kahlen, braunen Gebirgszug der Sierra de Godar und dem azurblauen Meer der Costa del Sol breitet sich ein riesiger, silbrig-grau schimmernder Teppich aus. Es ist, als ob Christo die ganze Landschaft verpackt hätte. Wo früher einmal Wiesen und Äcker waren, stehen heute, so weit das Auge reicht, große Treibhäuser. Die engen staubigen Sträßchen, die die Plastiklandschaft durchfurchen, sind aus der Ferne nicht zu erkennen. In El Ejido, in der andalusischen Provinz Almeria, gibt es die weltweit größte Konzentration von Intensivkultur. In einem der über zehntausend Gewächshäuser steht Antonio und prüft seine Tomatenstauden. An einigen hat sich ein kleines schwarzes Insekt festgesetzt, das Eier legt, aus dem winzige Würmchen entschlüpfen, die die Blätter auffressen, bis die Pflanze abstirbt. An  andern entdeckt er – weit gefährlicher – weiße Pünktchen, Symptome eines tödlichen Virus, das, wenn nicht rechtzeitig entdeckt und bekämpft, sich schnell über die ganze Plantage ausbreitet.

Den Nagel des kleinen Fingers seiner linken Hand schneidet Antonio nicht, und so ist der – wie bei Struwwelpeter – weit über die Kuppe hinausgewachsen. Im mediterranen Raum weiß jeder, was das zu bedeuten hat. Wer körperliche Arbeit leistet, ob Handwerker, Maurer oder Bauer, kann sich einen solchen Nagel nicht leisten, der wäre tausendmal abgebrochen. Antonio ist nicht campesino, Bauer, sondern agricultor, Landwirt. „Ich bin Unternehmer“, sagt er selbstbewußt. Für die Buchhaltung hat er sich sogar einen Computer angeschafft. Er ist hier als Bauernjunge aufgewachsen. Wo nun das Treibhaus steht, hatte sein Vater einst den Gemüsegarten und einige Olivenbäume. Fließendes Wasser gab es im Elternhaus nicht und auch keine Elektrizität – bis in die 70er Jahre. Es waren schwierige Zeiten. Antonios Vater emigrierte in die Schweiz, arbeitete in einer Fabrik und schickte regelmäßig Geld nach Hause.

„Pro Hektar kannst du eine Ernte von 160 Tonnen Tomaten erzielen“, sagt Antonio und „pro Hektar brauchst du im Durchschnitt einen moro, sonst schaffst du es nicht.“ Moros, Mauren, ist der abschätzige Ausdruck für die marokkanischen Immigranten. Und da Antonio genau ein Hektar Land unter Plastik hat, beschäftigt er Mustafa. „Es un buen moro“, betont er, er arbeite gut, mache keine Probleme, „für mich ist er wie ein Bruder.“ Mustafa bekam sein Geld immer rechtzeitig ausbezahlt, auch letztes Jahr, als die Preise für Paprika in den Keller fielen und Antonio einen Verlust von anderthalb Millonen Peseten, umgerechnet 18.000 Mark, erwirtschaftete, wonach er auf Tomaten umstieg. Der Marokkaner verdient 1.100 Mark im Monat. Das ist etwa sechsmal mehr, als er für dieselbe Arbeit in seiner Heimat kriegen würde.

In der Provinz Almeria hat ein Wirtschaftswunder stattgefunden. Im Januar und Februar bestreitet die Provinz, die 35.000 Hektar Land unter Plastik hält, 80 Prozent des gesamten Gemüseexports Spaniens. Hier fällt die Temperatur auch in kalten Winternächten nur selten unter fünf Grad. Tomaten, Paprika, Auberginen, Bohnen, Broccoli, alles wächst im Sand, der die darunter liegende Erde und die Wurzeln warm hält. Die über 20.000 Landwirte, die im Durchschnitt ein Treibhaus mit einer Fläche von anderthalb Hektar besitzen, haben es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht. Man sieht es den Dörfern an. Doch die meisten Gemüsezüchter sind verschuldet. „Ich kenne keinen einzigen in meiner Nachbarschaft, der nicht Zinsen zu zahlen und Schulden zu tilgen hat“, sagt Antonio, der einen achtjährigen Sohn hat und am liebsten noch zwei Kinder mehr hätte, „aber das kann ich mir nicht leisten.“ Mustafa aber schickt jeden Monat die Hälfte seines Lohns nach Hause, nach Marokko, wo seine Frau und seine drei Kinder leben.

