Ein kleines Missverständnis, eine falsch verstandene Geste kann schnell zum Streit entarten, wenn man sich nicht kennt, wenn man sich misstraut. Und so klebt nun an vielen Schaufenstern der Mailänder Via Sarpi ein Plakat: «Spucken ist unhygienisch, gehört sich nicht, ist strafbar.» Nicht, dass die Inhaber des Modegeschäfts Ri Xhin Fashion, der Import-Export-Firma Bai Yi Dian, der Handelsfirma Xin Xing oder des Sojakäsegeschäfts Da Zhang Angst um die Sauberkeit ihrer Läden hätten. Die chinesischen Geschäftsleute bitten bloss ihre Kundschaft, auf die Empfindlichkeiten der Italiener Rücksicht zu nehmen. In Peking ist es gang und gäbe, dass einer dem andern vor die Füsse spuckt. Ein Mailänder hingegen könnte die Spucke als feindliches Geschoss auffassen, und dann droht womöglich ein clash of civilizations.

«Wenn ich auf die Strasse gehe», schimpft Pierfranco Lionetto, «versperrt mir eine voll bepackte Schubkarre den Weg. Wenn ich nach Hause komme, finde ich keinen Parkplatz, weil die Grossisten ständig ein- und ausladen. Und dann spucken diese Chinesen auch noch immer und überall auf den Boden.» Lionetto, Ingenieur, 65 Jahre alt und kurz vor der Rente, ist Präsident von Vivi Sarpi. Einige der zweihundertvierzig Mitglieder des Bürgervereins haben eine orangefarbene Fahne aus dem Fenster gehängt – mit der Parole: «Weg mit den Grossisten».
Mao klang schon immer ein bisschen italienisch...In der Chinatown von Mailand gibt es neben sechshundert chinesischen Geschäften nur noch hundertfünfzig italienische. Allein an ihrer Hauptader, der 800 Meter langen Via Sarpi, findet man neunzehn chinesische Restaurants, elf chinesische Lederwarengeschäfte, zehn chinesische Supermärkte, sieben chinesische Heilkräuterläden, sechs chinesische Phone Centers und 149 chinesische Grosshandelsgeschäfte. Es gibt eine chinesische Zeitung, zwei chinesische Buchhandlungen und chinesische Videotheken. Junge Chinesen hantieren mit Handy und i-Pod, die Männer das schwarze kurze Haar mit Gel zu Borsten aufgerichtet, die Frauen in bauchfreier Kleidung.

Eine ähnliche Tendenz bahnt sich in Rom an. Dort sind die chinesischen Händler auf dem besten Weg, den Esquilin, einen der sieben Hügel der Stadt, einzunehmen. In Madrid ist das zentrale Viertel Lavapiés, das im Mittelalter Juden bewohnten, bis sie vom katholischen Königspaar Ferdinand und Isabel vertrieben wurden, fest in chinesischer Hand. Am Stadtrand von Budapest, wo dreissigtausend Chinesen leben, gibt es eine zweistöckige chinesische Shopping Mall. In Bukarest wird zurzeit die grösste Chinatown Europas gebaut, in deren Zentrum ein riesiges Einkaufszentrum mit achttausend chinesischen Läden steht.

Im Mai hat der Gemeinderat von Oranienburg, einer Stadt am Rand von Berlin, beschlossen, eine Chinatown mit Pagoden, Teehäusern, Restaurants und einem Kulturpalast zu errichten, die von einer begrünten chinesischen Mauer mit zwei Stadttoren eingefasst werden soll. Und in Parchim, auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg, hat der weltweit operierende chinesische Multi Link Global Logistic zum ersten Mal einen europäischen Flughafen samt Einrichtungen, Pisten und Betriebserlaubnis komplett gekauft. Er soll zur Drehscheibe für Frachtflüge im chinesischen Europahandel werden. Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit, erobern die Chinesen Europa.


80 Prozent der Geschäfte in der Mailänder Chinatown um die Via Sarpi gehören Chinesen. 80 Prozent der Einwohner des Viertels aber, das nur eine halbe Fussstunde von der zentralen Piazza del Duomo entfernt liegt, sind Italiener. Viele leiden am rasanten Wandel, den ihr Quartier durchmacht. Überall diese fremden Schriftzeichen. Der Bäcker um die Ecke ist verschwunden, der Zeitungskiosk weg, und in der Bar wird Chinesisch gesprochen. Nichts ist wie früher. Das vertraute Ambiente hat sich verflüchtigt.

