Die Zeit des Schweigens ist vorbei

TUNIS. Dicker Qualm steigt noch immer aus der ausgebrannten Apotheke. Links davon ein Café, rechts ein Laden, der Sanitäranlagen verkauft – oder man muss wohl sagen: verkauft hat. Dann die Konditorei, ein Kiosk, ein Café. Alles zerschlagen und geplündert. Trotz der Ausgangssperre, die die Regierung am Mittwochabend verhängt hat. In Ettadhamin, einem riesigen Vorort am westlichen Stadtrand von Tunis, stehen Tausende auf der Hauptstraße, die hier draußen einfach Route Nationale 130 heißt. Sie schauen sich die Folgen der vergangenen Nacht an, in der in der tunesischen Hauptstadt das erste Todesopfer der Unruhen zu beklagen ist. Einem Mann wurde in den Kopf geschossen. Bislang gab es Tote nur in der Provinz.

Tunesien wird nie mehr sein, was es einmal war. Man hört es in Tunis immer wieder. Niemand weiß, wie es weitergeht. Zwar ziehen am Donnerstagabend nach Inkrafttreten der Ausgangssperre Tausende von Anhängern des Präsidenten Ben Ali johlend, singend und Parolen schreiend von der Polizei völlig unbehelligt über die Avenue Habib Bourguiba, den Prachtboulevard von Tunis; zeitgleich verspricht Ben Ali in einer Fernsehansprache eine Reihe von Zugeständnissen; er deutet an, eventuell auf eine weitere Amtszeit zu verzichten, und er räumt ein, dass es ungerechtfertigte Gewalt der Polizei gegeben hat. Aber ein Zurück wird es trotzdem wohl nicht mehr geben nach all dem, was passiert ist in diesen Tagen.

Das Wichtigste: Die Menschen haben die Angst verloren. „Früher“, sagt Alya, die in einem Telefonladen arbeitet, „tuschelten wir im Straßencafé, sobald sich jemand an den Nebentisch setzte, heute reden wir einfach weiter.“ Früher drucksten die Menschen herum und liefen nach ein paar freundlichen Sätzen einfach weg, wenn man sie nach ihrer Meinung fragte. Auf der Route Nationale 130 in Ettadhamin kann man sich heute kaum retten vor Frauen und Männern, die ihre Geschichte loswerden wollen.

„Die Polizisten sind am Mittwochnachmittag einfach abgezogen“, berichtet Ahmed neben einem zertrümmerten Kiosk, vor dem Hunderte Lotto- und Toto-Zettel verstreut auf dem Pflaster liegen. „Sie hatten Angst. Wir waren viel mehr, sie hatten keine Chance.“ Trotziger Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Ahmed ist Diplomarchitekt, 24 Jahre alt und arbeitslos. Ob er in der Nacht zum Donnerstag auch geplündert hat, will er nicht sagen. Ein Siegeslächeln ersetzt jede Antwort.

„Es waren Diebe, Clochards, Ganoven“, meint Sana, die alles ganz schlimm findet, „aber die Polizei hat hier noch viel schlimmere Sachen gemacht; die Polizei darf hier ungestraft einfach alles. Und hat nicht die Regierung als Strafe für den Aufstand die Preise für Joghurt, Eier und Mehl drastisch erhöht?“ Trotzdem, was hier passiert ist, kann die junge Frau nicht gutheißen: „Wie kann man bloß die Läden kleiner Leute vernichten?“ Sana arbeitet als Bankangestellte am anderen Ende der Stadt. Aber wie so viele macht sie heute einfach frei. Es fahren kaum Busse und Bahnen, die meisten Läden sind geschlossen, die Leute bleiben in diesen Tagen zu Hause.

