TUNIS. Das Herz der Revolution schlägt auf dem Kasbah-Platz am oberen Ende der Medina, der Altstadt von Tunis, Zwischen dem Dar El Bey, einst Residenz des türkischen Statthalters, heute Amtssitz des Ministerpräsidenten, und dem Finanzministerium – dem „Diebstahlministerium“, wie eine Plakette auf der Mauer verkündet – kampieren seit zwei Wochen an die tausend Personen. Nachts ist es empfindlich kalt. Tagsüber regnet es oft. Die Menschen liegen eng zusammen, in dicke Decken gewickelt. Vor einem Zelt sind sechs Fotos ausgehängt. „Es sind sechs Märtyrer“, erklärt Afif pathetisch. Der 25-jährige Telekommunikationstechniker hat ein Diplom in der Tasche, ist arbeitslos und schlägt sich als Taxifahrer durchs Leben. Wie viele hier hat er sich in eine tunesische Fahne gehüllt. Auch er war auf der Demonstration, bei der vor einer Woche sechs Menschen erschossen wurden.
„Seien wir realistisch! Verlangen wir das Unmögliche!“ Che Gueveras berühmtes Diktum, Leitspruch der Rebellen vom Pariser Mai ’68, ziert die Fassade des Finanzministeriums. Ansonsten ist das auf Plakaten und Mauern am häufigsten verwendete Wort „dégage!“ – tritt ab, zieh Leine, verpiss dich! Das wiederum hat sich als sehr realistische Forderung erwiesen. „Ben Ali, dégage!“ hatten am 14. Januar Zehntausende auf dem zentralen Boulevard von Tunis geschrien. Noch am selben Abend suchte der verhasste Präsident das Weite und setzt sich nach Saudi-Arabien ab. Afif war dabei. Die Jasmin-Revolution hatte gesiegt, sie war aber noch lange nicht zu Ende. Sechs Wochen lang hieß es danach „Ghannouchi, dégage!“ Dann trat auch der Ministerpräsident von der Bühne ab, der schon zwölf Jahre lang dasselbe Amt unter Ben Ali innehatte. Afif freute sich.
Die Ironie der Geschichte: Ben Alis Nachfolger Fouad Mebazaâ ist 77 Jahre alt und Mohammed Ghannouchi wurde durch den 84-jährigen Béji Caid-Essebsi ersetzt. Den jugendlichen Rebellen wurden Opas vorgesetzt. Gewiss, beide haben staatsmännisches Format, gelten als integer und verfügen über langjährige Erfahrung in Staatsapparaten. Das gibt auch Afif zu und klagt dann verzweifelt: „Aber das ist doch unsere Revolution!“
Wem gehört die Revolution? Allein der „Kasbah“, den tausend Personen, die seit zwei Wochen die Regierung erfolgreich unter Druck setzen, weil sie notfalls auch 100000 Menschen mobilisieren? Vor dem Sportpalast von El Menzah, einem noblen Außenviertel von Tunis, sieht man das anders. Hier demonstriert seit Montag täglich zwei Stunden die „schweigende Mehrheit“, von der Ghannouchi in seiner Rücktrittsrede gesprochen hatte. Es sind etwa gleich viel Leute wie auf dem Kasbah-Platz. Doch ist es eine andere Gesellschaft. Viele tragen Krawatte. Demonstriert wird zwischen 17 und 19 Uhr. Vorher arbeitet man schließlich. Man will ja ein neues Tunesien aufbauen. Das wollen die Jugendlichen auf dem Kasbah-Platz gewiss auch, bloß haben die meisten von ihnen eben keine Arbeit.
„Die ‚Kasbah‘ spricht nicht für das Volk“, sagt der Buchhalter Mohamed Hachicha, einer der Organisatoren der „schweigenden Mehrheit“, die nicht mehr schweigen will. „Wir maßen uns ja auch nicht an, für das Volk zu sprechen.“ Die Handelsdirektorin Ghaya Elfessi, die ebenfalls zum Organisationskomitee gehört, meint: „Ben Ali war ein Dieb, aber Ghannouchi hat versucht, im Stillen für das Volk das Beste zu tun.“ Unter den Demonstranten hält einer ein selbst gemaltes Plakat hoch: „Weg mit Jrad“ (dem Gewerkschaftschef), „Weg mit Hama Hammami“ (dem Chef der Kommunistischen Partei), „Weg mit den Extremisten“, „Weg mit dem sogenannten Komitee zum Schutz der Revolution“. In diesem haben sich linke Parteien, die Anwaltskammer, die Gewerkschaft und die moderate islamistische Ennahda zusammengeschlossen. „Ich warne vor dem Terror der Straße“, hat ein anderer auf sein Jackett geheftet. Aber es gibt auch versöhnlichere Gesten. Eine Frau, ganz in Schwarz gekleidet und auf Bleistiftabsätzen, hält lächelnd ihren Pappkarton vor die Kamera, auf dem steht: „Kasbah, ich liebe dich – trotz unserer Meinungsverschiedenheiten.“
Sind es die alten Kräfte, die Funktionäre der stillgelegten Staatspartei RCD, die sich hier versammeln, wie Afif behauptet hatte, die Verlierer der Jasmin-Revolution? Dieselben Kräfte, die die Habenichtse, die armen Teufel, bezahlten, damit sie die friedlichen Massendemonstrationen vom vergangenen Wochenende sprengten und in der Innenstadt kleine Läden zertrümmerten? Dass nicht die „Kasbah“ randalierte, sondern von wem auch immer gesteuerte Jugendliche, die die Polizei zum Teil wohlwollend gewähren ließ – daran gibt es inzwischen keine vernünftigen Zweifel mehr. Wie schon am Tag nach der Jasmin-Revolution im Schutz der Ausgangssperre Milizen des alten Regimes plünderten und für Terror sorgten, so versuchen auch jetzt obskure Kräfte immer wieder, Unruhe zu schüren, um bei der Bevölkerung die Sehnsucht nach Ordnung zu mobilisieren. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sie nicht nur in der „schweigenden Mehrheit“ aktiv mitmischen, sondern ihre Spitzel auch in der „Kasbah“ haben – als Provokateure, die zur Gewalt anstacheln.
