Europa beginnt in Afrika. Es beginnt an dessen Nordspitze: in Ceuta, der spanischen Exklave an der marokkanischen Küste. Europa ist in Afrika die Hoffnung für Hunderttausende. Fast 2000 Menschen aus fernen Ländern jenseits der Sahara haben es geschafft.
Quer durch die Wüste haben sie sich bis Ceuta durchgeschlagen, das auf der Landzunge unmittelbar gegenüber dem Felsen von Gibraltar liegt. Meist sind es Männer, junge, mobile Männer im Alter von 20 bis 25 Jahren. Sie kommen aus Nigeria, Guinea, Sierra Leone, Liberia, Kamerun, Kongo-Brazzaville und Kongo-Kinshasa. Jetzt stehen sie fest auf dem Boden der Europäischen Union.
Und doch bleibt Europa vorerst noch ein Traum. Denn spanisches Territorium haben die Männer zwar erreicht. Aber sie sind noch nicht im Schengen-Raum, der erst, rund 14 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar beginnt. Dort will sie niemand haben. Dort verläuft der neue Limes.
So ist in dem polizeilich überwachten Zeltlager am Rande der spanischen Garnisonsstadt vorerst die Zeit stehen geblieben.
Die Flüchtlinge warten. Sie warten im Wald auf die Erlaubnis zum Sprung übers Meer, zum Start in ein neues Leben. Das alte, gezeichnet von Elend oder Bürgerkrieg, haben sie hinter sich gelassen. Sie haben alle Brücken abgebrochen. Den Pass, sofern sie je einen hatten, haben sie weggeworfen, damit man sie nicht ausweisen kann. Offiziell sind sie jetzt: niemand. Sie wollen noch einmal ganz von vorn anfangen, dort, wo sie, anders als in Afrika, die Chance dafür sehen.
Jean-Louis zum Beispiel. In seinem früheren Leben in Conakry war der 22-Jährige Straßenhändler. Er verkaufte Zahnbürsten, Kämme, Seife und Shampoo. Das taten viele in Guineas Hauptstadt. Zu viele: Wie hätte ich je eine eigene Familie gründen und in eigenes Haus ziehen können? Natürlich seien seine Eltern nicht gerade begeistert gewesen über seinen Entschluss, nach Europa zu ziehen. Schließlich hätten sie, selbst einfache Kaufleute, doch eingewilligt. Vielleicht würde der Sohn eines Tages Geld nach Hause schicken können? Ohne das Plazet seines Vaters wäre Jean-Louis niemals losgezogen. Er ist wie fast alle Guineer Muslim: Der Islam lehrt uns, unsere Eltern zu achten.
Neben seinem Zelt hat eine Gruppe von Flüchtlingen eine Kochstelle eingerichtet. Vier große Kessel hängen über dem offenen Feuer. Ein kleines Geschäft. Die meisten im Lager werden von der spanischen Armee verköstigt, es bezahlt das Rote Kreuz. Doch wer Geld hat und wem das europäische Essen nicht schmeckt, der kann für umgerechnet 2,50 Mark afrikanische Gerichte zu sich nehmen. Jean-Louis lässt sich von den Düften scharf gewürzten Lammfleischs, das in tiefbrauner Sauce brutzelt, nicht verführen. Es ist Ramadan, und er wartet mit dem Essen, bis es dunkel wird.
Er wolle seinen Eltern gern helfen, sie nicht enttäuschen, grübelt er, aber auch seine eigene Zukunft bauen. Ob es für beides reichen wird? Ob er überhaupt Arbeit findet? Mit seltsamer Gelassenheit stellt der junge Mann diese Fragen nach einer Zukunft, für die er unglaubliche Ängste und Strapazen in Kauf genommen hat.
Im Juni ist Jean-Louis aufgebrochen. Auf der Ladefläche eines Viehtransporters, eingezwängt zwischen Kamelen und Schafen, hat er Mali durchquert. In Bussen, auf Lastern und zum Teil zu Fuß ist er durch den Süden Algeriens gezogen. Die Grenzen waren das geringste Problem. Wo sie offen waren, reichte ein bisschen Bakschisch. Wo sie geschlossen waren, wie zwischen Algerien und Marokko, fand sich in den Weiten der Wüste immer ein Weg. Schlimm aber waren die Banditen, sagt Jean-Louis, vor allem in Marokko. Im Rif-Gebirge hielten sie ihm ein Messer an die Gurgel, da rückte er sein letztes Geld heraus. Ganz kurz vor Ceuta, dem Etappenziel.
Fünf Tage und fünf Nächte hat er danach in den Wäldern vor dem spanischen Grenzzaun verbracht. Bei Bauern bettelte er um Brot, immer in der Angst, verpfiffen zu werden. Ende August versuchte er den ersten Durchbruch. Doch marokkanische Grenzpolizisten fingen ihn ab, verprügelten ihn und brachten ihn nach Tetouan ins Gefängnis. Nach zwei Wochen fuhren sie ihn zu einer Polizeistation an der algerischen Grenze. Dort hielten sie ihn noch einmal fünf Tage fest und schoben ihn schließlich ab, ins Niemandsland zwischen den beiden seit fünf Jahren geschlossenen Zollstationen.
