In die Freiheit abgeschoben

Paris hat den Eiffelturm, Rom das Kolosseum. Aber was hat schon Madrid? Wenn Pablo Pacheco von Madrid geträumt hat, dann dachte er immer an das Bernabéu-Stadion, das 80000 Zuschauern Platz bietet, das Stadion von Real Madrid, seinem Lieblingsverein. Zum Träumen hatte er viel Zeit. Pacheco saß über sieben Jahre in kubanischen Gefängnissen. Nun ist er vierzig und zum ersten Mal im Ausland – in Madrid . Er steht vor dem riesigen Betonklotz und blinzelt gegen das Sonnenlicht an. Das Stadion sieht ziemlich genau so aus, wie er es sich ausgemalt hatte. Was er sich allerdings nicht vorstellen konnte: Allein ein Besuch der Sportanlage an spielfreien Tagen kostet 22 Euro. So viel verdient in Kuba ein Chefarzt im Monat.

Über einiges schon hat Pacheco gestaunt in den wenigen Tagen, die er nun bereits in Spanien lebt, über die U-Bahn, über die großen Kaufhäuser mit dem vielfältigen Angebot und vor allem über die Kioske mit Dutzenden verschiedenen Zeitungen. „Am meisten überrascht hat mich aber die Fernsehdebatte zwischen Zapatero und Rajoy über die Lage der Nation“, sagt er, „da bezichtigte der Oppositionsführer den Ministerpräsidenten öffentlich der Lüge. Unvorstellbar, dass in Kuba Millionen am Fernsehen miterleben, wie der Regierungschef angegriffen wird!“

Nach seinem Sportstudium hatte sich Pablo Pacheco mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen. Im Jahr 2000 trat er einer Vereinigung unabhängiger Journalisten bei. Er berichtete über kubanische Verhältnisse, nicht für die wenigen kubanischen Medien, die allesamt von der Regierung kontrolliert sind, sondern für kubanische Online-Zeitschriften und Rundfunksender in Miami, dem Zentrum des kubanischen Exils. Im Frühjahr 2003 wurden er und weitere 74 unabhängige Journalisten, Menschenrechtler und Dissidenten festgenommen. Aufgrund des 1999 ins Strafgesetzbuch eingeführten Artikels 88 wurden sie alle zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Schon zwei Wochen nach seiner Festnahme bekam Pacheco am 4. April 2003, just an seinem 33. Geburtstag, zwanzig Jahre aufgebrummt. Der Artikel 88 verbietet es, der US-Regierung und ihren Agenturen und Funktionären, Informationen zukommen zu lassen, die die Destabilisierung Kubas erleichtern und seine Unabhängigkeit gefährden. So steht es im Gesetz. Es ist ein Gummiparagraf, ein Maulkorberlass mit fataler Wirkung. Im sogenannten schwarzen Frühling von 2003 kam es in Kuba zur größten Verhaftungswelle seit Jahrzehnten.

Mit Dieben und Mördern

Und nun erlebt Kuba die größte Freilassungswelle seit der Revolution von 1959. Anfang Juli hatten Kardinal Jaime Ortega, Erzbischof von Havanna, der spanische Außenminister Angel Moratinos und der kubanische Staats- und Regierungschef Raúl Castro die Freilassung sämtlicher Opfer des schwarzen Frühlings ausgehandelt. Damals waren noch 52 von ihnen in Haft. Im Wochenrhythmus entlässt das kubanische Regime seither Häftlinge. Am vergangenen Wochenende landeten wieder vier Dissidenten in Madrid. Die letzten 16 werden aller Voraussicht nach noch im Oktober freikommen. Raúl Castro, pragmatischer als sein kranker Bruder Fidel, hofft auf eine Normalisierung der seit jener Verhaftungswelle angespannten Beziehungen zur Europäischen Union.

