Wie das Leben so spielt

In Deutschland-West war Konrad Adenauer schon fast ein Jahr lang Bundeskanzler, in Deutschland-Ost war Walter Ulbricht gerade einen Tag an der Macht, in Korea herrschte seit einem Monat, in Indochina seit vier Jahren Krieg, als ich 1950 in der friedlichen Schweiz geboren wurde, präziser: im Kanton Aargau.  In dessen Hauptstadt Aarau, einer Hochburg der bürgerlichen Revolution, war 1798 auf Geheiß Napoleons, dessen Truppen in die Schweiz eingefallen waren, die Helvetische Republik ausgerufen worden. Aarau wurde zur ersten Hauptstadt der modernen Schweiz und blieb es vier Monate lang. Diese Revolutionsgeschichte hatte für mich Folgen. Der Aargau war der einzige Schweizer Kanton, in dem noch in den 1960er Jahren Schüler im zarten Alter von zwölf Jahren verpflichtet wurden, einmal in der Woche in eine militärische Uniform zu schlüpfen, zu exerzieren und scharf zu schießen. Einmal im Jahr, am Stadtfest, paradierten wir uniformiert durch die Straßen der Stadt. Der umgehängte Karabiner reichte mir bis zu den Fersen. Die Mädchen warfen uns Rosen zu.

Das Gymnasium besuchte ich in Aarau. Es war dieselbe Schule, in der Albert Einstein 74 Jahre vor mir seine Matura (Abitur) gemacht hatte. In Mathematik hatte er eine 6, die Bestnote, ich nur eine 5. Der Mann, der später die Relativitätstheorie begründen sollte, schrieb in seinem Französisch-Aufsatz (in Französisch hatte er eine 3, ich eine 5), er neige zu „abstraktem und mathematischem Denken“, er habe einen „Mangel an Phantasie“ und überhaupt kein „praktisches Talent“. Er schrieb dies in ziemlich fehlerhaftem Französisch. Praktisches Talent hatte ich auch keines, aber Französisch konnte ich nun wirklich besser als der große Einstein.

Und so schrieb ich mich 1970 für ein Romanistik-Studium an der Universität Zürich ein, studierte französische, italienische und spanische Literatur und Linguistik. Wahrscheinlich wäre ich Französisch- und Italienischlehrer geworden, wenn die Schweiz keine Armee gehabt hätte. Ich beugte mich zunächst dem Gesetz und trat die Rekrutenschule (militärische Grundausbildung) an. Völlig entnervt von blödsinniger Disziplin und stumpfsinnigen Befehlen desertierte ich nach drei Monaten anlässlich eines Manövers im tief verschneiten Engadin. Ein bisschen war mir, als ob Einstein auch mich gemeint hätte, als er sagte: „Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde.“

Die Flucht vor der Fahne trug mir eine Gefängnisstrafe von sieben Monaten ein. Der Prokurator (militärische Staatsanwalt) hatte nur sechs gefordert. Den Zuschlag hatte ich mir mit der Unverfrorenheit verdient, mit der ich den Richtern, alle in Uniform, erklärte, dass mir ihr Urteil völlig schnuppesei. Ich war ein Flegel, Rebell, geprägt von 1968, dem Protest gegen den Vietnamkrieg, der Suche nach einer besseren Welt. Ein Drittel meiner Strafe wurde mir auf Bewährung erlassen, vier Monate und drei Wochen saß ich in einem Gefängnis zwischen Liechtenstein und dem Säntis-Gebirge ab. Ich habe Mörder, Sexualverbrecher, einen meineidigen Rechtsanwalt, Zuhälter und jede Menge Ganoven kennengelernt. Es war eine interessante Zeit – viel anregender und aufregender als die Kaserne.

Kaum in Freiheit, fuhr ich 1972 nach Berlin, nach West-Berlin. Die eingemauerte Stadt war ein Versuchslabor der Rebellion. Sie fieberte. Überall Diskussionen, Initiativen, Demonstrationen – jedenfalls in dem Milieu, in dem ich verkehrte. Hunderte von Wohngemeinschaften ersetzten vielen die Familie, die weit weg in Bayern, in Hamburg oder an der Ostsee wohnte. Viele, vor allem auch Studenten, waren ja nach Berlin gekommen, um sich dem Militärdienst zu entziehen. West-Berlin war noch unter der Kontrolle der westlichen Alliierten. Es gab amerikanische, britische und französische Soldaten in der Stadt, aber keine deutschen.

Im Frühjahr 1973 schrieb ich mich an der Freien Universität für ein Soziologie-Studium ein. Vorlesungen wie in Zürich gab es nur wenige. Zwischenprüfungen keine. Ich besuchte Seminare, gearbeitet wurde vor allem in Gruppen. Man diskutierte und stritt. Ich las mehr als je zuvor. Es war ein sehr freies Studium, das ich 1978 mit einem Diplom abschloss.

Ein Jahr später stieß ich zur gerade gegründeten, damals linksradikalen „Tageszeitung“ (taz), bei der ich mein journalistisches Handwerk lernte – zunächst als Redakteur für Westeuropa, später für Lateinamerika. Zuletzt, 1995 bis 1996, war ich Chefredakteur. Es folgte ein Jahr als Auslandsreporter der „Wochenpost“, einer früheren DDR-Zeitung, deren Redaktion damals aber bereits zur Hälfte aus Wessis und zur Hälfte aus Ossis bestand und von einem Westdeutschen geleitet wurde. Nachdem die „Wochenpost“ eingestellt wurde, war ich zum ersten Mal „Freelancer“, freischaffender Journalist und schrieb für zahlreiche deutsche, österreichische und Schweizer Tages- und Wochenzeitungen. Nach einem Intermezzo (2000-2001) bei der damals noch linkliberalen „Weltwoche“ (Zürich) war ich wieder „frei“, bis ich (2005-2007) bei „Facts“ (inzwischen eingestelltes Schweizer Nachrichtenmagazin) in die Auslandsredaktion einstieg. Von 2008 bis 2015 arbeitete ich dann bei der „Berliner Zeitung“ als Leitender Redakteur und Auslandsreporter, bis ich – im November 2015 – das „reguläre Renteneintrittsalter“ erreichte. Seither bin ich wieder „freischaffender Journalist“ und bleibe es, solange ich Aufträge kriege und glaube, etwas zu sagen zu haben.

Während der über vier Jahrzehnte journalistischer Tätigkeit habe ich vorwiegend als Auslandsreporter gearbeitet – vor allem in Lateinamerika, auf dem Balkan und im Maghreb, aber auch in Italien, Spanien, der Schweiz, Israel, im Libanon, Armenien… In vielen Ländern war ich auf Dolmetscher angewiesen, die mir oft auch Kontakte vermittelt und Ideen gegeben haben. Ihnen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Stellvertretend für sie alle seien hier Saliha Kurtović (Bosnien), Patrick Pelissier (Haiti), Leman Kamberi (Kosovo) und Moez Jemai (Tunesien) genannt. Eine eher kleine Auswahl der Reportagen, die ich in all diesen Jahren verfasst habe, stehen auf dieser Website. Ich wünsche eine erbauliche Lektüre.