Trittbrettfahrer der Revolution

TUNIS. Auf der einen Seite des Tisches sitzt ein leicht rundlicher Mann in abgetragener Jacke, mit gestutztem weißem Bart und kahlrasiertem Kopf. Er ist der Typ gealterter Bohémien. Ihm gegenüber haben drei junge Frauen Platz genommen. Sie sind schlank, zwei von ihnen sind modisch gekleidet, stark geschminkt. Die dritte hat deutliche Narben an Lippen und Augenbrauen, Folgen ihrer Piercings. Sie trägt Jeans, zerrissen, wie man sie heute von der Stange kaufen kann, und Turnschuhe. Der Mann strahlt großväterlichen Charme aus, er gehört zu den Menschen, die mit den Augen lachen können. Mit geübtem Blick taxiert er eine der Frauen. Er stellt sie sich vermutlich in anderen Kleidern vor, an einem anderen Ort, zusammen mit anderen Personen. Ist sie diejenige, die er sucht, die er braucht? Die Frau schaut verlegen, unsicher, lächelt etwas bemüht. Wird sie die Rolle kriegen?

Casting bei Nouri Bouzid, einem der bekanntesten Filmregisseure Tunesiens, der mit Vorliebe mit Amateur-Schauspielern dreht. „Erzähl mal über deinen Vater“, fordert der 66-jährige Filmer die 19-jährige Selma auf. Er duzt immer. „Ach, Anhänger von Ennahda ist er“, antworet Selma. Der Filmer kratzt sich hinter dem Ohr. Ennahda, arabisch für Renaissance, ist die Partei der Islamisten, die aus den am Sonntag anstehenden Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung wohl als stärkste Kraft hervorgehen wird. „Und was sagt er denn dazu, wenn du die Rolle annimmst?“, fragt Nouri Bouzid. Es geht um die Rolle einer emanzipierten Frau, die ihren Macho-Freund umerziehen soll. „Du musst immer machen, was du selbst für richtig hältst“, mahnt er die Kandidatin, „nicht das, was die anderen von dir erwarten.“ Er redet bald Französisch, bald im lokalen arabischen Dialekt.

        Ein sympathischer Islamist: Noureddine Arbaoui.

Ein sympathischer Islamist: Noureddine Arbaoui.

Bouzid will noch in diesem Jahr drehen. Der Film wird den Titel „Dégage!“ tragen: „Hau ab!“ Es ist die Aufforderung, die dem tunesischen Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali im Januar aus hunderttausenden Kehlen entgegenschallte, bis er sich ins saudische Exil absetzte. Das Drehbuch hatte Bouzid zwar vor der Revolution unter einem anderem Titel geschrieben, aber inzwischen hat er die Handlung in die Zeit nach der Flucht des Diktators verlegt. „Wir konstruieren die Person gemeinsam“, sagt er zu Leila, der zweiten Kandidatin, „du interpretierst, ich korrigiere, der Text ist zweitrangig.“

Viel verrät Bouzid nicht über seinen neuen Film. Aber es geht um Freiheit, um Freiheit in Zeiten der Revolution. Und gewiss wird er wieder Tabus brechen. Er hat schon Filme über Pädophilie und Prostitution, über Folter und Sextourismus gedreht. Einige konnte er nur im Ausland zeigen. Bei den Zensoren der Diktatur galt Nouri Bouzid als das schwarze Schaf unter den Filmschaffenden -– und für die Islamisten ist er es noch immer. Vor allem auch wegen „Making of“, sein letzter Film, der zeigt, wie religiöse Fundamentalisten einem verzweifelten Jungen das Gehirn waschen und ihn zum Terroristen abrichten.

Die wunderbare Revolution der Jugend, die dem Land die Freiheit gebracht hat, sieht Bouzid in Gefahr. Vor einer Woche sind nach dem Freitagsgebet in Tunis Tausende Gläubige zu Protesten auf die Straße gegangen. Nessma TV, ein tunesischer Privatsender, hatte „Persepolis“ ausgestrahlt, einen Zeichentrickfilm, in dem die in Frankreich lebende Iranerin Marjane Satrapi ihre bedrückenden Erfahrungen als Mädchen unter dem Mullah-Regime von Ayatollah Chomeini reflektiert. Was die Islamisten empörte: Allah erscheint im Film als bärtiger, alter Mann – und das Mädchen fordert ihn auf zu verschwinden. Die bildliche Darstellung Gottes aber ist im Islam verboten. Am vergangenen Freitag beschuldigten viele Imame in ihren Predigten den Privatsender der Blasphemie. Am Abend plünderten und brandschatzten Salafisten, Anhänger eines extrem konservativ ausgelegten Islam, das Privathaus von Nabil Karoui, dem Besitzer von Nessma TV.