Die über sieben Jahre Gefangenschaft haben Pacheco nicht verbittert. Er sinnt nicht auf Rache. Er sagt: „Ich war mit Dieben, Räubern und Mördern zusammen, und ich habe viel Solidarität erfahren. Ich habe in Abgründe gesehen, und ich weiß jetzt mehr über menschliche und moralische Werte.“

Seine Worte hören sich abgeklärt an. Gewiss hat ihm das Schreiben geholfen, die Jahre relativ unbeschadet zu überstehen. Pablo Pacheco hat während seiner Gefangenschaft einen „realistischen Roman“ verfasst, wie er sagt, ziemlich autobiografisch. Noch ist er nicht ganz fertig damit. Noch sucht er einen Verleger für seinen Text. Kriminelle Mitgefangene haben Kapitel für Kapitel für ihn herausgeschmuggelt. „Wir Politischen wurden ja bis auf die Haut ausgezogen, bevor uns Verwandte besuchen durften.“

Vor allem aber hat Pacheco nach den ersten anderthalb Jahren, in denen er in Einzelhaft gehalten wurde, weiterhin seinen Beruf ausgeübt. Er informierte regelmäßig über das Geschehen im Gefängnis – in seinem Blog „voz tras las rejas“ – „Stimme hinter Gitter“. Dafür nutzte er eine Lücke im Beobachtungsregime aus. Zwar durften ihn nur alle drei Monate zwei Familienmitglieder zwei Stunden besuchen und nur alle fünf Monate seine Frau für drei Stunden – aber er durfte pro Monat hundert Minuten telefonieren. So diktierte er seine Einträge Freunden in Havanna, die die telefonisch übermittelten Berichte mit dem Tonband aufnahmen, sie abschrieben, auf einen Speicherstick luden und von einem internationalen Hotel aus per E-Mail an Freunde in die USA sandten. Von dort aus gelangten sie auf die website www.voztraslasrejas.com. In seinen Berichten informierte Pacheco über Misshandlungen an Gefangenen, die „wie Ratten behandelt“ würden, über Selbstverstümmelung, um Haftverschonung durchzusetzen. „Ich selbst wurde nie geschlagen“, sagt er, „vor den Politischen hatten sowohl die gewöhnlichen Gefangenen als auch die Wärter einen gewissen Respekt.“

Weshalb man ihn telefonieren ließ, weiß Pablo Pacheco nicht. Vielleicht versprach sich die Geheimpolizei Informationen über Vorfälle zwischen den Gefangenen, vielleicht war ihr sein Blog schlicht egal, weil in Kuba nur eine winzige Minderheit Zugang zum Internet hat und diese Elite ohnehin nicht erfahren will, was sich in Kubas Gefängnissen abspielt.

Nach Madrid ist Pacheco gekommen, um ehemalige Mithäftlinge zu besuchen. Er selbst wohnt inzwischen in Marbella an der Costa del Sol, wo er mit 507 Euro vom Roten Kreuz, das zusätzlich die Wohnungsmiete bezahlt, sich, seine Frau und den zwölfjährigen Sohn durchbringen muss. Aber Pablo Pacheco klagt nicht. Er wird es schaffen. Irgendwie.

Nach Florida übers Meer



Die Industriezone von Vallecas gehört bestimmt zu den hässlichsten Ecken der spanischen Hauptstadt. Lagerhallen, Plattenbauten, leere Straßen. Das Viertel ist umzäunt von Bahngleisen und Autobahnen. Hier in dieser seelenlosen Einöde gibt es ein kleines Hotel. Zu Gast ist ein Pärchen von Rucksacktouristen, die der Preis von 26,90 Euro pro Nacht angelockt hat, einige afrikanische Flüchtlinge aus Kamerun und Nigeria, die vom Roten Kreuz betreut werden, und zwölf Kubaner mit ihren Familien.

Nelson Molinet ist am Freitag direkt aus Kuba eingetroffen. Der 46-Jährige gehört zu jenen, die sich zunächst weigerten auszufliegen. Auch er hat mehr als sieben Jahre Gefängnis hinter sich. Er wollte frei sein, ja, aber in Kuba bleiben. Schließlich gab er nach und willigte in die Expatriierung, die Abschiebung aus der Heimat, ein. Vielleicht wegen seiner zwölfjährigen Tochter, die in einem schmucklosen Raum des Hotels mit einem Afrikaner Tischfußball spielt und der er ein besseres Leben wünscht, als er selbst es hatte. Vielleicht wegen seiner kranken Mutter, die seinen dementen Vater im Rollstuhl schiebt. Er möchte sich dazu nicht äußern.

