Nichts als trockenes Gestrüpp und staubige Straßen, nur hier und da ein verkrüppelter Baum. Ein Esel trottet über den heißen Asphalt, einige abgemagerte Ziegen rupfen an graugrünen Sträuchern. Die Sonne brennt erbarmungslos auf die rissige Erde. Das ist der Sertão im Landesinneren des brasilianischen Nordostens.



Die karge Landschaft hat einen besonderen Menschenschlag hervorgebracht. Man leidet hier, ohne zu jammern, man trägt sein Schicksal mit Stolz und versucht, gemeinsam mit der spärlichen Vegetation die langen Monate der Trockenheit zu überstehen. So jedenfalls wird der Sertejano, der Bewohner dieser gottverlassenen Gegend, in der Literatur beschrieben.

Hier, im Nordosten des größten Staates Lateinamerikas, wurde vor 61 Jahren Luiz Inácio Lula da Silva in bitterer Armut geboren. Mit sieben Geschwistern teilte er sich ein Strohbett in einem der beiden Zimmer des Häuschens seiner Familie. Als er fünf Jahre alt war, zog seine Mutter wie Millionen vor ihr und nach ihr mit den Kindern in den weit entfernten, reicheren Süden. Dreizehn Tage dauerte die fast dreitausend Kilometer lange Fahrt im Lastwagen. In seiner neuen Heimat, im Bundesstaat So Paulo, verkaufte der junge Lula Erdnüsse, Orangen und Kekse aus Maniokmehl, lernte lesen und schreiben, fand, als er größer war, eine Anstellung in der Metallindustrie, führte Massenstreiks an, kam unter der Militärdiktatur ins Gefängnis und wurde 2002 schließlich zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Eine Karriere, die ihresgleichen sucht.

Am kommenden Sonntag wählt Brasilien erneut. An einem Wahlsieg Lulas, der wieder für die von ihm einst mitgegründete linke Partei der Arbeiter (Partido dos Trabalhadores PT) kandidiert, zweifelt kaum jemand. Die Frage ist nur, ob er es wie beim letzten Mal schon im ersten Anlauf schafft oder ob er weniger als 50 Prozent der Stimmen erhält und in vier Wochen noch einmal gegen den Zweitplatzierten antreten muss. In einem zweiten Wahlgang wäre sein wahrscheinlicher Gegner Geraldo Alckmin, Kandidat der unternehmerfreundlichen, liberalkonservativen Partei der Sozialen Demokratie (PSDB), ein mausgrauer Politiker, der im Alter von 23 Jahren schon Bürgermeister einer Provinzstadt war und zuletzt Regierungschef von So Paulo, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat. Er kann Meinungsumfragen zufolge mit rund dreißig Prozent der Stimmen rechnen. Die übrigen fünf, die sich ums Präsidentschaftsamt bewerben, kann man getrost unter ferner liefen abhaken.

Lula ist kein volltönender antiamerikanischer Volkstribun vom Schlage eines Hugo Chávez in Venezuela. Der Schlüssel für Lulas Erfolg liegt im ländlichen Nordosten und in seinen neun Bundesstaaten. Zum Beispiel in der Siedlung Saco Verde im Bundesstaat Ceará. Die Gegend ist ebenso karg wie der Serto, Lulas Heimat. Es gibt eine katholische und eine evangelische Kirche, eine von Misereor gespendete Anlage, aus der versalzenes Grundwasser hochgepumpt wird, eine kleine Schule, Ziegen, Schafe, Hühner. Rund fünfzig Familien sind hier im Rahmen der Agrarreform auf dem Land eines enteigneten Großgrundbesitzers angesiedelt worden. Das war 1997, als in Brasilien noch Fernando Henrique Cardoso regierte. Wie die meisten Siedler hatte auch der alte Isidio Braga vorher jahrzehntelang beim Fazendeiro in den Baumwollfeldern gearbeitet. Nun hatte er also endlich sein eigenes Stück Land, wo er Mais, Bohnen und Futter für die Tiere anpflanzen konnte. Doch erst unter Lula erhielten wir auch die nötigen Kredite, sagt der 71-Jährige, der nun Rentner und Kleinbauer ist, früher liehen die Banken ihr Geld ausschließlich den reichen Fazendeiros.

