CASABLANCA. Kein Tag, an dem er nicht in Wort und Bild auf der ersten Seite vorkommt. Ein durchschnittlicher Artikel in der marokkanischen Tagespresse beginnt ungefähr so: „Seine Majestät, König Mohammed VI., Gott möge ihm beistehen, empfing gestern…“ oder „Seine Majestät König Mohammed VI., begleitet von seiner Königlichen Hoheit Rachid Moulay…“ (sein jüngerer Bruder) oder „Seine Majestät, König Mohammed VI. und Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Lalla Salma…“ (seine Ehefrau – eine Königin kennt die marokkanische Dynastie nicht). Aber es gibt in der marokkanischen Presselandschaft auch einige Ausnahmen. Eine, die zweifellos interessanteste, heißt TelQuel“. Just vor den Wahlen am Wochenende konnte das erfrischend freche, intellektuell anspruchsvolle Magazin, das durch seriöse Recherchen besticht, seinen zehnten Geburtstag feiern.
TelQuel – auf deutsch „SoWie“ – gehört zur breiten Palette französischsprachiger marokkanischer Blätter. „Marokko so, wie es ist“, heißt es im erklärenden Untertitel des Magazins – und der ist Programm. Die Redakteure wollen das reale Marokko zeigen. Es geht um Korruption und Sex, um einen allmächtigen König und eine frustrierte Jugend, um den reichen Makhzen, wie der marokkanische Machtklüngel genannt wird, und die Elendsviertel der Großstädte.
Im Editorial der neuesten Ausgabe beschwert sich Chefredakteur Karim Boukhari über eine besondere Art der Zensur. Ein marokkanischer Film, desen Titel „Ein Film“ heißt, wurde in Marokko aus dem Verkehr gezogen, weil in mehreren Städten Kinobesucher demonstrierten, denen einige Szenen des Streifens zu freizügig schienen. „Das gab es in Marokko noch nie“, schreibt Boukhari empört, „eine freiheitstötende Minderheit setzt sich an die Stelle des Polizeistaates, um der Mehrheit zu verbieten, sich einen Film anzuschauen. Unglaublich.“ Und als Gegengift ließ er den marokkanischen Schriftsteller Abdellah Taia eine Doppelseite über Aliaa Magda Elmahdy schreiben, jene mutige ägyptischer Bloggerin, die ihren eigenen Körper nackt ins Internet (http://arebelsdiary.blogspot.com/2011/10/nude-art.html?zx=2d9166ad6825ba22) gestellt hat. Auch das Foto, das im arabischen Raum millionenfach angeklickt wurde, publiziert TelQuel. Brustwarzen und Scham sind im Heft mit äußerst knappen Balken geschwärzt – als ob die Zensur zugeschlagen hätte.
Aber eine Zensur gibt es in Marokko nicht mehr. Nur die berühmten „roten Linien“. Klar gezogen sind sie nicht. Aber wer sie überschreitet, kriegt es mit dem Staatsanwalt zu tun. Gott, König und Vaterland sind die heikelsten Themen. Die Apostasie, der Abfall vom richtigen Glauben, ist zwar in Marokko nicht strafbar. Aber „wer verführerische Mittel anwendet, um den Glauben eines Muslim zu erschüttern“, riskiert nach dem Gesetz eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren. Auch wer die territoriale Einheit des Vaterlands infragestellt – indem er behauptet, die 1975 völkerrechtswidrig von Marokko annektierte Westsahara gehöre nicht zu Marokko – bekommt es mit dem Richter zu tun.
Höllisch aufpassen muss aber vor allem, wer sich mit dem König befasst. Denn der fühlt sich schnell beleidigt. Und Majestätsbeleidigung ist in Marokko ein Straftatbestand, worauf selbst viele Reiseführer die Touristen hinweisen. Zwar konnte man in TelQuel lesen, dass Mohammed VI., der sich gern als „König der Armen“ präsentiert, jährlich 40 Millionen Euro für Reisen ausgibt, eine Million für Nahrung der Tiere des Palastes und sechs Millionen für die Erneuerung des 3.000 Karossen zählenden königlichen Fahrzeugparks. Aber als TelQuel vor zwei Jahren – zusammen mit der französischen Tageszeitung Le Monde – eine Umfrage über die Popularität des Monarchen in Auftrag gab und die Resultate publizierte, wurde die komplette, bereits gedruckte Auflage beschlagnahmt und eingestampft.
„2011 war bisher das einzige Jahr, in dem wir uns nicht mit Staatsanwälten herumschlagen mussten“, sagt Chefredakteur Boukhari, „das haben wir wohl dem ‚arabischen Frühling’ zu verdanken.“ Dessen Protagonist ist in Marokko die „Bewegung 20. Februar“, die für Demokratie und Freiheit auf die Barrikaden geht. Im Mai rief sie zu einem Marsch zu einem Gebäude in Témara auf, einem Ort wenige Kilometer außerhalb der Hauptstadt Rabat. Dort unterhält der Geheimdienst mehreren Zeugen zufolge ein klandestines Gefängnis, in dem gefoltert wird.
Das hatte im April auch Rachid Niny, Chefredakteur von Al Massae, der größten Tageszeitung Marokkos. Er wurde umgehend inhaftiert und sitzt bis heute im Gefängnis. Die Anklage wirft ihm einen „Angriff auf die Sicherheit und Integrität der Nation und der Bürger“ vor. „Ich bin mit Ninys Linie nicht einverstanden, Niny stört mich, Niny lässt mir fast jeden Tag die Haare zu Berge stehen, und ich gehöre zudem zu einem seiner zahlreichen ‚Opfer’“, schrieb Boukhari damals im Editorial von TelQuel, „aber ich wiederhole: was Niny geschieht, ist ungerecht und schwerwiegend gleichermaßen. Was ihm geschieht, berührt mich und macht mir gleichzeitig Angst. Man muss ihn verteidigen, ihn unterstützen.“
Boukhari weiß, dass er der nächste sein kann.
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 28.11.2011
© Berliner Zeitung