Seit drei Jahren arbeitet Mustafa bei Antonio. Und nie gab es Probleme. Doch Anfang Februar fanden sich die beiden plötzlich auf verschiedenen Seiten der Barrikade. Nachdem ein offenbar geisteskranker Marokkaner eine spanische Frau erstochen hatte, jagten in El Ejido über 2.000 aufgebrachte Spanier drei Tage lang moros, plünderten ihre Geschäfte und zerdepperten ihre Hütten. Tausende Marokkaner flohen in die nahen Berge und getrauten sich erst nach drei Tagen zurück, als die Polizei, die die Rassisten offenbar einfach hatte gewähren lassen, die Kontrolle wieder zu übernehmen geruhte. Antonio beteiligte sich an einer der zahlreichen Straßensperren der Spanier, um das Ausbrechen der Marokkaner und die Ankunft von Polizeiverstärkung zu verhindern. Mustafa verschränkte die Arme und trat wie alle Marokkaner der Gegend in Streik. Nach sieben Tagen kehrten die Immigranten wieder in die Treibhäuser zurück. Am vergangenen Freitag (25.2.) kündigten sie an, am 14. März erneut in den Ausstand zu treten, falls bis dann das Agreement, auf das sich Bauernverband, Gewerkschaften und Immigrantenorganisationen, Staat, Region und Kommune am 12. Februar verständigt hatten, nicht verwirklicht sei: Notunterkünfte für alle, die bei den rassistischen Angriffen obdachlos wurden – es sind vermutlich über 700 Personen; Entschädigung für zerstörtes Hab und Gut; Beginn des Baus von Sozialwohnungen für bedürftige Marokkaner und Spanier.

Bis jetzt wurden Notunterkünfte höchstens für 200 Personen herbeigeschafft. Noch nicht einmal zehn Prozent der Schäden wurden erstattet, und über den Bau von Sozialwohnungen streiten sich seither die Gewerkschaften und die Immigranten mit Juan Enciso, dem Bürgermeister von El Ejido. Der ist ein erzkonservativer Mann und gehört der in Madrid regierenden Volkspartei an. Die Schuld an den rassistischen Angrifffen lastete er öffentlich denjenigen an, „die den Immigranten immerzu nur von ihren Rechten erzählen“. Ein Gespräch mit Vertretern der marokkanischen Einwanderer lehnte er rundweg ab. Vor allem aber weigerte er sich, kommunales Land für den Bau von Notunterkünften oder Sozialwohnungen zur Verfügung zu stellen. Die Regierung in Madrid, die ihm zunächst mit Zwangsenteignung gedroht hatte, beugte sich ihm schließlich. Nun werden die Container in den Plantagen auf dem Boden der Landwirte aufgestellt – zur einen Hälfte für diejenigen, die obdachlos wurden, zur andern für jene, die auf den betreffenden Plantagen arbeiten. Damit setzte sich Enciso durch, der die moros möglichst weit draußen, weit weg vom Ortskern und der spanischen Bevölkerung haben will. Sein Argument ist einfach: Die Landwirte, die Marokkaner einstellen, sollen ihnen auch eine Unterkunft zur Verfügung stellen. Und wenn der Arbeitsvertrag zuende ist, muss das Bett wieder frei gemacht werden.

Doch das Argument blendet eine dramatische Realität aus. In der Provinz Almerias gibt es 26.000 registrierte Immigranten, vorwiegend Marokkaner, aber auch viele Schwarzafrikaner, und vermutlich etwa ebensoviele indocumentados odersin papeles, Menschen also, die „keinen Ausweis“ haben und „ohne Papiere“ sind und die man in Deutschland „Illegale“ nennen würde. „Wir haben für unsere Provinz 8.274 ausländische Arbeitskräfte angefordert“, sagt Eduardo Lopez, örtlicher Sekretär des Verbandes der Landwirte und Viehzüchter COAG, „aber die Regierung in Madrid hat uns nur ein Kontingent von 2.600 zugestanden, das nach Protesten schließlich auf 3.326 erhöht wurde.“ Dabei hat der Verband weit weniger angefordert, als er tatsächlich braucht, um die Ernte einzubringen. Unter dem Plastik arbeiten 20.000 bis 25.000 Marokkaner. Viele von ihnen sind „ohne Papiere“, und viele finden nur für einen oder zwei Tage Arbeit pro Woche. Die Arbeitsinspektoren drücken in der Regel beide Augen zu.