Doch Jean-Louis gab nicht auf. Eine Woche lang schlug er sich durch das algerische Grenzgebiet bis zurück nach Marokko. Und wagte einen neuen Versuch. Diesmal waren wir am Zaun etwa 60 Leute. Die marokkanischen Grenzer hatten wir schon hinter uns. Da peitschten Schüsse durch die Nacht. Die meisten von uns flohen in Panik zurück. Nur 15 kamen durch. Die Spanier hätten nicht mit scharfer Munition geschossen, sondern nur zur Abschreckung.
Doch anders als in Marokko und Algerien, betont Jean-Louis höflich, würden die Flüchtlinge in Spanien sonst korrekt behandelt.
Die Anstrengungen der letzten Monate merkt man ihm erstaunlich wenig an. Er nahm sie auf sich für ein Paradies, von dem er nur sehr undeutliche, zudem ganz bescheidene Vorstellungen hat: Ich hoffe einfach, dass man mich arbeiten lässt. Irgendeinen Job werde ich schon finden. Es gibt doch viele Arbeiten, die ihr Weißen nicht machen wollt, weil sie zu schmutzig sind oder zu schlecht bezahlt. Jean-Louis hofft, jede Woche etwas Geld sparen zu können. Schließlich raucht er nicht, und den Alkohol lehnt er als Muslim ohnehin ab. Sein Traum ist ein eigenes Zimmer, das er sauber halten will.
Vielleicht auch ein Motorrad, ein Auto. Ein ganz normales Leben irgendwo in Spanien. Dort drüben.
Die Euroferry wird ihn mitnehmen, sobald sich irgendwo auf der Iberischen Halbinsel eine humanitäre Organisation oder eine Privatperson bereit erklärt, ihn aufzunehmen und für ihn zu bürgen. In andere europäische Länder dürfen die Flüchtlinge nicht weiterreisen. Wenn sie aber mal drüben sind, sagt kühl der Beamte der Ausländerpolizei im Camp, dann machen sie, was sie wollen. Hier sind sie korrekt, weil sie wissen, dass sie sonst nicht rauskommen.
Raus kommen jede Woche rund 100 Flüchtlinge, meist nach zwei Monaten Wartezeit. Doch die Bevölkerung im Lager von Ceuta schrumpft nicht. Die beiden zwei Meter hohen Drahtzäune, die, parallel verlaufend, die knapp 20 Quadratkilometer große spanische Exklave vom marokkanischen Umland trennen, sind über die ganzen acht Kilometer hin gut bewacht. Trotzdem schlüpft jede Nacht etwa ein Dutzend Afrikaner in die Europäische Union. Sie überklettern den Zaun da, wo kein Stacheldraht sie daran hindert. Sie kriechen durch alte Betonröhren, durch die Ceuta früher mit Wasser aus dem marokkanischen Umland versorgt wurde.
Also versucht Europa, sich noch rigoroser abzugrenzen. Undurchdringlich.
Überall stapeln sich Stacheldrahtrollen, Eisengitter, Zementsäcke. Zwei neue, wiederum parallel verlaufende Zäune sollen die alten ersetzen. Sie werden nun drei Meter hoch sein und bis ganz oben mit Stacheldraht bewehrt, nicht wie die alten nur in der unteren Hälfte. 17 Wachtürme mit Videokameras und hochsensiblen Sensoren sollen Eindringliche rechtzeitig ausfindig machen. Vor dem EU-finanzierten Doppelzaun, der nachts hell erleuchtet sein wird, verläuft eine Asphaltstraße, auf der die Guardia Civil in Jeeps patrouilliert.
Quer durch die Gebirgslandschaft schlängelt sich der hässliche Zaun. Von Meer zu Meer. Zum Teil ist es noch der alte, zum Teil bereits der neue. Unten am Bach verläuft die Grenze. Oben am Berghang stehen marokkanische Polizisten.
Einige werden trotzdem durchkommen, sagt der Oberst der Guardia Civil.
Selbst die Berliner Mauer war nicht dicht, trotz Schießbefehl.
Marokko hat sich zwar 1992 verpflichtet, sämtliche Flüchtlinge zurückzunehmen. Doch die Behörden behaupten, die Schwarzen seien nicht über ihr Territorium nach Ceuta gekommen. Als ob die vom Himmel gefallen wären, empört sich der Oberst. Nur wenn wir sie gleich am Zaun zu fassen kriegen, nehmen sie sie zurück. Haben es die Flüchtlinge aber einmal an den spanischen Grenzwächtern vorbei ins Schwellen-Land geschafft, sind es nur noch zwei Kilometer bis zu den Zelten.
Brauchst du eine Frau, hatte Jean-Louis verächtlich gesagt, dann geh zu den Nigerianern. Die Nigerianer sind die größte Gruppe. Viele von ihnen leben oberhalb des eingezäunten Lagers, nicht in Militärzelten, die sich bis zu 20 Personen teilen, sondern in selbst gebauten Hütten aus Karton und Plastik. Tatsächlich gibt es Prostitution. Warum sollte es in einem Flüchtlingslager moralischer zugehen als anderswo? Nachfrage schafft Angebot.
