OIARTZUN. Ein Kalb rennt mit gesenktem Kopf auf die Schüler los, droht sie auf die Hörner zu nehmen. Doch die Kinder retten sich im letzten Moment kreischend mit einem Sprung über den Zaun. Weiter unten im Dorf findet eine Sokatira statt, Tauziehen – sechzehn junge Männer zerren an einem dicken Seil, acht in die eine, acht in die andere Richtung. Wer die gegnerische Mannschaft über eine Linie zieht, hat gewonnen. Nach den Männern sind die Frauen dran. Unter den Arkaden des Rathauses tanzt derweil eine Gruppe von Jungen und Mädchen einen Aurresku. Bald schnellt das linke Bein in die Höhe, bald kreisen die gestreckten Zehen des rechten Fußes über dem Pflaster. Es ist ein alter baskischer Tanz. Oiartzun, ein Dorf im hügeligen Hinterland von San Sebastian, feiert den Tag seines Schutzpatrons.
Über den Straßen des Ortes hängen Banderolen mit den Porträts von verurteilten Terroristen der ETA. Ist den Leuten bewusst, dass ihre Helden Leid über viele Familien gebracht haben, dass anderswo Witwen und Kinder um ihre Männer und Väter trauern? „Sie stammen von hier“, sagt der Alte auf der Bank vor der Kirche achselzuckend, „es sind unsere Söhne.“ Acht Männer allein aus Oiartzun leben hinter Gittern. Sie werden wie Märtyrer verehrt. Hunderte von Jugendlichen tanzen auf dem Platz vor dem Rathaus. Fast alle haben die Fotos der Terroristen auf ihr T-Shirt geklebt.
In Oiartzun mit seinen neuntausend Einwohnern haben die Anhänger der ETA bei den Kommunalwahlen eine absolute Mehrheit erreicht. Ihre Partei stellt den Bürgermeister. Die inzwischen verbotene Gruppierung ist Nachfolgerin der zuvor verbotenen Batasuna, die ihrerseits Nachfolgerin der ebenfalls verbotenen Herri Batasuna war – und diese war der politische Arm der ETA. Am Rathaus fordert ein riesiges Spruchband in baskischer Sprache „Gefangene nach Hause“.
Überall im Ort künden Plakate von erfahrener Repression. „Entführt – gefoltert – verschwunden“, heißt es an einer Mauer mit drei kleinen Fotos von jungen Basken und einem großen Bild, das einen hämisch grinsenden Spanier zeigt. Es ist der Ministerpräsident José Luis Zapatero, Regierungschef in Madrid. Die spanische Hauptstadt liegt im Ausland. Jedenfalls auf der Wetterkarte von Gara, der Zeitung der Linksnationalisten.
In deren Geografie ist das Baskenland doppelt so groß wie die gleichnamige spanische autonome Region. Es umfasst auch noch die Provinz Navarra und drei Provinzen im Süden Frankreichs. Zumindest auf dem Zeitungspapier ist der Traum vom vereinten Baskenland Wirklichkeit geworden. Und die Servietten, mit denen man sich in einigen Tavernen nach dem Genuss der Pintxos, der baskischen Version der spanischen Tapas, die klebrigen Finger säubert, tragen bereits das Wappen des künftigen Staates.
Ganz Spanien ist entsetzt über den Mord an zwei Polizisten auf Mallorca, verübt von der ETA vor einer Woche. Ganz Spanien? Nein! Ein baskisches Dorf ist nicht entsetzt, es verehrt die Mörder. Jedenfalls jene Hälfte seiner Bewohner, die linksnationalistisch wählt. Die andere Hälfte schweigt. Die Linksnationalisten haben ein in sich geschlossenes Weltbild, in das sich alles stimmig einfügt. Spanien wird hier als fremde Macht wahrgenommen, die den Basken verbietet, in freier Abstimmung über eine staatliche Unabhängigkeit zu entscheiden. Wer sich aber in einem besetzten Land wähnt, billigt sich das Recht auf Widerstand zu, auch auf bewaffneten.
Erst recht, wenn der fremde Staat systematisch foltert. Das wird hier in Oiartzun ständig behauptet, als sei die Franco-Diktatur nie zu Ende gegangen. Dass es tatsächlich immer wieder Fälle von Misshandlungen auf der Polizeiwache gibt, ist Wasser auf die Mühlen der ETA-Sympathisanten.
