Er hat sein Wort gehalten. Eher werde er als Märtyrer auf heimatlichem Boden sterben als ins Ausland flüchten, hatte Muammar al-Gaddafi mehrfach betont. Er scheint, wie versprochen, buchstäblich bis zum letzten Bluttropfen gekämpft zu haben. Gestern wurde der „Bruder Führer“ oder der „König der Könige Afrikas“, wie er sich mitunter zu betiteln pflegte, bei Kämpfen in Sirte, seiner Heimatstadt und letzten Bastion erschossen. Vielleicht verletzt gefangen und an den Blessuren erlegen, vielleicht absichtlich getötet, vielleicht schlicht im Kampf gefallen. Das mag Anlass zur Mythenbildung geben. Fest steht: in Libyen ist eine Epoche zu Ende.

Gaddafi hatte sich 42 Jahre lang an der Macht gehalten und sich bis zuletzt an sie geklammert. Er gehört mit Saddam Hussein und Hafiz al-Assad (Vater des heutigen Präsident Syriens) zu den wichtigsten Exponenten einer panarabischen Emanzipationsbewegung, deren prominentester Führer Gamal Abdel Nasser war. Der antikoloniale Aufbruch in der arabischen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg mündete aber letztlich in der Herrschaft von Autokraten. Und Gaddafi war nicht nur einer der bizarrsten, sondern auch der totalitärsten, wenn das Adjektiv denn überhaupt eine Steigerung zulässt.

Wie kein anderer arabischer Diktator hat er die Zivilgesellschaft vollständig zerstört. Gaddafi brauchte – anders als Saddam Hussein, Mubarak oder Ben Ali – nicht einmal eine Regierungspartei. Politische Organisationen waren generell verboten. Nachdem die zivilgesellschaftlichen Strukturen zerstört waren, rief Gaddafi Mitte der 70er Jahre die Massen zum Sturm auf den Staat auf. Er versprach, sämtliche Ministerien abzuschaffen. Etwa die Hälfte hat er dann doch belassen. In seiner „Großen Sozialistischen Libysch-Arabischen Volks-Dschamhirija, wie das von ihm errichtete politische System offiziell hieß, sollte sich das Volk selbst regieren. Die lokalen staatlichen Verwaltungsstrukturen wurden durch Volkskomitees ersetzt und das nationale Parlament durch einen Allgemeinen Volkskongress. Faktisch waren deren Entscheidungen von oben gesteuert. Alles wurde Maskerade. Und Gaddafi hatte am Schluss gar kein Amt mehr inne, von dem er hätte zurücktreten können. Er hatte „nur“ noch die Macht in einem System des Terrors.

Dem internationalen Terror hingegen, der Unterstützung und Durchführung terroristischer Aktionen im Ausland, hatte Gaddafi in den 90er Jahren abgeschworen, und als er auch noch auf die Produktion von Massenvernichtungsmitteln verzichtete, wurde er wieder in den Schoß der internationalen Gemeinschaft aufgenommen. Gerhard Schröder, Nicolas Sarkozy, Silvio Berlusconi – alle pilgerten sie nach Tripolis, ließen sich ins Beduinenzelt des Revolutionsführers einladen und huldigten dem Diktator, der auf der Liste der Schurken jahrelang ganz oben gestanden hatte. Und man darf davon ausgehen, dass der unappetitliche Umgang mit dem launischen Libyer angehalten hätte, hätte sich im Dezember des vergangenen Jahres in Tunesien nicht ein arbeitsloser Gemüsehändler verbrannt. Die Revolte, die er unbeabsichtigt auflöste, schwappte nach Libyen über.

Bengasi, die zweitgrößte Stadt befreite sich innerhalb von drei Tagen, weil Truppenteile zu den Rebellen überliefen. Etwa fünf Monate lang blieb Libyen faktisch zweigeteilt. In der Cyrenaika, dem Osten des Landes, hatten Rebellen die Macht übernommen. Ihr wichtigster Repräsentant, Abdul Dschalil, war noch drei Tage nach Beginn des Aufstands Gaddafis Justizminister, während ihr Armeechef, der im Juli – vermutlich von islamistischen Rebellen – erschossene Abdul Fatah Junis, in Tripolis noch Innenminiser war, als der Aufstand losbrach. In Tripolitanien, dem Westteil des Landes, konnten sich Gaddafis Truppen – abgesehen von der Hafenstadt Misrata und den Berbergebieten südlich von Tripolis – im Wesentlichen bis Mitte August halten.