Kann man es da den eingeborenen Italienern verdenken, dass sie die «Mandelaugen» zum Teufel wünschen? «Schuld sind nicht die Chinesen», sagt Lionetto von Vivi Sarpi, «schuld ist die Stadtregierung, die es zugelassen hat, dass ein Getto entsteht.» Es gebe hier klandestine Banken, klandestine Abtreibungsambulatorien und klandestine Hotels – acht Euro die Nacht im Vierbettzimmer – und viele Bordelle, getarnt als Massagesalons.
Doch vor Raub und Überfall braucht man sich in der Chinatown nicht zu fürchten. Anders als die Strassenzüge um die Via Monza und Via Padova, in denen ausländische Banden von sich reden machen, gilt das Viertel als sicher. Zwar wurden vor zwei Monaten am helllichten Tag zwei Chinesen erschossen. Aber das war eine Abrechnung innerhalb der Community. Natürlich fand die Polizei keine Zeugen. «Omertà cinese» – chinesische Schweigepflicht. «Hier entwickelt sich ein Viertel, das nach seinen eigenen Gesetzen lebt», warnt Lionetto.

Selber dubios

«An der Gettobildung sind die Italiener nicht unschuldig», meint Sinologe Alessandro De Toni, der das Quartier wie seine Hosentasche kennt, «schliesslich verkaufen die Italiener ihre Geschäfte an die Chinesen, weil die doppelt so viel bezahlen – und vor allem cash auf die Hand.» Natürlich wird den chinesischen Ladeninhabern der Pizzo, ein Schutzgeld, abgepresst. Und in den Hinterzimmern wird beim Mahjong-Spiel viel Geld umgesetzt. Doch dass die Triaden, die mächtigen Verbrechersyndikate Chinas, die Mailänder Chinatown im Griff haben, hält De Toni für Unsinn, für Geschwätz von Boulevard-Journalisten, die ein sensationslüsternes Publikum kitzeln wollen.
...und «Omertà» heisst nun auch die chinesische Mauer des Schweigens: Szenen aus MailandAuch der Besitzer der Bar an der Via Niccolini – nennen wir ihn Sonn Wang, weil er seinen Namen nicht preisgeben will – glaubt nicht, dass die Triaden in Mailand Fuss gefasst haben. Der zerdepperte Tisch in der Ecke des Lokals war nur eine Warnung einer der zahlreichen chinesischen Jugendbanden, die sich die Strassenzüge bei der Erhebung des Pizzo streitig machen. Wang führt ein gut frequentiertes Lokal. Doch die meisten kommen nur, um einen schnellen Espresso zu trinken oder um für einen Euro einen Zettel zu kaufen, auf dem zwei Dutzend Telefonnummern von Personen stehen, die Arbeit anbieten. Wovon Wang lebt, bleibt sein Geheimnis. Immerhin hat er dem italienischen Vorbesitzer 100 000 Euro «buona uscita», Abstandssumme, bezahlt, um einen Kaufvertrag abschliessen zu können. «Jeder zahlt hier das Schmiergeld», sagt er, «100 000 Euro sind die unterste Grenze für die Eröffnung eines Geschäfts. Viele zahlen deutlich mehr.»


Derselbe Familiensinn


Sechzig Mitglieder seines Familienclans seien für die «buona uscita» aufgekommen, sagt Wang. Nach und nach sind sie fast alle nach Mailand gekommen. Der Vater arbeitet hinter der Theke. Zwei Brüder haben ein paar Häuser weiter ein Restaurant eröffnet. Und da viele seiner Verwandten in China geheiratet haben, sind auch verschwägerte Familienmitglieder nachgezogen. Sie alle kommen aus Wenzhou, das in der südostchinesischen Provinz Zhejiang liegt. Die Sieben-Millionen-Stadt gilt als das Mekka der chinesischen Privatwirtschaft. Die Wenzhouren, wie die Bewohner der Stadt genannt werden, gelten als die geschäftstüchtigsten Chinesen schlechthin. Schon vor der wirtschaftlichen Öffnung des Reichs der Mitte zu Beginn der Achtzigerjahre bezeichnete Jiang Qing, die scharfzüngige Ehefrau des Vorsitzenden Mao Zedong, Wenzhou als «Schwanz des Kapitalismus», der abgehackt werden müsse. Heute werden 80 Prozent aller auf dem Globus benutzten Feuerzeuge in Wenzhou hergestellt, und die Hälfte aller Schuhe weltweit stammen aus der Provinz Zhejiang.

