„Hallo! Erinnerst du dich? Ich bin’s. Der Tod. Morgen bist du dran. Oder hast du etwa gedacht, du würdest tausend Jahre leben? Reg dich nicht so auf! Noch bleibt dir doch ein ganzer Tag…“ In der Kapelle der „Santísima Muerte“, des „Heiligsten Todes“, brennen zahlreiche Kerzen. Inschriften und Bilder lehren den Betrachter das Gruseln. Vor dem Sanktuarium steht – in Lebensgröße – ein schwarz gekleideter Mann mit Sense, neben ihm sitzt eine Frau in weißem Rock, beide mit Totenschädel. Hierher, so heißt es, kommen die Killer, um zu beten, bevor sie töten. Die „Santísima Muerte“, ist die Schutzherrin der Drogenbarone und der von ihnen gedungenen Mörder.
Die kleine Kapelle steht unter einer Autobahnbrücke wenige Kilometer außerhalb von Nuevo Laredo. Jeden Tag durchschwimmen in der Grenzstadt im mexikanischen Norden Migranten den Río Bravo (oder Río Grande, wie er in Texas heißt), um ihr Glück auf der andern Seite zu versuchen. Doch der gerade mal hundert Meter breite Fluss führt manchmal gefährliche Wirbel. 30 Flüchtlinge ertrinken im Jahresdurchschnitt allein in Nuevo Laredo. An einem langen Zaun just bei der Brücke im Stadtzentrum bringt eine humanitäre Organisationen für jede angespülte Leiche ein einfaches Holzkreuz an: „Al migrante desconocido“ – „Dem unbekannten Migranten“. Der Kreuzweg hat schon eine beachtliche Länge.
Doch mehr Todesopfer als der unberechenbare Fluss fordern die Kugeln der Killer der beiden Drogenkartelle, die sich hier den Platz streitig machen: das Golf-Kartell von Osiel Cárdenas, der seit drei Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis einsitzt, und das Sinaloa-Kartell von Joaquín Guzmán alias „El Chapo“, der im Jahr 2001, versteckt unter schmutziger Wäsche, aus dem Knast geflüchtet ist und seither gesucht wird. Im vergangen Jahr sind allein in Nuevo Laredo im Drogenkrieg 165 Menschen gestorben, fast ebenso viele waren es allein in der ersten Hälfte dieses Jahres.
Dass Nuevo Laredo zum heißesten Pflaster an Mexikos Nordgrenze geworden ist, hat mit der „Puente Comercial del Mundo“ zu tun, die wenige Kilometer außerhalb der Stadt über den Río Bravo nach Texas führt. Die „Welthandelsbrücke“ hat ihren Namen durchaus verdient. Es ist der Grenzübergang mit dem größten Warenverkehr auf dem amerikanischen Kontinent überhaupt. Täglich fahren im Durchschnitt rund 6.000 Lastwagen über die Brücke, von denen 50 bis 60 einer genauen Kontrolle unterzogen werden. Experten schätzen, dass inzwischen 70 bis 90 Prozent des in den USA konsumierten Kokains über Mexiko eingeführt werden. Im Drogenhandel zwischen den beiden amerikanischen Subkontinenten haben das Golf-Kartell und das Kartell von Sinoloa die einst mächtigen kolumbianischen Kartelle von Cali und Medellín weitgehend verdrängt.
Recherchen über Drogenhandel, Abrechnungen zwischen Killerbanden und Verwicklungen der Polizei ins kriminelle Milieu sind eine hochriskante Angelegenheit. Das musste „El Mañana“, die größte Tageszeitung von Nuevo Laredo erfahren, die sich immer weit vorgewagt hatte. Vor zwei Jahren schon war ihr Herausgeber den Kugeln gedungener Mörder zum Opfer gefallen. Im vergangenen Februar nun schossen sich zwei schwer bewaffnete vermummte Gestalten den Weg an der Rezeption vorbei zur Redaktion frei. Der Journalist Jaime Orozco überlebte schwer verletzt. Er liegt seither querschnittsgelähmt im Krankenhaus.
Sein Redaktionskollege Raimundo Ramos war fünf Jahre lang Polizeireporter. Er hat über mehr als 400 Morde berichtet. „Die allermeisten Opfer waren nicht unbeteiligte Zivilisten“, resümiert er, „sondern selbst im Drogenmilieu aktiv. Sie wurden regelrecht hingerichtet.“ Im Rahmen von Abrechnungen oder zur Einschüchterung würden inzwischen allerdings auch Verwandte von Angehörigen gegnerischer Banden getötet. Im Dezember hatte Ramos die Schnauze voll von Entführungen, Folter und Mord und bat um seine Versetzung in ein friedlicheres Ressort. Sie wurde ihm verweigert, offenbar weil er zum unverzichtbaren Experte für Kartelle und Killerbanden geworden war. Nach den Schüssen auf seinen Kollegen Orozco nahm er sich eine Auszeit von einem Jahr. „Ich habe eine Familie“, begründet er die Entscheidung, „wenn ich erschossen werde, zahlt niemand für sie.“
Es gibt keinen sicheren Ort in Nuevo Laredo.Im Februar drang ein Killerkommando ins Krankenhaus ein und erschoss einen 17-Jährigen, der wenige Stunden zuvor nach einem Mordanschlag operiert worden war. Als Mitte Juni 15 Häftlinge, die wegen Drogenhandels einsaßen, schwer bewaffnet aus dem Gefängnis ausbrachen, fiel eine Frau, die gerade ihren Mann im Knast besuchen wollte, im Kreuzfeuer zwischen Gangstern und Polizei. Drei der flüchtenden Häftlinge wurden erschossen, einer blieb schwer verletzt auf dem Asphalt liegen, und elf entkamen. Zwei Tage nach dem Ausbruch legten Direktor und Vizedirektor des Gefängnisses die Arbeit nieder. Sie sind seither flüchtig und werden – wegen Fluchtbegünstigung mit Haftbefehl – gesucht.