Wie ein Großteil dieser „Papierlosen“ wohnt, hat die spanische Öffentlichkeit erst nach den rassistischen Aggressionen zur Kenntnis genommen. Fernseh-Teams begaben sich vor Ort und filmten verängstigte Immigranten, die in elenden Hütten aus Karton und Plastik oder in verfallenen Hausruinen ohne fließendes Wasser, ohne Elektrizität, ohne jegliche Möbel, hausen – und dies oft schon seit Jahren.

„Uns war schon lang klar, dass die Situation hier explodieren würde“, sagt Hanafi Hamza, ein smarter und alerter junger Mann, der in Vicar, einem Nachbarort von El Ejido, die Immigrantenorganisation ATIME leitet, „überrascht hat mich nur, dass die andere Seite als erste losschlägt.“ Er ging wie selbstverständlich davon aus, dass den Marokkanern als ersten der Kragen platzt. Unter den meist jugendlichen, fast ausschließlich männlichen Immigranten, die Familie und Angehörige hinter sich gelassen haben, um ein besseres Leben zu finden und nun Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat unter armseligen Bedingungen arbeiten und leben, ist die Frustration riesig. Sie kennen kein Kino und keine Vergnügungen, und zu Frauen haben sie – sieht man von Prostituierten aus Ländern Osteuropas ab, die sich hier auf dem Land in billigen Puffs eingerichtet haben – so gut wie keinen Kontakt.

Hanafi Hamza gibt freimütig zu, dass die Kleinkriminalität in der Region in den letzten Jahren bedenklich angewachsen ist. Auch dass marokkanische Jugendliche mitunter spanische Frauen belästigen, leugnet er nicht. All das seien keine Vorurteile, sondern Fakten. „Aber man kann doch nicht ein ganzes Kollektiv für das Verhalten einzelner verantwortlich machen“, empört er sich und sinniert dann, „man lehnt uns ab, stößt uns zurück – weil man uns nicht kennt.“ Dass Enciso, der Bürgermeister von Ejido, die moros möglichst weit weg haben will, sei ein deutliches Zeichen dafür, dass er sie nicht integrieren, sondern ausgrenzen und ghettoisieren wolle. „Aber Integration muss von beiden Seiten gewollt werden“, sagt Hanafi Hamza, „auch wir Marokkaner müssen den Integrationswillen aufbringen.“ Doch das setzt voraus, dass die Immigranten in Spanien eine Perspektive sehen, und die beginnt nun einmal bei den Papieren.

Das hat irgendwann mal auch die politische Klasse Spaniens eingesehen. Anderthalb Jahre lang debattierten und verhandelten Regierung und Opposition über ein neues Ausländergesetz. Verabschiedet wurde es schließlich gegen die regierende Volkspartei. Nur ein einziges Kabinettsmitglied begrüßte das neue Gesetz, das illegal eingewanderten Ausländern die Legalisierung und damit den Zugang zu Bildung und sozialen Versorgungseinrichtungen erleichtert und ihre Abschiebung erschwert: der Arbeitsminister Manuel Pimentel. Während Regierungschef Jose Maria Aznar öffentlich Verständnis für den Bürgermeister Juan Enciso bekundete, nannte Pimentel den Scharfmacher von El Ejido unverblümt einen Rassisten. Vergangene Woche trat er zurück. Sein Nachfolger, Juan Carlos Aparicio, stärkte in seiner ersten Fernsehrede dem umstrittenen Bürgermeister den Rücken.

Nach dem neuen Ausländergesetz, das am 1. Februar in Kraft getreten ist, hat jede Person, die bis Ende März nachweist, dass sie vor dem 1. Juni des vergangenen Jahres bereits in Spanien gelebt hat, Anrecht auf die Legalisierung ihres Aufenthalts. In der Provinz Almería, wo es nach offiziellen Angaben nur 4.000 Illegale gibt, hatten schon in den ersten drei Tagen nach dem Inkrafttreten der neuen Regelung über 7.000 sin  papeles ihre Papiere beantragt. Bei der Ausländerpolizei, die ihr Büro um neun Uhr früh öffnet, wird nun schon ab Mitternacht Schlange gestanden. Nach offiziellen Erwartungen werden in ganz Spanien etwa 80.000 Immigranten ihren Status legalisieren. Tatsächlich dürften es weit mehr werden.