Aber nicht nur Wangs Familienclan stammt aus Wenzhou, sondern fast 90 Prozent der dreizehntausend Mailänder Chinesen überhaupt. Und sie kaufen in ihrer Heimat ein: Stoffe, Leder, Porzellan, Bijouterie – alles zu Spottpreisen. In der Chinatown blüht jedoch nicht nur der Einzelhandel. In den engen Gassen um die Via Sarpi stapeln Hunderte Grosshändler ihre Waren, die chinesische wie italienische Grossisten wiederum einkaufen, um sie in der ganzen Lombardei und darüber hinaus zu vertreiben. Das emsige Treiben, die ewig verstopften Strassen erregten schliesslich den Unmut der italienischen Anwohner. Aufgrund des Drucks von Leonettis Bürgerverein Vivi Sarpi beschloss die Mailänder Stadtverwaltung durchzugreifen.

Eine Verordnung gestattet seit Jahren schon das Laden und Entladen von Waren nur zwischen zehn Uhr morgens und zwei Uhr nachmittags. Die Bestimmung, die auch in andern Teilen der Stadt gilt, wird nun allein in der Chinatown rigide durchgesetzt. Ein Gesetz aus faschistischer Zeit, das sich damals gegen Bettler und Vagabunden richtete, verbietet, Waren mit Handkarren auf dem Trottoir zu transportieren. Nun findet es in der Chinatown plötzlich eine späte Anwendung. Die Stadtregierung kündete sogar an, Telefonkabinen zu schliessen, wenn neben ihnen keine öffentliche Toiletten stünden – und zwar für Männer und Frauen getrennt. Das richtete sich eindeutig gegen die Chinesen, die mit Billignummern nach Hause telefonieren. Schliesslich kündigte die Verwaltung an, man werde die Chinatown für den Verkehr – Anwohner ausgenommen – schliessen und den Grosshandel an den Stadtrand auslagern. Später wolle man eine Fussgängerzone einrichten. Für viele Chinesen wäre dies das Ende ihrer Geschäftstätigkeit. Man munkelt, die Preise für die Häuser würden zunächst in den Boden fallen und danach – wenn die Fussgängerzone eingerichtet wird – in den Himmel wachsen. Ein Fressen für Immobilienspekulanten.


Rote Fahnen, rote Köpfe

In dieser gereizten Stimmung verärgerter Italiener und verängstigter Chinesen war es nur eine Frage der Zeit, bis es zur Explosion kommen würde. Ein Anlass im April genügte. Zwei Polizistinnen klemmten einen Busszettel unter den Scheibenwischer eines Autos, das einer Chinesin gehörte. Es entspannte sich ein Wortgefecht. Bald eilten Hunderte Chinesen herbei – viele mit den roten Fahnen der Volksrepublik China. Bei der anschliessenden Schlägerei wurden etwa zwei Dutzend Chinesen und Polizisten verletzt. Spätestens als eine Woche danach über hundert Chinesen die zentrale Piazza del Duomo, die sonst Tauben und Touristen gehört, besetzten, merkten viele Italiener, was sich hier in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft an Konfliktstoff zusammengebraut hatte.

In Prato hingegen, einer Kleinstadt vor den Toren von Florenz, haben die Italiener sich mit den Chinesen längst arrangiert. In keiner Stadt Italiens gibt es proportional zur Bevölkerung auch nur annähernd so viel Chinesen wie in der alten toscanischen Tuchmacherstadt. Registriert sind im hundertachtzigtausend Einwohner zählenden Prato etwa gleich viel Chinesen wie im siebenmal grösseren Mailand: ungefähr zwölftausend. Während in Mailand vielleicht noch etwa dreitausend illegale (oder klandestine, wie man hier sagt) Chinesen hinzukommen, sind es in Prato wohl an die zwanzigtausend Sanspapiers. Die meisten von ihnen sind mit einem Touristenvisum eingereist und nach dessen Ablauf nicht zurückgekehrt. Auch wenn die Polizei sie bei einer Kontrolle erwischt, werden sie nur selten ausgeschafft. In der Regel drückt man beide Augen zu – weil man sich andernfalls nur bürokratischen Stress einhandelt, weil eine Rückführung teuer ist, und vielleicht auch, weil hier Polizisten, deren Väter oft noch selbst auswandern mussten, um die Familie durchzubringen, ein grösseres Herz haben als anderswo. Und so hoffen die Illegalen einfach auf die nächste «sanatoria», Massenlegalisierung. Zum letzten Mal wurde im März des vergangenen Jahres 350 000 Ausländern die Regularisierung ihres Aufenthaltsstatus angeboten.