Gerappter Mordaufruf

Ennahda hat sich vom Überfall auf Karouis Haus öffentlich distanziert. „Sie sagen das eine und tun das andere“, behauptet Bouzid, „die Islamisten sind doppelzüngig.“ Er glaubt ihnen kein Wort. Mitte April hatte auf einem von Ennahda veranstalteten Meeting der Rapper Psycho-M in seinem Sprechgesang getönt, wenn er eine Kalaschnikow hätte, würde er auf Bouzid schießen. Ennahda unternahm nichts gegen die Morddrohung. Eine Woche zuvor erst war der Regisseur auf der Straße zusammengeschlagen und verletzt worden. Anlass war, dass er in einer Diskussion auf einen großen Islamwissenschaftler verwiesen hatte. Der habe festgestellt, dass Mohammeds Feinde dessen letzte Ehefrau als Prostituierte bezeichneten, was den Propheten zwar traurig gemacht, aber nicht zur Gewalt provoziert habe.

„Ihre Stärke hat Ennahda vor allem Ben Ali zu verdanken“, glaubt Nouri Bouzid, „keine politische Strömung wurde unter der Diktatur so massiv verfolgt wie die Islamisten.“ Zehntausende schmachteten in den Kerkern, wurden gefoltert oder ins Exil getrieben. „Sie haben die größten Opfer gebracht“, sagt der Filmemacher, der wegen unbotmäßiger politischer Aktivitäten selbst fünf Jahre in Haft war. „Das hat ihnen in der Bevölkerung Achtung eingetragen. Niemand hat so gelitten wie sie.“

Noureddine Arbaoui, von Beruf Psychologe, ist einer von ihnen. 17 Jahre lang hat er im Gefängnis gesessen. 17 Jahre lang hat er nur den Koran gelesen. Andere Bücher gab es nicht. Obwohl er wegen „Vorbereitung eines Staatsstreichs“ zu lebenslänglicher Haft verurteilt war, kam er 2008 frei. Heute ist er Mitglied des zwölfköpfigen Politbüros von Ennahda und hat sein Büro in der Parteizentrale in Tunis. Nichts im kahlen Raum deutet auf seine religiöse Gesinnung hin. Auch trägt er weder Bart noch die Dschellabah, das traditionelle arabische Männergewand, das gerade Gläubige der europäischen Kleidung oft vorziehen Er ist kein Missionar, der seine Überzeugung vor sich herträgt, und schon gar kein Eiferer. Er wirkt bescheiden, durchaus sympathisch.

„Wir werden nicht allein regieren“, sagt der Islamist, „wir träumen nicht von 51 Prozent. Und selbst wenn wir die hätten, wären wir für eine Regierung der nationalen Einheit. Und Rachid Ghannouchi will weder Regierungschef noch Präsident werden. Er kandidiert ja nicht einmal.“ Arbaoui versteht offenbar die Ängste seiner Gegner vor dem charismatischen Parteichef Ghannouchi, der die Massen zu begeistern weiß, und schaltet auf Vorwärtsverteidigung. Gewiss, früher sei die Partei mal anders gewesen, aber die Kommunisten seien ja auch nicht mehr, was sie einmal waren. „Wir sind liberal“, behauptet Arbaoui, „aber den Laizismus lehnen wir ab. Er widerspricht dem Islam.“ Und natürlich, sagt er, sei die Scharia, das islamische Gesetz, eine Quelle des Rechts. „Und was sagen Sie zu Persepolis, Herr Arbaoui?“ – „Wir verlangen ja nicht, den kompletten Film zu verbieten“, erwidert der Islamist, „es ging nur um eine kleine Sequenz. Die Gläubigen waren in ihren religiösen Gefühlen verletzt.“

„Letztlich träumt Ghannouchi noch immer vom Kalifat“, behauptet dagegen der Historiker Mohamed Talbi. Also von einem islamischen Staat. Talbi hat den Islamistenführer, der Ende Januar nach 22 Jahren Exil aus London nach Tunis zurückgekehrt ist, einige Male getroffen. „Er will es auf friedlichem Weg errichten, die Salafisten greifen zur Gewalt. Ghannouchi, der früher auch auf Gewalt setzte, hat nur die Methode gewechselt, nicht das Ziel.“ Es ist eine gewichtige Anschuldigung, vorgetragen von einem der bedeutendsten Islamforscher der arabischen Welt. Talbi hat über ein Dutzend Bücher über die geistesgeschichtliche Entwicklung des Islam verfasst. Er ist der große Wissenschaftler, den Nouri Bouzid zitierte, bevor er auf der Straße zusammengeschlagen wurde.