Auf dem Kasbah-Platz ist man sich des Problems bewusst. Der sympathische, chaotische Haufen, der hier zusammengekommen ist, bemüht sich sehr, das Bild eines Bürgerschrecks loszuwerden. Mehrere Putzkolonnen sind permanent mit Schaufel und Besen unterwegs. Seit unbekannte Leute mit Messern aufgetaucht sind, tastet ein Ordnungsdienst auch schon mal verdächtige Personen auf Waffen ab. Und ein Informationskomitee vermittelt Passanten und den wenigen Touristen, die sich hierher wagen, die Forderungen der „Kasbah“: Rücktritt der gesamten provisorischen Regierung, Auflösung des Parlaments und Errichtung einer parlamentarischen Republik. Nachdem der Präsident am Donnerstag Wahlen für eine Verfassungsgebende Versammlung für den 24. Juli angekündigt hat, will man das zweiwöchige Sit-In nun mit einer Riesenfete beenden. „Wir hören nicht auf, wir geben nicht auf“, sagt Afif, „wir suspendieren den Protest nur.“
Die Jasmin-Revolution droht die tunesische Gesellschaft zu spalten. Hier der Kasbah-Platz, dort der Platz vor dem Sportpalast. Auf der einen Seite die Angst, dass das Rad der Geschichte wieder zurückgedreht wird, die alten Kräfte letztlich obsiegen und alle Müh und Courage umsonst waren. Auf der andern Seite die Angst, dass Tunesien im Chaos versinkt, dass die Wirtschaft Einbußen erleidet, dass Touristen und Investoren ausbleiben. Diese Spaltung der Gesellschaft ist wohl unvermeidlich, in einer Revolution erst recht. Aber in solchen Zeiten wittern natürlich die alten Kräfte, die Verlierer der Revolution, die Konterrevolutionäre ihre Chance. Und die Situation ist in Tunesien umso brenzliger, als am 17. März die Amtszeit des vom Verfassungsrat eingesetzten Übergangspräsidenten Fouad Mebazaâ abläuft.
„Dann tut sich ein juristisches Vakuum auf“, sagt Iadh Ben Achour. Der agile Rentner war einst Dekan der juristischen Fakultät der Universität Tunis und auch Mitglied des Verfassungsrats, der für Ben Ali ein neues Grundgesetz ausarbeiten sollte. Doch konnte er sich mit seinen liberalen Vorstellungen damals nicht durchsetzen und verließ 1992 das Gremium. Heute leitet er die noch von Ghannouchi eingesetzte „Kommission für politische Reformen und einen demokratischen Übergang“. Sie soll den Weg weisen, wie man von einer Diktatur zur Demokratie findet. „Spätestens am 17.März wird der Präsident zurücktreten oder ankündigen, dass er fortan sein Amt nicht mehr unter dem Dach der Verfassung ausübe“, prophezeit Ben Achour. „Er wird die Verfassung aufheben und ein Gremium einrichten, das Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung vorbereitet.“ Diese werde provisorisch als Parlament fungieren und eine Regierung wählen sowie eine neue Verfassung ausarbeiten und verabschieden. „Danach“ sagt Iadh Ben Achour, „haben wir die zweite Republik.“
Vier Monate lang – von Mitte März bis Mitte Juli – wird Tunesien also mit dem Horror vacui leben müssen. Keine Verfassung, kein Parlament, keine irgendwie demokratisch legitimierte Regierung. Eine Revolution war in der alten Verfassung eben nicht vorgesehen. Fallstricke gibt es genug. Wer wird über den Wahlmodus – Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht – entscheiden? Und es gibt auch Alternativen zu Ben Achours Road Map. Die Linkspolitiker Nejib Chebbi und Ahmed Brahim, die einzigen beiden Vertreter von Parteien im Regierungskabinett, sind am Dienstag zurückgetreten. Sie hätten vermutlich lieber als ersten Schritt zum Übergang einen Präsidenten gewählt – und wären wohl selbst gern Präsident geworden.