„Die ETA beschwört die Diktatur, um ihre eigene Existenz zu rechtfertigen“, sagt Eduardo Uriarte, „aber die Rede von systematischer Folter ist purer Unsinn.“ Der Mann, der einst den Kampfnamen „Teo“ trug, weiß, wovon er redet, er war selbst Mitglied der ETA – zu einer Zeit, in der wirklich jedes festgenommene Mitglied des baskischen Untergrunds gefoltert wurde. Doch hat er dem bewaffneten Kampf längst abgeschworen.
Deshalb kommt er mit Leibwache zum Gespräch in der Lobby eines Hotels in Bilbao. Uriarte ist ein Abtrünniger, ein Verräter und steht deshalb ganz oben auf der schwarzen Liste der Terroristen. Und die haben schon einige Aussteiger liquidiert. Uriarte war 1963, im Alter von 18 Jahren, der ETA beigetreten. 1968 beging die bereits neun Jahre zuvor gegründete Untergrundorganisation ihren ersten Mord – an Melitón Manzanas, dem Chef der franquistischen Geheimpolizei in San Sebastian, der wegen besonders grausamer Folterung bei Verhören berüchtigt war. Acht Monate danach wurde Uriarte festgenommen und am 28. Dezember 1970 zusammen mit fünf weiteren Angeklagten zum Tode verurteilt.
Weltweit gingen während des Prozesses gegen Uriarte und seine Genossen Millionen auf die Straße, um gegen die spanische Justiz zu protestieren. Auch der Papst war empört. Am 30. Dezember wurden die Todesurteile in lebenslängliche umgewandelt. Uriarte kam 1977, anderthalb Jahre nach dem Tod des Diktators, durch eine Amnestie frei und sah unter demokratischen Verhältnissen keinen Grund mehr, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen.
„Ich habe Manzanas nicht selbst erschossen“, sagt Uriarte, „aber ich bin mitverantwortlich, ich habe in der entscheidenden Versammlung, bei der über die Erschießung des Geheimpolizisten abgestimmt wurde, den Zeigefinger hochgehalten. Der Mord war ein Fehler. Aber noch mehr als die Hinrichtung dieses Schergen der Diktatur bereue ich, der Mystifizierung des bewaffneten Kampfes, der Verklärung des Terrorismus zu einer edlen Angelegenheit, Vorschub geleistet zu haben. Denn die Gewalt vernebelt die Gehirne.“
Uriarte hält die ETA für einen Anachronismus, für ein Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche. Dass sie noch nicht dem Müllhaufen der Geschichte überantwortet wurde wie die deutsche RAF, die italienischen Roten Brigaden oder die irische IRA, habe vor allem auch die PNV zu verantworten. Die konservative nationalistische Partei, von der sich die ETA vor 50 Jahren abgespalten hat und die das Baskenland seit Ende der Diktatur bis vor wenigen Monaten regierte, habe nie eine klare Trennlinie zur ETA gezogen, weil sie deren politisches Ziel, die Errichtung eines baskischen Staates, prinzipiell teile.
Eduardo Uriarte nimmt aber auch seine eigene Partei nicht in Schutz, die sozialische PSOE, die in Madrid und seit einigen Monaten auch im Baskenland, den Regierungschef stellt. Zapatero habe einen großen Fehler begangen, als er sich auf einen Dialog mit der ETA eingelassen habe: „Damit hat er die Terroristen, die heute schwächer denn je sind, nur aufgewertet.“
Schwächer denn je? Das lässt Elias Miner nicht gelten. „Die ETA hat nun selbst auf einer Insel zugeschlagen, der Anschlag von Mallorca war ein Zeichen der Stärke.“ Miner lebt in Hernani, einer Kleinstadt außerhalb von San Sebastian, die, aus alten Stichen zu schließen, einst ein malerischer Ort gewesen sein muss. Doch Industrialisierung und Immobilienspekulation haben ihren Tribut gefordert. Nur die trapezförmige Plaza, an der Kirche und Rathaus liegen, sowie die beiden Gassen, die in die Unterstadt führen, strahlen noch den Charme mittelalterlicher Architektur aus. Hier und da trifft man auf ein rotes Graffiti – eine Axt, um die sich eine züngelnde Schlange windet. Es ist das Emblem der ETA. Die Axt steht für Kraft, die Schlange entscheidet mit ihrem Gift über Leben und Tod. Hernani gilt als Hauptstadt des baskischen Linksnationalismus.