Braga, den schwarzen Hut tief in die Stirn gezogen, erzählt viel von früher, um zu erklären, warum es heute besser ist. Früher mussten die Kinder von weit her Wasser holen, sagt er, heute gehen sie zur Schule. Er selbst hat nie lesen und schreiben gelernt, er hat Geld verdient. Aber die harte Arbeit hat ihm nicht zugesetzt. Er ist immer noch rüstig. Seit drei Jahren erst hat in Saco Verde jede Familie ihre eigene Zisterne gebaut werden die Wasserreservoire im Rahmen des P1MC. Die Abkürzung steht für Programm eine Million Zisternen. Das Projekt wird zwar zu 80 Prozent vom Ministerium für soziale Entwicklung und Bekämpfung des Hungers finanziert. Seine Durchführung jedoch liegt ausschließlich in der Hand von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). 160000 Zisternen sind inzwischen gebaut: Es sind runde, weiße Behälter aus Zement, die 16000 Liter Wasser fassen können, das in den zwei bis vier Monaten Regenzeit über die Dachrinne hereinfließt und für ein Dreivierteljahr reichen muss.

Braga hat vier Töchter, zwei sind abgewandert, zwei sind ihm geblieben. Sie haben beide Kinder, aber keine Männer. Die Väter haben sich aus dem Staub gemacht. Nicht ungewöhnlich in Brasilien. Da kann die Bolsa Familia, die Lula eingeführt hat, schon eine große Hilfe sein. Alle Familien, die im Monat über ein Einkommen von weniger als 120 Reais (40 Euro) verfügen und das sind über elf Millionen mit insgesamt mehr als 45 Millionen Personen, also ein Viertel der brasilianischen Bevölkerung , haben Anrecht auf ein monatliches Familiengeld von maximal 95 Reais. Die Hilfe ist an Bedingungen geknüpft: Wer Familiengeld beziehen will, muss seine Kinder in die Schule schicken und sie impfen lassen. Natürlich gibt es da einige tausend Fälle von missbräuchlichem Bezug, vermutet der Soziologe Vandevaldo Nogueira, der NGOs in Recife berät, der größten Stadt des Nordostens. Aber was ist das schon im Verhältnis zu den Millionen, die davon profitieren? Gewiss kaufen sich da einige eben ein paar zusätzliche Flaschen Zuckerrohrschnaps, aber andere haben endlich überhaupt etwas zwischen den Zähnen.

Wirtschaftswissenschaftler, die dem konservativen Kandidaten Alckmin nahe stehen, wie der Befreiungstheologe Frei Betto, der seine Tätigkeit als Berater Lulas aus Enttäuschung über dessen moderaten Kurs aufgegeben hat, kritisieren, dass das Programm Bolsa Familia keine nachhaltige Entwicklung einleite. Der Deutsche Hans-Jürgen Fiege hingegen, der seit über zwanzig Jahren in Fortaleza, der Hauptstadt von Ceará, lebt und als Berater für Entwicklungszusammenarbeit arbeitet, meint, auf dem Land könne man sehen, dass die erhebliche Anhebung des Mindestlohns und die Einführung von Bauernrenten, Familienhilfen und Kleinkrediten Armut erkennbar reduzieren, frisches Geld in die lokalen Märkte pumpen und viele Provinzstädte wirtschaftlich beleben.

Ob nachhaltig oder nicht: Bolsa Familia ist längst zum Bestseller in Lulas Wahlkampagne avanciert. Das Familiengeld ist so populär, dass sich kein einziger Präsidentschaftskandidat für seine Abschaffung ausgesprochen hat. Für viele Brasilianer ist Lula schon ein Mythos.

Die Korruptionsaffären, in die seine Partei verwickelt ist, haben seine Position nicht ernsthaft erschüttert. Im vergangenen Jahr musste Lulas Kabinettschef und rechte Hand, José Dirceu, zurücktreten. Danach rollten die Köpfe des Parteivorsitzenden der PT, ihres Generalsekretärs und ihres Schatzmeisters. Im März dieses Jahres nahm der Superminister Antonio Palocci, der Architekt von Lulas Wirtschaftspolitik, den Hut. Elf Tage vor dem Wahltermin löste der Präsident vergangene Woche den neuen Parteivorsitzenden als Leiter seines Wahlkampfs ab. Am gleichen Tag leitete die oberste Wahlbehörde des Landes Ermittlungen gegen Lula selbst ein. Sie will klären, ob er in die neueste Affäre verstrickt ist: PT-Mitglieder hatten einem obskuren Geschäftsmann für viel Geld ein Dossier mit belastendem Material über die Opposition abgekauft. Doch all dies scheint Lulas Chancen, seinen Wahlsieg von 2002 zu wiederholen, nicht zu beeinträchtigen.