Chebbi, Brahim, Ben Ali, Ghannouchi, Ben Achour, Mezabaâ, Caid-Essebsi – von allen Politikern, die oben erwähnt wurden und die heute im Zentrum der öffentlichen Debatte stehen, ist keiner unter 60Jahre alt. Die Diktatur hat das Entstehen einer alternativen jüngeren politischen Elite verhindert. Und die jungen Menschen auf dem Kasbah-Platz haben keinerlei politische Erfahrung, schon gar nicht in der Verwaltung. „Sie sind in gewisser Weise naiv“, sagt Nouri Bouzid und meint es gar nicht abwertend, „sie haben keine Taktik, das macht sie für Manipulationen anfällig.“ Bouzid, der mit seinem Hut, dem Stoppelbart und den Zahnlücken den Charme eines gealterten Bohémien ausstrahlt, ist einer der bekanntesten Filmregisseure Tunesiens. Er hat viel Sympathien für diese rebellische Jugend und hofft, dass sie nie vergisst, wofür sie gekämpft hat. „Wir haben ihr die freie Luft zu verdanken, die wir heute atmen, ohne sie würden wir noch immer tuscheln in den Cafés, statt offen zu diskutieren.“
Bouzid weiß dies zu schätzen. Er selbst hätte sich fünf Jahre Gefängnis gespart, wenn Tunesien in den Siebzigerjahren so frei gewesen wäre wie heute. Wegen unbotmäßiger politischer Betätigung kam er unter Ben Alis Vorgänger Bourguiba hinter Gitter. Doch brechen lassen hat er sich nie. In seinen späteren Filmen sparte er kein Tabu aus. Er machte Folter, Sextourismus, Pädophilie zum Thema. Das brachte ihm den Ärger der Zensur und Todesdrohungen ein. Einige Filme konnte er nur im Ausland zeigen. Auch sein letzter Film war in Tunesien zunächst verboten. Er zirkulierte nur auf DVD, tausendfach raubkopiert. Dann aber erhielt „Making of – Kamikaze“, gedreht 2006, die Goldene Tanit, den ersten Preis des Filmfestivals von Karthago. Tanit ist die Schutzgöttin des antiken Karthago, und der Film durfte öffentlich gezeigt werden.
Es ist ein prophetischer Film. Bahta, ein junger Mann, Breakdancer, kriegt Ärger mit der Polizei, die Tänzer nicht mag. Er sieht keine berufliche Perspektive mehr und will schließlich in einem Boot übers Meer nach Sizilien fliehen. Kein Job, kein Geld, keine Zukunft im eigenen Land und keine Möglichkeit, nach Europa auszureisen: Das ist für einen Großteil der tunesischen Jugend die bittere Realität. Da staut sich vieles an. Es ist eine riesige Frustration, die die Jasmin-Revolution genährt hat. Der Auslöser war Mitte Dezember die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, einem arbeitslosen Informatiker, der sich als Gemüsehändler durchschlug. Die Polizei hatte seine Ware auf die Straße geworfen, weil er das Bestechungsgeld nicht bezahlen wollte. Auch Bahta, die Hauptfigur in „Making of – Kamikaze“, verbrannte sich selbst, wenn auch aus andern Gründen: aus religiöser Verblendung.
Lotfi Abdelli, 40, der den jungen Bahta spielt, hat mit seinem schwarzem Basecap, dem schwarzen Halstuch und dem Einwochenbart das Outfit eines frechen Ganoven. Blick und Gestik sind fahrig, als ob er ständig verfolgt würde. Noch immer geht er ungern allein in die Innenstadt von Tunis. Aus Vorsicht. Er ist sehr bekannt, wegen seiner Rollen in drei Filmen Bouzids und vor allem wegen seiner Facebook-Präsenz. Drei Tage vor der Flucht des Diktators postete er: „Ben Ali, du bist wie ein Joghurt. Verfallsdatum abgelaufen. Wegwerfen. Dégage!“ Heute lacht er darüber. Damals ist er für vier Tage unsichtbar geworden – aus Angst vor den omnipräsenten Polizeispitzeln. „Es gibt sie immer noch“, sagt er, „sie sind nur auf Tauchstation gegangen.“
Abdelli, Sohn von Analphabeten, hat nur sieben Jahre die Schule besucht, dann wurde er Tänzer wie Bahta, sein Alter Ego. Sein Vorbild ist die deutsche Tänzerin und Choreografin Pina Bausch. Die spielte zwar in einer anderen Liga. Aber immerhin hatte er in Paris vor einer Woche eine Performance vor 11000 Zuschauern. Noch mehr allerdings staunt er über die neue freie Atmosphäre in seiner Heimat: „Vor drei Monaten hätte man jeden für verrückt erklärt, der gesagt hätte, die Zustände würden in drei Monaten so sein, wie sie jetzt sind. Wir hatten gar nicht genug Zeit, zu verstehen, was ablief.“ Und dann sagt er: „Wir haben die Freiheit errungen, aber noch keine Gebrauchsanweisung dafür.“
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 05.03.2011
© Berliner Zeitung