Im August gelang den Rebellen mit Hilfe der Nato die Eroberung von Tripolis. Gaddafi floh. Es war die entscheidende Wende im Krieg. Danach ging es nur noch darum, die letzten Bastionen des alten Regimes, die Städte Ban Walid und Sirte, der Kontrolle von Gaddafis Spezialeinheiten zu entreißen. Einen Teil seiner Familie, seine Frau, zwei Söhne und eine Tochter, hatte sich da bereits nach Algerien abgesetzt, ein weiterer Sohn nach Niger und einer oder zwei sind vermutlich bei den militärischen Auseinandersetzungen gefallen. Wo sich aber Gaddafi versteckte, das war zwei Monate lang, seit der Durchsuchung seiner dreifach ummauerten eroberten Residenz in Tripolis, ein Mysterium. Zuletzt wähnte man ihn unter dem Schutz von Tuareg-Rebellen im nigerisch-algerisch-libyschen Grenzgebiet.

Einige Tuareg-Stämme hielten ihm wohl bis zuletzt die Treue. Gaddafi hat schon zu Beginn der 70er Jahre Tuareg für seine „Islamische Legion“ rekrutiert, die eine wichtige Rolle bei einer Vereinigung und auch Arabisierung der Sahel-Zone spielen sollte. Es blieb ein Traum, genauso wie das Projekt einer panarabischen von Gaddafi geführten Staatengemeinschaft, und die islamischen Legionäre kamen dann vor allem zur Destabilisierung nicht willfähriger Staaten zu Einsatz, im Tschad, in Uganda, im Libanon.

Noch drei Stunden von der Nachricht von Gaddafis Tod warnte der Nationale Übergangsrat Libyens, der gestürzte Diktator sei dabei in Mali und andern Staaten der Sahelzone Söldner zu rekrutieren, mit denen er sich an die Macht zurückkämpfen wolle.

Nach der Eroberung von Sirte und dem Tod von Gaddafi wird der Übergangsrat die Befreiung ganz Libyens verkünden. Nun, wo der Krieg beendet ist, schlägt die Stunde der Politik. Und man darf sich auf harte Auseinandersetzungen gefasst machen. Das Interregnum des Übergangsrats geht zu Ende. Vor allem die Islamisten, deren Truppen bei der Eroberung von Tripolis führend waren, werden Machtposition in einer neuen Regierung fordern. Und ob sich die Wendehälse halten können, die in der Führung des Übergangsrats die wichtigsten Positionen einnehmen, ist mehr als fraglich.

Völlig ungewiss ist, welche Rolle die Stämme spielen werden. Unter König Idris, der 1969 von Gaddafi gestürzt wurde, hatten sie verbriefte Rechte. Gaddafi hatte sie zunächst entmachtet, später aber seine eigene Macht gerade auf Stämme aufgebaut. Er hat auch immer wieder Stämme gegeneinander ausgespielt, die einen – vor allem jene im Osten –  vernachlässigt, andere – vor allem seinen eigenen – bevorzugt, Möglicherweise wird man in einer Übergangsphase auf Stammesinteressen eine gewisse Rücksicht nehmen, um das Land wirklich zu befrieden. A la  longue stehen sie einer Demokratisierung entgegen.

Libyen steht vor riesigen Problemen. Das Land ist zerstört, nicht so sehr militärisch, sondern vor allem politisch und kulturell. Es gibt keine politischen Strukturen und noch keine öffentliche Debatte über die Zukunft. Es gibt von der jahrelangen totalitären Diktatur vernebelte Gehirne und ein Bedürfnis nach Rache. Es ist ein Herrschaftssystem zerbrochen, in dem der nationale Reichtum nach Regeln der Vetternwirtschaft verteilt und der Zugang zu Pfründen durch Loyalitäten erkauft wurde. Libyen ist das reichste Land Afrikas. Das birgt Gefahren und bietet Chancen. Wird das Öl, das schon bald wieder so reichlich wie früher durch die Pipelines fließen wird, zu Verteilungskämpfen und damit zu politischen und tribalen Auseinandersetzungen führen oder wird es den Aufbau einer Demokratie, die der wirtschaftlichen Absicherung bedarf, erleichtern? Gaddafi ist tot. Die Leute werden es feiern. Danach kommt die Mühe der Ebene.

Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 21.10.2011

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