Als die ersten Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945 – heute vor 60 Jahren – in Auschwitz eintrafen, fanden sie ein Bild des Grauens vor: Auf dem verschneiten Gelände des grössten Vernichtungslager des Dritten Reiches lagen die Leichen von über 600 Menschen, die noch in den letzten Tagen vor der Befreiung an Erschöpfung gestorben oder von SS-Schergen  ermordet worden waren. Aus den Baracken wankten ihnen ausgemergelte  Häftlinge in Streifenanzügen entgegen, bis auf die Knochen abgemagerte Menschen, die sie aus hohlen Augen stumm anglotzten. Rund 7.000 Häftlinge – krank, verwirrt, dem Tode nah – hatten die Nazis zurückgelassen, als sie am 18. Januar das Lager räumten und 58.000 Menschen bei einer klirrenden Kälte von minus 20 Grad auf die „Todesmärsche“ über die Landstraßen Oberschlesiens trieben. Am 20. und 25. Januar hatten Kommandos der SS und des Sicherheitsdienstes noch einmal das Gelände durchkämmt und 300 marschunfähige Häftlinge erschossen. In der Nacht vom 26. auf den 27. Januar hatten sie das letzte Krematorium gesprengt.

In der Eile des Aufbruchs schaffte es die SS nicht mehr, alle Spuren ihres Verbrechens zu verwischen. In abgestellten Eisenbahnwaggons  stiessen die Sowjetsoldaten auf 368.820 Herrenanzüge und 836.255 Damenmäntel, in den Magazinen auf Berge von Brillen, Schuhen und Zahnprothesen. Und auch auf sieben Tonnen Frauenhaar, abgepackt für den Transport nach Deutschland, wo es zu Industriefilzen verarbeitet und zu Garnen gesponnen werden sollte. Die europäischen Juden wurden von den Nazis nicht nur ermordet, sondern auch noch verwertet.

Der polnische Ort Osviecim, zu deutsch Auschwitz, wurde nach dem Überfall Hitlers und Stalins auf Polen dem Deutschen Reich eingegliedert.  Schon im Mai 1940 ordnete Reichsführer-SS Heinrich Himmler an, vor den Toren des Städtchens ein Konzentrationslager zu bauen: Das Stammlager oder Auschwitz I. Zunächst wurden dort Polen aus dem Umland inhaftiert, später kamen – als deren Aufseher – deutsche Strafgefangene hinzu, und bald auch „politische“ Häftlinge aus Polen, unter ihnen auch einige Juden. Doch für die „Endlösung“, wie die Nazis den Holocaust an den Juden euphemistisch nannten, spielte das Stammlager in Auschwitz, das auch über eine Gaskammer und ein Krematorium verfügte, nur eine untergeordnete Rolle. Hier wurde an sowjetischen Kriegsgefangenen  erprobt, ob das Giftgas Zyklon B, ursprünglich hergestellt zur Bekämpfung von Ungeziefer, auch für die Vernichtung von Menschen taugte. Etwa 25.000 erschossene oder vergaste Menschen wurden im Stammlager eingeäschert. Der industrielle Massenmord in den Todesfabriken aber fand vor allem in Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II) statt, dessen Bau Himmler im September 1941 befahl.

Allein in Auschwitz-Birkenau wurden über eine Million Menschen ermordet. Zu neun Zehnteln Juden, die aus den von Deutschland besetzten Ländern in verschlossenen Güterwaggons herangeschafft wurden. Um das tödliche Geschäft zu vereinfachen, wurde 1944 die Eisenbahnlinie vom Güterbahnhof bis vor die Gaskammern verlängert. Das erste, was die Häftlinge, die den Transporten entstiegen, wahrnahmen, waren kläffende Schäferhunde, Gewehrkolben und  gebellte Befehle. An der Rampe standen SS-Offiziere, die die Ankömmlinge selektierten. Wer gesund und kräftig aussah, eine Minderheit, kam ins Lager zwecks „Vernichtung durch Arbeit“, wie es im Nazibeamtendeutsch hiess. Die übrigen – Alte, Schwache, Kranke, Kinder, Schwangere und Mütter, die ihre Säuglinge nicht hergeben wollten – wurden direkt ins Gas geschickt, im Durchschnitt drei Viertel der eintreffenden Häftlinge. Schon wenige Stunden nach ihrer Ankunft blieb von ihnen nur noch ein Häufchen Asche übrig. Auschwitz-Birkenau war das grösste der sechs Vernichtungslager (die andern befanden sich in Treblinka, Majdanek, Belzec, Chelmno und Sobibor), das die Nazis neben Hunderten von Konzentrationslagern unterhielten. Und es war das effizienteste. Das neue Krematorium, auf dem neuesten Stand der Technik, hatte sein Ingenieur stolz als „kontinuierlich arbeitender Leichen-Verbrennungs-Ofen für Massenbetrieb“ patentieren lassen.