Im Straßencafé neben der ausgebrannten Apotheke sitzen zwei Dutzend Männer, alle in abgetragenen Hosen und Jacken, keine einzige Frau. „Setzen Sie sich“, sagt Ridha und lädt mit freundlichem Gestus zur Noisette, einer Haselnuss ein, womit hier ein starker Kaffee, mit ein wenig Sahne versetzt, gemeint ist. „Die zerstörten Läden“, behauptet der 55-jährige Händler, „gehörten fast alle dem früheren Bürgermeister Sadek Jaraya. Er hat sie Strohmännern überlassen und sahnt bis heute ab. Das wissen alle. Hier direkt an der Hochspannungsleitung durfte ja niemand bauen – jedenfalls niemand ohne seine Erlaubnis.“ Die Männer nicken.

Bis 2004 hatte Ridha seinen eigenen Laden. Er verkaufte Autoersatzteile. Jeden Monat kam ein Mann vorbei, der fürs Ministerium arbeitete, und Ridha musste ein hübsches Sümmchen abdrücken, das bald immer schneller erhöht wurde. Eines Tages konnte er nicht mehr bezahlen, und die Polizei schloss seinen Laden.

Sein Schicksal erinnert an jenes von Mohamed Bouazizi. Der arbeitslose diplomierte Informatiker hatte sich am 17. Dezember in Sidi Bouzid, einer Stadt im Zentrum des Landes, öffentlich angezündet. Die Polizei hatte zuvor sein Gemüse beschlagnahmt, das er auf der Straße verkaufte – ohne Lizenz, weil er das Schmiergeld nicht mehr zahlen konnte. Sein tragischer Protest war der Funke für die tunesische Revolte, die bis heute andauert.

Der Protest, der von Städten im Landesinneren ausging, wo Dutzende von Demonstranten erschossen wurden, hat längst die Hauptstadt erreicht. Getragen wurde er anfangs vor allem von einer gut ausgebildeten Jugend, der der Zugang zum Arbeitsmarkt immer mehr verschlossen bleibt, und die auch – anders als die Generation ihrer Väter – nicht auswandern kann. Doch die Unruhe hat längst breite Gesellschaftsschichten erfasst, und sie richtet sich inzwischen vor allem gegen die hochkorrupte Mafia, die die politische Macht innehat. „Diebe von Karthago, haut ab“, heißt es an zahlreichen Mauern. In der Nähe der Ruinen der antiken Handelsstadt residiert Präsident Ben Ali, der Tunesien seit mehr als 23 Jahren mit eiserner Hand regiert, nachdem er als Innenminister und Geheimdienstchef 1987 seinen Vorgänger Habib Bourguiba, den ersten Präsidenten des unabhängigen Tunesiens, amtsärztlich für senil erklärt und unter Hausarrest gestellt hatte.

Noch mehr als gegen Ben Ali selbst richtet sich die Volkswut gegen seine Entourage – allen voran gegen seine Frau Leila Trabelsi, die als besonders raffgierig gilt. Sie richtet sich gegen deren Bruder Belhassen und gegen seinen Schwiegersohn Sakhr el Matri. Belhassen Trabelsi hat sich die Banque de Tunisie unter den Nagel gerissen. Matri hat mit staatlicher Hilfe die Bank Zitouna aufgebaut und sich die Lizenzen für den Import einer Reihe von Automarken – Volkswagen, Audi, Porsche, Seat und Kia – gesichert.

Auch die Telefongesellschaften werden vom Clan des Präsidenten kontrolliert. Imed Trabelsi, ein Neffe der First Lady, dessen Auslieferung Frankreich wegen des Diebstahls einer Jacht verlangt, wurde Bürgermeister von La Goulette, einer Vorstadt von Tunis, in der ein neuer, gewiss einträglicher Frachthafen gebaut wird.

