Es herrscht dicke Luft zwischen Frankreich und der Türkei. Die französische Nationalversammlung hat sich dafür ausgesprochen, die Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe zu stellen. Das Votum des Senats steht noch aus. Aber Ankara hat bereits den türkischen Botschafter aus Paris zurückgepfiffen und die militärische Zusammenarbeit ausgesetzt. Bis heute hat noch jede türkische Regierung bestritten, was unter seriösen Historikern längst geklärt und dokumentarisch gut belegt ist: Die jungtürkische Regierung des Osmanischen Reiches hat während des Ersten Weltkrieges die systematische Ausrottung der Armenier betrieben. Umstritten ist allenfalls noch, ob „nur“ 800.000 oder über eine Million Angehörige der ältesten christlichen Staatsreligion erschlagen, erdrosselt, gekreuzigt, erschossen oder auf die Todesmärsche in die mesopotamische Wüste geschickt wurden.
Deportation und Ermordung
Die damalige Regierungspartei der Jungtürken, „Ittihat ve Terakki“ („Freiheit und Fortschritt“), hatte die Geheimorganisation „Teskilat Mahsusa“ („Spezialorganisation“) gegründet und sie mit der Deportation und Ermordung der Armenier beauftragt. Diese stellte Mordbanden zusammen, die im wesentlichen aus Angehörigen aufgeputschter kurdischer Stämme, freigelassenen Verbrechern und Flüchtlingen aus dem Balkan und dem Kaukasus rekrutiert wurden.
Das Deutsche Reich war in den Völkermord verstrickt, deutsche Militärs sind mitverantwortlich, tragen Mitschuld an den Massakern. Auch dies ist gut dokumentiert. Drei Wissenschaftler haben sich hierbei bleibende Verdienste erworben: der armenisch-amerikanische Soziologe Vahakn Dadrian, Doyen der Erforschung des Genozids, der türkische Historiker Taner Akcam, der die Protokolle des Istanbuler Kriegsverbrecherprozesses (1919-1921) systematisch erforscht hat, und der deutsche Journalist Wolfgang Gust, Herausgeber der einschlägigen Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes.
Drei Monate nach Kriegsausbruch war das Osmanische Reich 1914 auf Seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns in den Krieg eingetreten. Etwa 800 deutsche Offiziere waren integraler Bestandteil der türkischen Armee, gehörten ihrem Kommando und ihrem Generalstab an.
Der preußische Generalmajor Fritz Bronsart von Schellendorff, Generalstabschef des osmanisches Feldheeres und enger Berater des jungtürkischen Kriegsministers Enver, begrüßte die Deportationen der Armenier, die „neunmal schlimmer im Wucher wie die Juden“ seien. Den US-Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau, der auf die Rolle der Deutschen in der Türkei hinwies, beschimpfte er als „Juden“ und „Gesandten der ‚Ver-un-reinigten‘ Staaten von Nordamerika“.
Der preußische General Colmar Feiherr von der Goltz, oberster Ausbilder der türkischen Armee, hatte schon 1913 vorgeschlagen, die christlichen Armenier zu deportieren, um ein homogenes muslimisches Bollwerk gegen die ebenfalls christlichen Russen zu schaffen. Oberst Otto von Feldmann, deutscher Operationschef im osmanischen Großen Hauptquartier, bekannte, „dass auch deutsche Offiziere – und ich selbst gehöre zu diesen – gezwungen waren, ihren Rat dahin zu geben, zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete […] von Armeniern freizumachen“.
Der deutsche Konteradmiral Wilhelm Souchon, der die türkische Flotte befehligte, vermutete 1915, dass drei Viertel der Armenier „bereits bei Seite geschaffen“ wurden. In seinem Tagebuch notierte er: „Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat.“
Und Korvettenkapitän Hans Humann, Marineattaché an der deutschen Botschaft zu Konstantinopel, meinte lapidar: „Die Armenier wurden jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“
„Mit dem Messer wurden alle erledigt.“
Deutsche Offiziere waren auch direkt an Massakern beteiligt oder unterzeichneten Befehle, die zur Deportation führten. So ließ der Artillerieoffizier Graf Eberhard Wolffskeel von Reichenberg, der dem Generalstab angehörte, im Herbst 1915 das armenische Viertel der ostanatolischen Stadt Urfa beschießen.