Die „Endlösung der Judenfrage“ wurde auf einer geheimen Konferenz im Januar 1942 am Berliner Wannsee beschlossen und sie wurde unter höchster Geheimhaltung in Tat umgesetzt. Dass sie die Juden für Untermenschen, Parasiten, Volksschädlinge, Ungeziefer hielten, die ausgerottet werden müssten, daraus haben führende Nationalsozialisten nie einen Hehl gemacht. Dass sie aber Juden ganz real zu Millionen ermordeten, versuchten sie der Weltöffentlichkeit und auch dem eigenen Volk zu verschweigen. Das Verbrechen war zu monströs für das Gehirn der gewöhnlichen deutschen Volksgenossen, über die Himmler in einer Rede vor SS-Führern spottete: „Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die andern sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heisst, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.“

Bei allem Anstand und aller Härte – die widerwärtigste Arbeit überliess die SS dann doch den Juden selbst. Es waren die Juden des so genannten Sonderkommando,  die die vergasten Körper aus den Kammern zerrten, ihnen die Haare abschnitten und die Goldzähne ausrissen, sie in den Lift zum Krematorium beförderten, in die Öfen schoben, die Asche herausholten und danach mit Eisenstangen Knochenreste zu Staub verstampften. Keiner von ihnen tat dies aus freiem Willen. Die Angehörigen der Sonderkommandos wurden unter den kräftigsten, frisch eintreffenden Häftlingen zwangsrekrutiert. Sie wussten in der Regel nicht, was ihnen bevorstand. Von den restlichen Lagerhäftlingen wurden sie völlig isoliert gehalten. Alle  waren sie schockiert, als man – quasi als Initiationsritual – vor ihnen die Gaskammern öffnete und ihnen unter vorgehaltener Waffe befahl, die nach dem Todeskampf verknoteten Körper freizulegen und abzutransportieren.

„Die Erfindung und Aufstellung der Sonderkommandos ist das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus gewesen“, schreibt Primo Levi, der selbst in Auschwitz interniert war und den Horror überlebt hat, „es wurde der Versuch unternommen, das Gewicht der Schuld auf andere, nämlich auf die Opfer selbst, abzuwälzen, so dass diesen – zur eigenen Erleichterung – nicht einmal mehr das Bewusstsein ihrer Unschuld bleiben würde.“ Die teuflische Botschaft, so Levi weiter, lautete: „Wir, das Herrenvolk, sind eure Vernichter, aber ihr seid nicht besser als wir. Wenn wir es wollen, und wir wollen es, sind wir nicht nur in der Lage, eure Körper zu vernichten, sondern auch eure Seelen, so wie wir unsere eigenen Seelen vernichtet haben (…) Man musste beweisen, dass die Juden, die minderwertige Rasse, die Untermenschen, sich jede Demütigung gefallen liessen und sich sogar gegenseitig  umbrachten.“

Dass Menschen vergast wurden, wusste man im Lager. Man sah ja die rauchenden Schornsteine. Aber die Angehörigen des Sonderkommandos , waren die einzigen Augenzeugen des Verbrechens. Viele von ihnen sahen Zehntausende, ja Hunderttausende Leichen. Sie kannten die Gaskammern, die sie säubern mussten, von innen. Sie wussten, dass in den vier Krematorien von Auschwitz-Birkenau zeitweise über 4000 Leichen täglich eingeäschert wurden. Sie wussten, dass  die Asche in die nahe Weichsel geschüttet wurde. Und sie wussten, dass sie sterben würden, weil sie all das wussten. Etwa 2.000 Häftlinge gehörten zwischen 1942 und 1945 zu verschiedenen Zeiten dem Sonderkommando an, in der Regel rund 400 gleichzeitig, zu gewissen Zeiten im Jahr 1944 waren es über 900. Sie waren lebende Tote.