Das Ausländergesetz gerät nun immer mehr in den Wahlkampf, der am vergangenen Wochenende offiziell eröffnet wurde. Am 12. März finden in ganz Spanien Parlamentswahlen statt. Die Regierung, die sich vermutlich an der Macht halten wird, hat bereits angekündigt, dass sie das Ausländergesetz, das gerade vier Wochen in Kraft ist, revidieren werde. Vor allem will sie einen Passus rückgängig machen, wonach ein illegal lebender Ausländer nicht mehr wie bisher einfach auf polizeilich-administrativem Weg abgeschoben werden kann, sondern Anrecht auf eine juristische Klärung des Sachverhalts hat. Nach dem neuen Gesetz kann nur noch polizeilich rückgeschafft werden, wer bei der illegalen Einreise erwischt wird. Die Sozialisten, in Madrid seit bald vier Jahren in der Opposition, befürchten offenbar, dass die Auseinandersetzungen um El Ejido das Regierungslager stärken könnten und treten leise. In El Ejido haben sie die Einberufung einer außerordentlichen Sitzung des Gemeinderats gefordert, nicht um zu beraten, was gegen den Rassismus zu tun sei, sondern um – Bürgernähe ist gefragt – über die öffentliche Sicherheit zu debattieren, und gewiss meinten sie nicht die Sicherheit der Marokkaner vor spanischen Angriffen.

Während in konservativen Kreisen vor allem die Abschottung der Grenze und die möglichst umgehende Abschiebung der unerwünschten Eindringlinge, beides durchaus populäre Anliegen, angepeilt werden, drängen regierungsunabhängige Organisationen, Gewerkschaften und progressive Kreise primär auf Integration. Als es vor einem Jahr bei Barcelona zu rassistischen Ausschreitungen kam, kündigte der konservative Bildungsminister Mariano Rajoy noch die Einführung des Schulfachs Toleranz an. Geschehen ist nichts. Mit der Integration der großen lateinamerikanischen Exilgemeinde tut sich Spanien nicht sonderlich schwer. Selbst mit zahlreichen Schwarzafrikanern scheinen die Spanier sich eher abzufinden als mit den Nachbarn aus Marokko, das vom europäischen Festland nur durch die 14 Kilometer breite Straße von Gibraltar getrennt ist. Trotz oder wegen der gemeinsamen Geschichte. Andalusien, Al-Andalus, hatte der arabischen Welt einst seine Hochblüte zu verdanken. Cordoba war damals die größte Stadt Europas. Und auch Araber sind es, die in der einst armen Gegend um Almeria für ein Wirtschaftswunder gesorgt haben.

Sie kommen mit Motorbooten nachts über die Meerenge. Der Leuchtturm von Tarifa ist bei schönem Wetter von Afrika aus mit bloßem Auge zu erkennen. 3.108 illegale Einwanderer hat die spanische Küstenwache im vergangenen Jahr abgefangen. Die Anzahl jener, die auf der Iberischen Halbinsel unbemerkt an Land gingen, dürfte um ein Vielfaches größer sein. Doch in der Straße von Gibraltar schlägt das Wetter oft in kürzester Zeit um, dann wird die See stürmisch. Rund 50 Tote wurden im vergangenen Jahr an den Stränden der Provinz Cadiz, die Marokko gegenüberliegt, geborgen. Weit mehr Menschen sind wohl im Meer ertrunken. Allein im Januar dieses Jahres wurden schon sieben Leichen an die spanische Küste gepült. Keine von ihnen konnte identifiziert werden. Der Polizeibericht konnte nur „maghrebinisches Aussehen“ oder „nordafrikanische Rasse“ feststellen. Sie sind in einer Ecke des Friedhofs von Tarifa, der südlichsten Stadt Spaniens, beerdigt. Ohne Grabstein. Ohne Inschrift. Nur ein paar gelbe Blumen, vom Friedhofsgärtner selbst hingelegt, markieren die Stelle, wo sie liegen.

Thomas Schmid, „Die Zeit“, 30.03.2000 (hier ungekürzte Originalfassung)