Exodus der Gastarbeiter

RASS AJDIR. Nur Männer. Überall nur Männer. Männer in Jeans oder Dschellabah, dem arabischen Männerrock, Männer mit Baseball-Mütze und Männer mit Kefyia, dem um dem Kopf geschlungenen Tuch. Die einen schlafen auf dem steinigen Boden, die andern hasten mit Koffern und schweren Bündeln zu Bussen. In Rass Ajdir, dem tunesisch-libyschen Grenzübergang in der Wüste, sind allein am Sonnabend über 12000 Ägypter eingetroffen, der Hölle Gaddafis entflohen.

Abdelkalim Mantawi sitzt auf einem Mäuerchen, einen schweren Koffer neben sich. Der beleibte 51-jährige Koch ist vor anderthalb Stunden angekommen. 30 Jahre hat er in Zauia, einer Stadt 30 Kilometer westlich von Tripolis, gearbeitet, aber am Sonnabend packte ihn die Angst. Da tauchten plötzlich Männer auf und machten Jagd auf Tunesier und Ägypter. „Es waren Schwarze, aus dem Tschad und aus Niger, angeheuert von Gaddafi“, berichtet der Flüchtling, „ich habe sieben Tote gesehen, alle mit Schusswunden.“ Von den 5000 Ägyptern in seiner Stadt, vermutet er, sei höchstens ein Drittel geblieben.

Mantawi bestieg mit fünf Koffern das Auto eines Libyers, der ihn und weitere vier Ägypter zur Grenze fuhr. Schon bei der ersten Kontrolle am Stadtausgang nahmen ihm die Polizisten vier Koffer ab. Und sämtliches Geld, immerhin umgerechnet 25 000 Euro. Jetzt sitzt er völlig mittellos hier und will nur noch Hause, zu seiner Frau und den beiden Töchtern, denen er monatlich Geld überwiesen hat. Wie alle hier. Die Familien haben sie alle in ihrer Heimat zurückgelassen.

„Viele Libyer hassen die Ägypter“

Aber immerhin muss der Koch nicht hungern. Mitten in dieser riesigen Menge gestrandeter Menschen haben drei Gymnasiasten einen langen Tisch aufgestellt. Sie schmieren Brote. Einer schneidet sie auf, der zweite bestreicht sie mit einer Paste aus Thunfisch und scharfer Harissa und der dritte verteilt sie. Noureddine Seif-Ennasr, der Schuldirektor, und ein Lehrer schauen zu. Als sie in Medenine, einer Stadt über hundert Kilometer entfernt, vom Schicksal der Ägypter erfuhren, haben sie in den Klassen Geld gesammelt, vierhundert Brote und ein Dutzend Eimer mit Paste gekauft und sind mit einem Kleinbus losgefahren. „Da musste man doch helfen“, sagt Seif-Ennasr, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Auch Nasr Mahrus, 45, steht um ein Brot an. Er schlottert in seinem dünnen Gewand mit Kapuze. 20 Jahre lang hat er in Tripolis auf dem Bau gearbeitet. Er gehört der christlichen Minderheit der Kopten an. „Seit Gaddafis Rede ans Volk“, behauptet er, „hassen viele Libyer die Ägypter.“ Nachdem fast alle seine Freunde gegangen waren, kriegte auch Mahrus Angst vor den Spitzeln und Söldnern des Regimes. Nun wartet er auf einen Bus, der ihn auf die tunesische Ferieninsel Djerba bringen soll. Dort landen die ersten Flugzeuge aus Ägypten, die Flüchtlinge umsonst nach Hause fliegen. Aber wie viele Flugzeuge braucht man für die 12000 Menschen, die allein vorgestern die Grenze überquert haben?

Etwa anderthalb Millionen Ägypter arbeiteten in Libyen. Nun sind viele nach Tunesien geflohen.

Etwa anderthalb Millionen Ägypter arbeiteten in Libyen, wo die Löhne doppelt so hoch waren wie in ihrer Heimat. Die meisten fanden in der Cyrenaika, dem Osten des Landes mit der Großstadt Bengasi, Arbeit. Viele von ihnen sind über die Grenze ins benachbarte Ägypten geflüchtet. Wer jedoch in Tripolitanien, dem Westteil mit der Hauptstadt Tripolis wohnt, dem bleibt zur Zeit nur der Weg nach Tunesien. Bis Mitte vergangener Woche brauchten Ägypter für die Einreise in den westlichen Nachbarstaat aber ein Visum. Doch schließlich einigten sich die beiden Länder, die vor Kurzem erst ihre autokratischen Herrscher verjagten, die Bürger des anderen Staates für zehn Tage visumsfrei aufzunehmen. Seither kommen in Rass Ajdir täglich mehr Ägypter an, Tunesier hingegen kaum mehr. Von den 60000, die in Libyen arbeiteten, ist die Hälfte geflohen.