Molinet war Lokomotivführer, bevor ihn die dramatischen Ereignisse im Sommer 1994 aus der Bahn warfen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stellte Russland die Kubahilfe faktisch ein. Auf der Insel kam es zu einer Versorgungskrise. Es fehlte an Energie. Die Produktion brach weitgehend zusammen. Im Nahverkehr ersetzten Pferdekutschen die Omnibusse, Strom gab es nur einige Stunden am Tag, und viele Leute litten an Hunger oder an Vitaminmangel. Da brach zum ersten Mal seit dem Sieg der Revolution eine offene Unruhe aus. Tausende zogen über den Malecón, die Uferpromenade von Havanna, und schrien: „Freiheit! Freiheit!“ Es wurden Steine geworfen, Autoscheiben zertrümmert, Barrikaden errichtet. Nelson Molinet war dabei. „Es dauerte einige Stunden, bis es einem massiven Polizeiaufgebot und Stoßtrupps von Jungkommunisten gelang, den Protest zu ersticken.“

Eine Woche danach öffnete Kuba seine Grenzen und gab den Weg übers Meer frei. „Das Regime wollte Dampf ablassen“, sagt Molinet, „zusammen mit fünf Freunden bestieg auch ich ein Boot, um über die hundert Kilometer breite Meerenge nach Florida zu entkommen. Doch nach drei Tagen und drei Nächten kehrten wir zurück. Die See war stürmisch, und wir hatten Angst.“ Über 30000 Kubaner, die zum Teil auf abenteuerlichen Flößen und in selbstgezimmerten Booten aufbrachen, wurden von der US-Küstenwache auf hoher See gerettet. Tausende ertranken in den Fluten.

Damals verdiente ein Lokomotivführer umgerechnet etwa vier Euro im Monat. Molinet sattelte um und stellte Fingerringe und anderen Schmuck her, was ihm deutlich mehr Geld einbrachte. 1998 trat er der unabhängigen Gewerkschaft demokratischer Arbeiter Kubas bei, eine geheime Organisation, die seiner Aussage zufolge landesweit 2000 Mitglieder zählt. Schon bald berichtete er kubanischen Exilmedien von den Hungerlöhnen auf der Insel und vom Diebstahl öffentlichen Eigentums als Überlebensstrategie. Ein klarer Verstoß gegen Artikel88 des Strafgesetzbuches, befand das Gericht im schwarzen Frühling und verurteilten ihn zu zwanzig Jahren Gefängnis.

Zwanzig Jahre mochte seine Ehefrau nicht warten. Sie ging eine neue Beziehung ein. Kann man es ihr verdenken? Nelson Molinet sagt: „Sie hat mich verraten.“ Sobald er in Spanien oder vielleicht in den USA eine Arbeit gefunden hat, will er ihr trotzdem Geld überweisen. „Sie ist ja immerhin die Mutter meiner Tochter.“ Molinet verabschiedet sich. Sein Jetlag macht ihm zu schaffen, und er muss endlich seine Reisetasche auspacken.

Adolfo Fernández, 62, hatte Glück. Ihn hat das Rote Kreuz nicht in der Tristesse der Industriezone von Vallecas untergebracht, sondern in einem Drei-Sterne-Hotel mit angeschlossenem Wellnesszentrum in Móstoles, einer Vorstadt von Madrid. Auch ihm hat der Zusammenbruch der kubanischen Wirtschaft nach dem Ende der Sowjetunion die Augen geöffnet. „Als ich 1993 meinen Geburtsort im Westen der Insel aufsuchte, fragte ich nach meinen Freunden und erfuhr, dass sehr viele an einer Augenkrankheit litten. Offenbar durfte darüber nicht geredet werden.“ Als dann aber durchsickerte, dass landesweit über 50000 Kubaner von dieser Krankheit betroffen waren, konnte auch die Partei nicht mehr schweigen. In der Granma, dem Parteiorgan, wurde behauptet, das Augenleiden sei vermutlich Folge von Alkoholmissbrauch und übersteigertem Tabakkonsum, vielleicht habe auch die CIA biologische Waffen eingesetzt.