Oberstleutnant Sylvester Boettrich, Direktor der türkischen Feldeisenbahn, unterzeichnete den Befehl, der die Entlassung und Deportation tausender Armenier zur Folge hatte, die beim Bau der Bagdad-Bahn eingesetzt waren. Ein Schweizer Apotheker, Augenzeuge eines Massakers an armenischen Bahnarbeitern, berichtete: „Mit dem Messer wurden sie alle erledigt.“
In einem Fall aber stoppte ein deutscher Offizier die Deportationen. General Otto Liman von Sanders, Chef der deutschen Militärmission in der Türkei, war gerade in Smyrna, dem heutigen Izmir, als dort die Armenier abgeführt werden sollten. Er verbot die Deportation. Die türkische Provinzregierung gehorchte ihm und missachtete einen Befehl von Innenminister Talaat. Liman von Sanders ließ sich jedoch weniger von humanitären als von kriegsstrategischen Gründen leiten. Er befürchtete, dass nach dem Abzug der Armenier und der ebenfalls christlichen Griechen, der Mehrheitsbevölkerung der Stadt, die Versorgung seiner Truppen zusammenbrechen würde.
Schweigen statt Fragen
Während in der Regel die deutschen Militärs die Deportationen unterstützten, hieß diese unter den sieben deutschen Konsuln, Vizekonsuln und Wahlkonsuln im Osmanischen Reich, nur ein einziger gut. Auch der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Paul Graf Wolff-Metternich, protestierte gegen die Deportationen, bis er auf Druck vor allem von Marineattaché Humann, der ihn einen „armenischen Botschafter“ schimpfte, abberufen wurde.
In Deutschland selbst wurde alles getan, um Berichte über die Massaker an Armeniern zu unterdrücken. Die Journalisten wurden vom Kriegspresseamt angewiesen, über die armenische Frage zu schweigen. Und als der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht im Parlament Fragen über „die Ausrottung der türkischen Armenier“ stellte, unterbrach ihn der Reichstagspräsident mit der Glocke.
Zwei Deutsche aber versuchten, die Öffentlichkeit nach Kräften zu alarmieren. Der Reiseschriftsteller Armin T. Wegner bereiste als Sanitätsoffizier Ost-Anatolien und kam bis Aleppo. Er traf in der Wüste auf Deportationszüge und Armenien-Lager. Über ausländische Botschaften versuchte er, Beweismaterial nach Deutschland und in die USA zu schleusen, bis er von Deutschen in der Türkei festgenommen und auf eine Cholera-Station versetzt wurde. Seine Fotografien gehören bis heute zu den wichtigsten Beweisen für den Genozid.
Späte Genugtuung
Auch der evangelische Theologe und Orientalist Johannes Lepsius schlug Alarm. Er hatte schon nach den Pogromen 1894 bis 1896, denen zehntausende Armenier zum Opfer fielen, in Deutschland ein Hilfswerk gegründet. Während des Ersten Weltkriegs versuchte er, die Politiker aufzurütteln. Aber die Liberalen beschworen in der Regel die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft und die Sozialdemokraten wollten den Burgfrieden mit dem Kaiser nicht gefährden. Als ihm gar strafrechtliche Verfolgung drohte, führte er seinen Kampf vom Ausland aus weiter.
Spät – nach Kriegsende – widerfuhr Lepsius doch noch Genugtuung. Das Auswärtige Amt beauftragte ihn, Aktenmaterial über die Haltung der deutschen Regierung in der Armenierfrage zu veröffentlichen. Seine „Sammlung diplomatischer Aktenstücke“ wurde 1919 veröffentlicht.
Lepsius, so konzediert der Wolfgang Gust, habe mehr als jeder andere zur Aufklärung des Völkermords beigetragen. Allerdings wies der Journalist dem Theologen nach, dass in den Dokumenten seiner Sammlung brisante Passagen, die auf die Mitschuld Deutschlands am Genozid verwiesen, ausgelassen oder manipuliert sind – ob durch das Auswärtige Amt selbst oder mit Zustimmung Lepsius’, der wohl nur Kopien der Akten hatte, ist unklar.
Lepsius selbst sagte, er habe den Grundsatz befolgt, „bei der Auswahl nur den Zweck der Entlastung Deutschlands von türkischen und internationalen Verleumdungen“ im Auge zu behalten. Das war offensichtlich auch das Anliegen seiner Auftraggeber.
© Frankfurter Rundschau
Anmerkung: In der in der Frankfurter Rundschau und – gekürzt – in der Berliner Zeitung publizierten Version wurde der der preußische Generalmajor, der Generalstabschef des osmanischen Feldheeres war, fälschlicherweise Schellenberg genannt. Er heißt Schellendorff. Und der zitierte Schweizer Apotheker heißt nicht Jakob Künzler. Künzler heißt der Schweizer Diakon in Urfa, der über den Apotheker berichtet hat. Beide Fehler wurden hier korrigiert.
Thomas Schmid, Frankfurter Rundschau, 29.12.2011