Es gibt den Friseur, unter freiem Himmel. Es gibt den Fotografen, der Passbilder schießt. Und irgendwo piepst immer ein Handy. Abgeschnitten von ihrer Vergangenheit wie von ihrer Zukunft, brauchen die Flüchtlinge ein Funktelefon dringender als jeder andere. Sie wollen zu Hause mitteilen, dass sie angekommen sind. Sie müssen einen Bekannten in Europa bitten, Geld zu überweisen. Oder sie fragen bei der Filiale von Western Union nach, der internationalen Geldtransfergesellschaft unten in der Stadt, ob schon eine Summe eingetroffen ist. Zwar gibt es eine Telefonzelle am Lagereingang. Doch dort steht man ständig Schlange. Sintia kommt ohne Telefon aus. Die Jurastudentin aus Nigeria hat weder enge Angehörige in ihrer Heimat, noch kennt sie jemanden in Spanien. Ihren Entschluss, in Europa ein neues Leben zu beginnen, hat sie gefällt, nachdem sie Eltern, Schwester und zwei Brüder verloren hatte. Alle umgekommen, erzählt sie knapp, nachdem in ihrem Wohnblock in der Hauptstadt ein Feuer ausgebrochen sei. Genauer will sie nicht werden. Auch über die lange Reise durch die Sahara, auf der sie sich einer Gruppe von Männern aus Ghana angeschlossen hat, macht sie nur Andeutungen. Eine hingeworfene Bemerkung über das Gefängnis in Marokko. Die Misshandlungen durch die Polizei. Bitte keine Nachfragen. Sintia will nicht mehr zurückblicken, nur noch nach vorn. Tough. Burschikos. Woher hat sie gewusst, dass es hier im äußersten Norden Afrikas ein kleines Territorium der Europäischen Union gibt? Das hat sich längst bis in den hintersten Winkel Nigerias herumgesprochen.
Für Spanien erhofft sich die junge Frau, irgendwie eine Ausbildung in Physiotherapie und Massage finanzieren zu können. Dafür würde sie jeden Job machen. Das Jurastudium und der Traum einer eigenen Anwaltskanzlei gehören zum früheren Leben. Wer will sich in Europa schon von einer Schwarzen verteidigen lassen? Auch Sintias Vorstellungen von dem, was sie in Europa erwartet, sind vage. Eigentlich weiß sie nur, dass man dort in jedem Falle mehr verdient als zu Hause – und dass es kalt ist. Einen Vorgeschmack davon kriegt sie schon im Lager zu spüren. Jeden Morgen wacht sie durchfroren auf.
Ob es stimmt, dass die Deutschen Rassisten seien, will sie wissen. In CNN hat sie einen Film über die Jagd auf Ausländer in Rostock-Lichtenhagen vor mehr als sieben Jahren gesehen. Sie wolle sich an die Bestimmungen halten, sagt sie, und keinesfalls nach Frankreich oder England weiterreisen. Nach Deutschland schon gar nicht.
Kayode aus Kamerun hat in einem Frachtschiff, zwischen Containern versteckt, die marokkanische Küste erreicht. Er kam ganz allein zum Grenzzaun. Fünfmal scheiterte er beim Versuch, ihn unbemerkt zu überklettern. Aber wenn du 10 000 Kilometer hinter dir hast, kehrst du natürlich nicht wegen eines zwei Meter hohen Zauns wieder um. Man kehrt auch nicht um, wenn man sieben Geschwister hat, und die Eltern sind arbeitslos, und es gibt kaum Aussicht, selbst arbeiten zu können. Kayode hat es ein sechstes Mal versucht. Und geschafft.
Gegen Abend ist er zum großen Platz im Lager gekommen. Dicht an dicht stehen die Flüchtlinge. Hunderte. Hier registriert die Polizei jeden Morgen die Neuankömmlinge. Nun werden die Namen der 183 Lagerinsassen verlesen, die morgen nach Europa übersetzen dürfen. Kayode weiß, dass er nicht dabei ist.
Er ist gekommen, um von flüchtigen Freunden aus dem Lager Abschied zu nehmen.
Einzeln gehen die Aufgerufenen in die Baracke der Ausländerpolizei, um die gelbe Identitätskarte entgegenzunehmen. Es herrscht keine Ausgelassenheit, eher heilige Stille.
Da steckt mir Kayode einen Zettel zu und bittet, ihn in seine Heimat zu faxen. Es ist ein Brief an seine Großmutter. Mit großem Vergnügen beuge ich mich über dieses Stück Papier, um dir die wichtige Nachricht mitzuteilen: Endlich bin ich in Ceuta angekommen, beginnt der Flüchtling aus Kamerun sein Schreiben. Die letzten drei Wörter stehen in Großbuchstaben da: ICH BIN FREI.
Von Thomas Schmid – © DIE ZEIT, 02/2000