Viele von ihnen waren völlig apathisch, erledigten abgestumpft ihre „Arbeit“. Einigen wenigen war es jedoch das wichtigste Anliegen, der Nachwelt über das, was sie sahen und worüber sie als einzige Zeugnis ablegen konnten, zu berichten. „Ich wusste, ebenso wie wir alle, dass die Verbindung mit jener Welt unterbrochen ist, es ist hier eine andere Welt“, schrieb Chaim Herman an seine Frau und Tochter, „wenn ihr wollt, so ist es die Hölle, aber Dantes Hölle ist ungeheuer lächerlich im Vergleich zur Wirklichkeit von hier und wir sind ihre Augenzeugen, die nicht überleben dürfen.“ Der Brief an seine Frau und seine Tochter wurde im Februar 1945 in einer Glasflasche in der Nähe eines Krematoriums unter der Asche entdeckt.  Fünf weitere Dokumente von Angehörigen der Sonderkommandos, die zum Teil erst Jahrzehnte danach auf dem Gelände in Auschwitz-Birkenau gefunden waren, bezeugen, wie die Todesfabrik von Auschwitz funktionierte. Historischen Fachkreisen sind sie seit Jahren bekannt. Einem breiteren Publikum hingegen kaum. FACTS veröffenticht Auszüge auf den Seiten….

Der Tod schien den Häftlingen des Sonderkommandos  sicher. Nach einem halben Jahr wurden sie in der Regel liquidiert und durch Neuankömmlinge ersetzt. Dieser Gewissheit, dem tödlichen Schicksal ohnehin nicht entrinnen zu können, ist es wohl geschuldet, dass in Auschwitz, wo zeitweise über 120.000 Menschen, hungernd  und frierend unter erbärmlichsten Bedingungen dem Terror der allmächtigen SS ausgeliefert waren, als einzige  Häftlinge des Sonderkommandos  einen Aufstand wagten. Als immer weniger Juden in Auschwitz eintrafen, weil es die militärischen Bedingungen  nicht mehr erlaubten oder weil es einfach immer weniger Juden gab,  mussten sie ihre  baldige Liquidierung befürchten. Am 7. Oktober griffen sie mit Äxten und Messern die SS-Aufseher an, töteten drei und warfen einen Kapo lebend in den Ofen eines Krematoriums. Bald brannten die Baracken und ein Krematorium wurde zerstört. Am Abend schon hatte die SS die Lage wieder unter Kontrolle. 452 Häftlinge des Sonderkommandos wurden ermordet.

In den folgenden zwei Wochen wurden noch mal 40.000 Menschen ins Gas geschickt, davon nun schon 14.000 aus dem Lager, die als arbeitsunfähig eingestuft wurden. Dann wurden die Vergasungen eingestellt. Ende November 1944 liquidierte die SS rund hundert überflüssig gewordene Häftlinge des Sonderkommando s. 30 ihrer Kameraden waren danach noch im Krematorium beschäftigt, das der Einäscherung der täglich anfallenden Leichen von an Hunger oder Krankheit gestorbenen oder erschossenen Häftlinge diente. Zudem mussten die Angehörigen des Sonderkommando  unter Aufsicht der SS nun Berge von Akten, die den Massenmord bezeugten, verbrennen.  70 weitere Häftlinge wurden zur Demontage der übrigen Krematorien eingesetzt. Den allermeisten dieser letzten Häftlinge des Sonderkommandos  gelang es, im Chaos der Auflösung des Lagers sich unter die gewöhnlichen Häftlinge zu mischen und mit ihnen einen der Todesmärsche anzutreten.

Die meisten von ihnen schwiegen Jahrzehnte lang über ihre Geschichte – aus Scham und falschem Schuldbewusstsein. Doch einige traten bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen in den 60er Jahren als Zeugen auf. Ihre minutiöse Beschreibung der Gaskammern, die als Duschräume getarnt waren, um unnötige Unruhen zu vermeiden, erregten damals grosses Aufsehen. Sie wurden bestätigt durch Dokumente der Bauleitung von Auschwitz, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 in Moskau freigegeben wurden. Notorische Auschwitzleugner wie etwa Irving, F, und der (Lausanne), die die Existenz von Gaskammern bis heute bestreiten, kann all das nicht beeindrucken. Sie sind Argumenten gegenüber ohnehin unzugänglich.  An den Folgen des Zivilisationsbruch aber, den der industriell organisierte Massenmord in den Todesfabriken bedeutete und für den Auschwitz als Chiffre steht, leiden noch heute Tausende und Abertausende – auch die wenigen  noch lebenden Augenzeugen  aus dem innersten Kreis der Hölle.

Thomas Schmid, „Facts“ (Zürich), 27.01.2005