Talbi ist 90 Jahre alt. Er schlurft über die Dielen seiner Wohnung und lässt sich in einen großen Sessel fallen, der den kleinen Mann zu verschlucken scheint. Der Körper ist langsam geworden, der Geist aber ist noch immer blitzschnell. Talbi argumentiert stringent, führt die Argumente seiner Gegner ad absurdum. „Die Scharia“, doziert der Wissenschaftler, „hat über die hukm al-ridda, das Gesetz über die Apostasie, den Abfall vom Glauben, eine terroristische Form angenommen, die mit der Freiheit und der Demokratie unvereinbar ist. Die Scharia will Ehebruch mit Steinigung bestrafen, aber Ehebruch geht den Staat nichts an, sondern nur die unmittelbar Beteiligten.“ Die Scharia sei fast zweihundert Jahre nach der Hidschra, dem Auszug des Propheten aus Mekka, entstanden und habe im Koran überhaupt keine Stütze. „Fast zwei Jahrhunderte lebten die Muslime ohne Scharia, sie könnten auch heute ganz gut ohne sie auskommen.“ Es sind ketzerische Gedanken eines gläubigen Muslim.

Dass Ennahda im Kern keine demokratische Partei ist, davon ist der Wissenschaftler überzeugt. Aber die Islamisten von der Wahl auszuschließen, wäre ein großer Fehler. Die Partei repräsentiere eine wichtige konservative, rückwärtsgewandte Strömung in der Gesellschaft. Trotzdem, der 90-Jährige ist Optimist: Die Islamisten könnten in Tunesien nie eine Mehrheit erringen, und die Zeit arbeite gegen sie.

Nouri Bouzid, der Filmemacher, ist sich da nicht so sicher. Er fürchtet, dass die Laizisten dem Druck der Religiösen nicht standhalten und nach und nach einknicken. „Unsere Politiker widern mich an“, sagt er, „sie wagen nicht, Flagge zu zeigen, sie haben keine Haltung.“ Dann macht er sich wieder ans Casting, wendet sich Raja zu, der jungen Frau mit den Piercing-Narben und der zerrissenen Hose. Sie ist von zu Hause abgehauen, hat sich ein Stück Freiheit genommen.

Von der Kasbah-Jugend gelernt

Raja gehört zu jenen, die sagen: Wir lassen uns die Revolution nicht klauen. Es sind viele Jugendliche, die so reden. Notfalls wollen sie wieder auf die Kasbah gehen, auf den Platz vor dem Sitz des Ministerpräsidenten, und wie damals ein Lager aufschlagen, um ihre Revolution zu retten. Mit ihrem Dauerprotest setzten sie Ende Februar den Rücktritt von Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi (nicht mit dem Islamistenführer verwandt) durch, der elf Jahre lang Ben Ali als Regierungschef gedient hatte und nach dessen Flucht im Amt geblieben war. Die Demonstranten erzwangen die Auflösung des Parlaments und die Suspendierung der Verfassung. Ohne ihren hartnäckigen Protest hätte das Übergangsregime wohl aufgrund der alten Verfassung einen neuen Präsidenten gewählt. Der Kasbah-Jugend ist es zu verdanken, dass der umgekehrte Weg eingeschlagen wurde: Jetzt muss sich Tunesien erst eine neue Verfassung geben, als Fundament für einen demokratischen Staat, dann kommt alles weitere. Es ist ein klarer Neuanfang.

Bloß, inzwischen haben auch jene, die am Aufstand keinen Anteil hatten – die Trittbrettfahrer der Revolution – Geschmack an der Taktik der jugendlichen Rebellen gefunden. Am Mittwoch versprach Islamistenchef Ghannouchi: „Wenn uns das tunesische Volk das Vertrauen ausspricht, sind wir bereit, eine Regierung der nationalen Einheit zu leiten.“ Dann schickte er eine klare Drohung hinterher: Wenn es beim Wahlgang zu „Manipulationen“ komme, organisiere er eine Massenbewegung. Und die sei in der Lage, „zehn Regierungen in Folge zu stürzen“.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 21.10.2011

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