Guillermo Landa versteht sich als interimistischer Administrator der Stadtpolizei. Seit Omar Pimentel im März mit der Begründung, er wolle sich mehr seinen Kindern widmen, das Handtuch warf, hat die Polizei keinen Chef mehr. Sein Vorgänger Alejandro Domínguez war gerade sieben Stunden im Amt gewesen, als er im Juni des vergangenen Jahres einem Killer zum Opfer fiel. Nach dem Mord an Domínguez wurden Spezialeinheiten der Bundespolizei nach Nuevo Laredo beordert. Bei ihrer Ankunft wurden sie von der Stadtpolizei beschossen. „Sämtliche 800 Stadtpolizisten wurden danach entlassen“, berichtet Landa, „danach überprüfte sie eine Kommission auf ihre Vorgeschichte hin und auf ihre Verstrickung ins kriminelle Milieu; 275 wurden wieder eingestellt.“
„Als damals die Bundespolizei hier eintraf“ berichtet des Ex-Journalist Ramos, der nun Präsident einer Menschenrechtsgruppe ist, „stieß sie auf ein Privatgefängnis, in dem 40 Geiseln gehalten wurden.“ 15 Stadtpolizisten wurden wegen Kidnapping angeklagt. Sie sollen die Opfer den Zetas, den Killern des Golf-Kartells ausgeliefert haben, die sie folterten und gegen Lösegeld wieder frei ließen oder aber umbrachten. Böse Zungen behaupten, dass andererseits die Bundespolizei für das Kartell von Sinaloa arbeite. Bewiesen ist das nicht, doch zeugen die Gerüchte vom tiefen Misstrauen gegenüber der Polizei.
Auf der Calle Guerrero, der Hauptstraße der Stadt, patrouillieren Einheiten der Bundespolizei – auf gepanzerten Fahrzeugen, die Maschinengewehre im Anschlag. Immerhin haben sich die verfeindeten Kartelle auch schon in der Innenstadt schwere Gefechte unter Einsatz von Handgranaten und Minenwerfern geliefert. Doch gegen Killer können Panzer nichts ausrichten. Und die Amerikaner haben trotzdem Angst. Früher kamen sie am Wochenende zu Tausenden über die Brücke. Die Jüngeren, um sich zu besaufen – auf der andern Seite, in Texas, ist der Alkoholkonsum erst im Alter von 21 Jahren erlaubt -, die Älteren, um sich für wenig Geld das Gebiss reparieren zu lassen oder ihre Manneskraft mit Viagra zu stärken. Hunderte Zahnärzte haben sich hier angesiedelt. Apotheken gibt es zuhauf. Doch jetzt klagen sie alle über massive Einbussen. Und die „Toleranzzone“, wie das von den Gringos besuchte Bordellviertel offiziell heißt, ist wie ausgestorben. Alles tote Hose.
Wenn es dunkel wird, leert sich die Stadt schnell. Nur die Flüchtlinge aus Mittelamerika und Mexikos Süden scheint die bedrückende Atmosphäre der Stadt nicht zu beeindrucken. Vielleicht weil die meisten Schlimmeres erlebt haben. Horacio Menéndez, 26 Jahre alt, hat sieben Wochen gebraucht, um von seiner Heimatstadt Comayagua in Honduras hierher an den Fluss zu kommen. Im Süden Mexikos haben ihm guatemaltekische Banditen bis auf hundert Dollar sämtliches Geld abgenommen. Nun wartet er, bis es dunkel wird. Dann schwimmt er hinüber. Um sich die Stelle zeigen zu lassen, wo man auf der andern Seite am besten unbemerkt die Böschung hochklettern kann, hat er einem Mittelsmann 50 Dollar bezahlt. 50 Dollar bleiben ihm, um ein neues Leben zu beginnen.
Für 50 Dollar, sagt man in Nuevo Laredo, kann man sich einen jener Killer anheuern, die in der Kapelle der „Santísima Muerte“ eine Kerze anzünden, um bei der Schutzherrin der Drogenbarone um Erfolg und Vergebung zu bitten.
Thomas Schmid, „Die Zeit“, 23.11. 2006