Vom Gastarbeiter zum Gebieter

«Die Chinesen haben Prato gerettet», behauptet Surong Badeng, ein Mongole aus China, der hier als Übersetzer und Lehrer arbeitet und gerade eine eigene Schule für chinesische Sprache eröffnet hat. Anfang der Neunzigerjahre geriet die Textilindustrie – nicht zuletzt aufgrund der aus Fernost importierten Billigware – in eine tödliche Krise. In Prato schlossen die Produktionsstätten reihenweise ihre Tore. Da sprangen Tausende Chinesen ein, die 1989 im Rahmen einer «sanatoria» legalisiert worden waren. Sie kauften für vier bis sechs Millionen Lire (heute 2000 bis 3000 Euro) eine Behausung, stellten Familienmitglieder als Näherinnen und Näher ein. Heute gibt es in der Stadt rund dreitausend Nähfabriken mit durchschnittlich fünf bis zehn Beschäftigten.

Viele Arbeiter wohnen in der Fabrik – in kleinen Blechverschlägen innerhalb der Produktionshalle unter ärmlichsten Bedingungen. Auch die 24-jährige Ginzia. Jahrelang hat sie oft fünfzehn bis sechzehn Stunden am Tag gearbeitet. Trotz dem Hungerlohn hat sie sich so viel absparen können, dass es schliesslich für den Kauf einer Nähwerkstatt reichte. Nun beschäftigt sie fünf Personen, alles Verwandte. Ihre Wohnung besteht aus einem etwa sechs Quadratmeter grossen Zimmer. Da passen genau das Ehebett, der Tisch, der Stuhl und der Computer hinein, an dem ihr Ehemann Zheng über Skype sich mit seinen Freunden in China unterhält. Gekocht wird in der Halle, wo auch die Gemeinschaftstoiletten stehen.

Bis vor fünf Jahren haben die Chinesen als Näher und Subunternehmer für italienische Firmen gearbeitet. Doch nach und nach haben sie – mit nur wenigen Ausnahmen – auch diese übernommen. Die Strasse nach Macrolotto, der Industriezone von Prato, ist von Tafeln gesäumt, die auf Italienisch und Chinesisch für «Pronto moda» werben, für die rund dreihundert Konfektionsfirmen in der Stadt.

Zu den erfolgreichsten unter ihnen zählt Koralline. Sie gehört Francesco Zhan, der wie so viele Chinesen sich einen italienischen Vornamen zugelegt hat, «weil die Italiener sich chinesische Namen so schlecht merken können». Zhan braust im Mercedes-Offroader an. Wie ein arrivierter Firmeninhaber sieht der 26-Jährige in seinen Jeans und dem weissen T-Shirt nicht aus. Mit 18 Jahren hat er das Unternehmen gegründet. Heute beschäftigt er sechs italienische Designer. Auf dem Tisch liegen Hochglanzbroschüren seiner Kollektionen. «Ich bin anders als alle andern hier», sagt er selbstbewusst, «ich produziere keine Billigware.» Seine eleganten Röcke, sportlichen Hosen, Pants, ausgefallenen T-Shirts, Tops und Jacketts preist er in mehrseitigen Inseraten in «Glamour», «Cosmopolitan», «Elle» und «Vanity Fair» an. Achthundert Verkaufsstellen hat Koralline in Italien und zweihundert im Ausland. Fünf Millionen Umsatz machte der Jungunternehmer im vergangenen Jahr.

Zhan steht für eine neue Generation von Chinesen, die nicht mehr als Immigranten oder Gastarbeiter ein Schattendasein führen wollen, sondern sich als Vorboten einer expandierenden Weltmacht verstehen.

Thomas Schmid – Das Magazin – 34/2007 (Fotos: Beatrice Künzi)

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