Elias Miner sitzt in der Taverne „Garin“. Dort hängt über dem Tresen ein Foto seines acht Jahre jüngeren Bruders Imanol: Stirnlocken, Ringe an beiden Ohren, ein jungenhaftes, sympathisches Gesicht mit femininen Zügen. Es ist eines von dreißig Fotos – er ist einer von dreißig Märtyrern aus Hernani. Imanol wurde im Jahr 2002 festgenommen und danach in mehreren Prozessen zu insgesamt über dreihundert Jahren Haft verurteilt. Das Gericht lastete ihm den Tod des baskischen Polizisten Iñaki Totorika an, der im März 2001 Opfer einer Autobombe wurde, und befand ihn für schuldig, acht Monate später – er war gerade fünfundzwanzig – einen weiteren baskischen Polizisten, Javier Miljangos, erschossen zu haben.
Kurz nach dessen Tod hatte die linksnationalistische Stadtregierung eine Resolution verabschiedet, in der es heißt: „Alle Personen haben ein Recht auf Leben, auf Freiheit und auf physische Integrität. Leider werden diese Rechte systematisch verletzt, wenn es zu politischen Konflikten kommt.“
Am Vortag hat Elias seinen Bruder im Gefängnis besucht. Er sitzt in Granada, Andalusien, 903 Kilometer von zu Hause entfernt. Die meisten der fast achthundert ETA-Häftlinge verbüßen ihre Strafe weitab ihrer Wohnorte. Weil man die Familien zusätzlich bestrafen will, sagt Elias. Um zu verhindern, dass sie aus dem Gefängnis heraus auf ihre Sympathisanten Einfluss nehmen, argumentiert die Justiz. Die Frage, wie die Eltern denn darauf reagiert hätten, dass ihr Sohn wohl dreißig Jahre Gefängnis vor sich habe, nötigt Elias ein Lächeln ab. „Unser Vater hat selbst fünfzehn Jahre gesessen“, sagt er. Seine Verhaftung am 15. Juni 1984 hat Elias als 15-jähriger Junge miterlebt. „Mein Vater hatte sich mit drei weiteren ETA-Mitgliedern in unserer Wohnung versammelt, als die Guardia Civil kam. Es wurde sofort geschossen. Die Polizei warf zwei Handgranaten und stürmte die Wohnung. Zwei ETA-Leute starben.“
Elias‘ Vater, bekannt unter dem Kampfnamen „Txalaka“, wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt, kam aber nach fünfzehn Jahren aufgrund einer schweren Lungenerkrankung frei. Vor einiger Zeit ist er gestorben. Das Datum der Schießerei mit der Polizei kennt in Hernani jeder. Denn der populäre Rockmusiker Fermín Muguruza, der seine Sympathie für die ETA nie verhehlt hat, komponierte einen Song mit dem Titel „Hernani, 15. Juni 1984“.
Es ist gewiss nicht einfach, sich von einer solchen Familiengeschichte zu befreien. Da gibt es die Erwartung der Freunde und Genossen, die Solidarität mit den inhaftierten Tätern, die zu Opfern staatlichen Terrors stilisiert werden. Die ETA werde ihre Waffen nur nach einer politischen Vereinbarung mit der Regierung niederlegen, sagt Elias Miner oder wenn sie die gesellschaftliche Unterstützung verliere.
Doch eine Vereinbarung scheint auf absehbare Zeit ausgeschlossen. Dass die ETA ihren gesellschaftlichen Rückhalt verliert, ist offensichtlich. Nach jedem Attentat gibt es Massendemonstrationen. Die Einschüchterungsstrategie der Terroristen greift immer weniger. Das Baskenland hat längst neue Wege eingeschlagen.
Ein baskischer Spitzenpolitiker der Konservativen meinte jüngst: „Eine Gesellschaft, die ungerührt die Fotos von Mördern anschaut, die an den Mauern ihrer Häuser kleben, ist eine kranke Gesellschaft.“
Krank? Es wird getanzt, gefeiert. In Oiartzun und Hernani fühlt man sich kerngesund.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 07.08.2009