Im Nordosten ist Lula populärer denn je. Die armen Leute erkennen sich in ihm wieder. Er ist eben aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sie.

Bei uns wählen alle Lula, bestätigt Antonio Muniz da Silva, Präsident der kleinen Siedlung Pos da Pedra, die 150 Kilometer südlich von Fortaleza im Serto liegt. Sein Haus ist einfach ausgestattet: Steinboden, ein Gasherd, ein Kruzifix im Wohnraum, an der Außenmauer ein Plakat von Lula. In der Küche frisst eine Ziege Maiskörner aus der Schale einer Kokosnuss. Vor der Haustüre stolzieren Truthennen. Acht Familien haben sich hier vor fünf Jahren zusammengetan und zum Preis von 63500 Reais, also 21000 Euro, 512 Hektar Land gekauft. Geld hatten sie keines. So nahmen sie einen Kredit auf, Laufzeit 20 Jahre. Aber wenn sie ihre Raten pünktlich bezahlen, wird ihnen die staatliche Bank 20 Prozent der Schulden erlassen.

Die Neusiedler bauen nicht nur Mais und Bohnen an. In diesem Frühling haben sie zum ersten Mal in kollektiver Bewirtschaftung auf einer Fläche von vier Hektar Rhizinus gepflanzt. Das Öl der stacheligen Früchte soll nicht als Abführmittel dienen, sondern als Kraftstoff. Ab 2008, so will es das Gesetz, müssen jedem Liter Diesel zwei Prozent Biodiesel beigemischt werden. Das Privatunternehmen Brasil Ecodiesel kauft den Kleinbauern die Ernte zum garantierten Preis von 0,55 Reais pro Kilo ab, produziert aus jedem Kilo Rhizinus einen halben Liter Biodiesel und verkauft diesen an die staatliche Erdölfirma Petrobras.

Eine Ernte von 1500 Kilo pro Hektar hat die kleine Gemeinschaft von Pos da Pedra erzielt. Im nächsten Jahr will sie die Anbaufläche auf 13 Hektar erhöhen.

15000 Kleinbauern hatte der Staat für die Rhizinusproduktion dieses Jahr unter Vertrag. Im nächsten Jahr werden es wohl 70000 sein. Wir haben die Äthanol-Revolution gemacht, jetzt machen wir die Biodiesel-Revolution, verkündete Lula vor wenigen Monaten. Schon heute fahren drei Viertel aller brasilianischen Neuwagen mit Fuel Flex, das heißt mit jeder beliebigen Mischung von Äthanol (Alkohol) und Benzin. Doch während der Alkohol aus dem Zuckerrohr der riesigen Plantagen des Agro-Business gewonnen wird, soll der Rhizinus die Existenz der Kleinbauern sichern.

Anders als der Heißsporn Hugo Chávez, der Venezuela nach Kräften polarisiert, ist Lula um einen Ausgleich bestrebt. Bolsa Familia versteht er als konditionierten Einkommenstransfer von oben nach unten. Auf der anderen Seite können sich Banken und Industrie nicht beklagen. Ihre Profite erreichten unter Lula Rekordhöhen. Die öffentliche Verschuldung allerdings auch.

Insgesamt kann sich Lulas Bilanz trotzdem sehen lassen. Zwar hat Brasilien das geringste Wirtschaftswachstum Lateinamerikas, aber in Lulas Amtszeit wurden vier Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen.

Und 2005 ist zum ersten Mal seit 15 Jahren die Zahl der Armen gesunken. Wenn am Ende meiner Amtszeit alle Brasilianer Frühstück, Mittagessen und Abendessen bekommen können, hatte Lula bei seinem Amtsantritt gesagt, habe ich die Mission meines Lebens erfüllt. Es ist vermutlich auch für zwei Amtsperioden ein Ding der Unmöglichkeit.

Thomas Schmid, DIE ZEIT, 28.09.2006, Nr. 40

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