Die Ärzte wussten es besser. Es handle sich um Entzündungen des Sehnerves, vermutlich auf einen Mangel an Vitamin B zurückzuführen, sickerte aus medizinischen Kreisen durch – doch Mangelernährung und Hunger durfte es in Kuba offiziell nicht geben.

„Ich war damals Dolmetscher und Übersetzer für englisch-spanisch, im staatlichen Dienst“, erzählt Adolfo Fernández, „ich berichtete meinen Kollegen von dieser seltsamen Krankheit und empörte mich darüber, dass das Gesundheitsministerium die Ursachen vertuscht statt die Leute aufzuklären.“ Es dauerte nicht lange, und man benötigte ihn nicht mehr als Dolmetscher bei Empfängen oder Treffen mit ausländischen Gästen.

Als Fernández 1994 zum kubanischen Exilsender Radio Martí Kontakt aufnahm, wurde er aus der Partei ausgeschlossen und verlor seinen Job. „Ich hatte nichts mehr, verkaufte meine alte Hose und meine neue Lederjacke für zwanzig Dollar und überlebte damit wieder einen Monat.“ Der Übersetzer versuchte sich als unabhängiger Journalist, berichtete immer öfter für Exilmedien, um etwas Geld zu verdienen. Er trat auch einer Gruppierung von Dissidenten bei, die eine offene demokratische Debatte forderte. Im Jahr 2002 beantragte er ein Ausreisevisum, um beim Europäischen Parlament in Straßburg an einem Seminar über eine Demokratisierung Kubas von innen teilzunehmen. Erfolglos.

Im schwarzen Frühling 2003 wurde Adolfo Fernández zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Geschlagen wurde er nur einmal – von einem Mithäftling, einem Kriminellen. „Er war für die Disziplin zuständig und verprügelte mich, weil ich einen Streit zwischen zwei Gefangenen schlichten wollte. Da hatte ich in seine Hoheitsrechte eingegriffen.“ Fernández sagt es lächelnd. Aber man sieht ihm an, dass ihm die sieben Jahre Gefängnis sehr zugesetzt haben. Die schrecklichen hygienischen Bedingungen, die schlechte Ernährung, der Stress, all das hat sich in seinen Gesichtszügen verewigt.

Der Anruf des Kardinals

Während seiner Haft litt er an einem Lungenemphysem, einer Nierenzyste, einer Prostataerkrankung, Bluthochdruck, Arthritis und einem Bandscheibenvorfall. „Ich betete jeden Tag“, sagt der gläubige Katholik, „Gib mir Kraft, Herr, dass ich diesen Tag überstehe.“

Letztlich habe ihn seine Frau gerettet, sagt Fernández. Julia, die mit ihm ausgereist ist, gehörte zu den „Damen in Weiß“, die über die Jahre hinweg jeden Sonntag in weißer Kleidung still demonstrierten, um die Gefangenen des schwarzen Frühlings nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen.

Mitte August rief Kardinal Jaime Ortega, der Erzbischof von Havanna, Adolfo Fernández im Gefängnis an, um sich zu erkundigen, ob er bereit sei, ins Ausland auszureisen. So hatte er es bei den anderen Gefangenen, deren Freilassung bevorstand, auch gehalten. Wenige Tage danach wurde der Häftling, begleitet vom Staatssicherheitsdienst, zum Flughafen gebracht, wo seine Frau Julia schon auf ihn wartete. Es war seine erste Reise ins Ausland. Eine Reise ohne Rückflugticket, aber nicht ohne Wiederkehr, wie er hofft. Von seinen Freunden in Havanna, wo er sein halbes Leben verbracht hatte, konnte er sich nicht verabschieden. Es wurde ihm nicht erlaubt.

copyright: Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 30.09.2010

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