All dies ist in Tunesien kein Geheimnis. Nur verlieren die Medien darüber kein Wort. Noch nicht. In anderen Bereichen aber wird das Schweigen inzwischen gebrochen. In relativ nüchternen Worten wird über die Ereignisse dieser Tage berichtet. Titel aus der Tageszeitung Le Temps von gestern: „Auseinandersetzungen und neuer Selbstmordversuch in Sidi Bouzid“. „Mehrere Banken in Nabeul niedergebrannt“. „Zwei Tote und acht Verletzte in Douz“. „Plünderung in Kebili, ein Polizeikommissar angegriffen“. „Souk Lahad: Gymnasium angezündet“. „Ein Toter und sieben Verletzte in Tozeur“. „Deguech: Drei Tote, mehrere öffentliche Gebäude in Brand gesetzt“. „Ein Toter in Thala, die Armee kontrolliert die Situation“.

Es scheint, dass auch die Zeitungsleute die Angst verlieren. Jahrzehntelang haben sie brav Regierungskommuniqués nachgeplappert. In der vergangenen Woche aber forderten hundert Journalisten Pressefreiheit, und gestern setzte Le Temps zwei bemerkenswerte Zitate auf die erste Seite. Die Theaterdirektorin Raja Ben Ammar, die am Dienstag bei Protesten von Polizisten zusammengeschlagen wurde, warnt: „Dieses Blutvergießen muss aufhören, unser Volk ist kultiviert und verdient Besseres.“

Die bekannte Schauspielerin Jalila Baccar greift in der Zeitung sogar die Journaille direkt an: „Ich habe gegenüber den tunesischen Journalisten keine Erklärungen abzugeben, aber ihr solltet euch schämen.“ Das sind völlig neue Töne, und man darf gespannt sein, ob sich die Redakteure vom Regime zurückpfeifen lassen.

Auch Ben Ali schlägt neue Töne an. Die Arroganz der Macht scheint wie weggeblasen zu sein. Jetzt wird Süßholz geraspelt. Er verstehe die jungen Tunesier, die Arbeit wollten, sagt er in einer TV-Ansprache, er fühle ihr Leiden, er drückte sein „Beileid mit allen Opfern, die bei den jüngsten Ereignissen gefallen sind“ aus und forderte die verantwortlichen Stellen auf, das Recht auf friedliche Demonstrationen zu garantieren und den Bürgern gegenüber keine Gewalt anzuwenden.

Das war am Mittwoch. Aber während am Donnerstagnachmittag dieser Artikel in einem Hotel in der Innenstadt von Tunis geschrieben wird, sind von draußen Schüsse zu hören. Die Straße ist in Wolken von Tränengas gehüllt. Polizisten kurven zu zweit auf Motorrädern – der Mann auf dem Sozius mit Schlagstock.

In Ettadhamin, dem aufrührerischen Vorort von Tunis, macht ein böser Verdacht die Runde. Hat sich die Polizei wirklich bloß aus Angst zurückgezogen? Oder ließ man mit Absicht zu, dass Läden in Brand gesetzt und geplündert wurden? Einige vermuten sogar, Spitzel der Polizei – sie sind in Tunis allgegenwärtig – hätten kräftig mitgezündelt, um im Land Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung zu mobilisieren. „Wenn ihr zurückkommt, kommen wir wieder“, hat jemand auf die Mauer eines ruinierten Geschäftes gesprüht. Wer ist „ihr“, wer ist“wir“? Und was passiert, wenn die, die zurückkommen, auf die, die wiederkommen, stoßen?

Zwischen den geplünderten Geschäften trottet ein Hirte mit einem Dutzend Schafen über den Gehsteig. Er wirkt wie eine Gestalt aus einer andern Welt. Was geht ihn dieser ganze Aufruhr an?! All die Leute, die gekommen sind, die Folgen der vergangenen Nacht zu besichtigen, scheinen ihn nicht zu interessieren.

Sana, die Bankangestellte, die alles ganz furchtbar findet, bekennt, sie habe an diesem Morgen geweint. „Trotzdem“, sagt sie, „es bleibt mein Tunesien, es tut mir leid, dass ich Ihnen kein schöneres Land präsentieren kann.“

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, 14.01.2011

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