„Der Weg ist nicht ungefährlich“, sagt Hatem Thabet, der als Grenzpolizist Informationen über die Lage auf der anderen Seite sammelt, „Zuara, die nächste libysche Stadt, 60 Kilometer entfernt, ist zwar unter Kontrolle der Aufständischen, aber die Grenzpolizei, hundert Meter von hier, steht loyal zu Gaddafi.“ Irgendwo dazwischen verläuft eine unsichtbare Front. Dass Zuara als erste Stadt Tripolitaniens von Gaddafi abfiel, erstaunt Thabet nicht. „In Zuara wohnen fast nur Berber, kaum Araber, und die Berber, vernachlässigt vom Regime, waren schon immer gegen die Zentralregierung in Tripolis.“

An der Grenze kümmert sich vor allem die tunesische Armee um die Ägypter. Sie ist hier sehr beliebt, weil sie in den entscheidenden Tagen der Jasmin-Revolution Mitte Januar den Schießbefehl verweigert und dieser damit den Sieg gesichert hat. Soldaten haben in einer riesigen Zollhalle ein Matratzenlager eingerichtet. Hunderte von Flüchtlingen erholen sich hier von den Strapazen und vom Stress der Flucht. Viele schlafen. Auf dem Weg nach Ben Guerdane, der ersten Stadt auf der tunesischen Seite, werden alle Ägypter in einem Militärcamp von Armeeärzten untersucht.

Für den Transport vom Grenzübergang vorbei an weidenden Dromedaren nach Ben Guerdane sorgt das lokale Revolutionskomitee der Stadt, das sich nach der Flucht des ins Exil gejagten Präsidenten Zine El-Abidine Ben Ali gebildet hat. Es hat sein Büro im Kulturzentrum. Dort sind auch 441 Ägypter untergebracht. Das Komitee verteilt die Flüchtlinge auf sechs weitere Aufnahmezentren: das Jugendzentrum, den Sportpalast und Schulen. „In den letzten Tagen kamen täglich etwa 2000 Ägypter in der Stadt an, Tendenz steigend“, berichtet der Telefontechniker Miledi Bechir, der dem Revolutionskomitee angehört, „und wir versuchen, sie möglichst schnell nach Djerba zu bringen, wo schon die ersten Flugzeuge aus Ägypten landen.“ Private Busgesellschaften stellen ihre Fahrzeuge zur Verfügung. Ärzte und Krankenschwestern kümmern sich um Kranke. Auf der Bühne des Theatersaals werden Thunfisch- und Käsesandwiches verteilt. Alles kostenlos. Die Einwohner der Stadt bringen täglich Mineralwasser, Milch, Brote, Käse, Harissa vorbei.

Einer schwimmt gegen den Strom

Bloß 4000 Seelen zählt Ben Guerdane. Und nun sind noch halb so viele Flüchtlinge hinzugekommen. Zehntausend weitere warten an der Grenze. „Jeder hilft, wie er kann“, sagt Bechir, „die ganze Stadt zeigt ihre Solidarität mit den Ägyptern.“ Dabei haben es die Menschen hier nicht leicht. Die Stadt lebt vom Handel. Überall sind kleine Märkte. Fast alles stammt aus Libyen: Tomaten, Käse, Schuhe, Handys, Benzin. Aber der Grenzhandel ist zusammengebrochen. Dutzende von Geldwechslern sitzen einsam in ihren Ständen, die die Hauptstraße säumen. Und das Benzin, das vor einer Woche noch am Straßenrand überall in Plastikflaschen für 17 Dinar (85 Cents) pro Liter angeboten wurde, kostet nun 27 Dinar und liegt damit knapp unter dem staatlich festgesetzten Preis.

Alle hier warten auf eine Beruhigung der Lage. Auch ein Mann, der seit fünf Tagen schon täglich zehn Stunden im Internetcafé sitzt und vor allem die Nachrichten durchforstet. Seinen Namen will er nicht nennen. Er ist Libyer und will dahin, wo vorgestern 12000 hergekommen sind – in seine Heimat. Er wolle den Sturz des Tyrannen vor Ort erleben, sagt er. Aber noch ist ihm die Einreise zu gefährlich.

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 28.02.2011

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