Tausende von Straßen und Schulen sind nach ihm benannt, Städte und Provinzen tragen seinen Namen und sogar ein Land. Seine Büste ziert die Amtsstuben, seine Statue Plätze und Parks. Simón Bolívar ist in Lateinamerika so bekannt wie in Europa Napoleon. In seinem Heimatstaat Venezuela scheint »El Libertador«, der Befreier Südamerikas, gar omnipräsent, seit Präsident Hugo Chávez die bolivarische Revolution ausgerufen hat. Es gibt in Caracas eine Bolivarische Universität und bolivarische Komitees, und Bolivars Pferd ziert das Staatswappen der Bolivarischen Republik Venezuela, die sich eine »bolivarische Verfassung« gegeben hat.

Was indes Chávez, dem venezolanischen Linkspopulisten, recht ist, ist lvaro Uribe, dem konservativen Staatschef Kolumbiens, nur billig.
Auch er beruft sich auf die Tradition und lässt sich nur zu gern im Glanze prunkvoller Bolívar-Porträts fotografieren.
Der von den Präsidenten ständig beschworene Held gehört jedoch nicht nur dem Staat. Er ist auch tief in der Volksreligion verwurzelt. In einem weitverbreiteten synkretistischen Kult zählt er zum »Hof« der Geister des Krieges, die bei ekstatischen Zeremonien von den Gläubigen Besitz ergreifen. Eine Gipsfigur von Bolívar, die ihn meistens auf einem Schimmel reitend darstellt, steht auf vielen Hausaltären.
Wer aber war der reale Simón José Antonio de la Santøsima Trinidad Bolívar Palacios y Blanco, den alle so verehren, die Linken wie die Rechten, die Reichen wie die Armen, dieser wunderliche Hausgott Südamerikas?
Der große Mann war ein kleiner Mann, schmächtig, fast zierlich gebaut, aber von unbändiger Energie erfüllt. Ein Haudegen, ein Intellektueller, ein Freiheitskämpfer und ein Usurpator. Ein Techniker der Macht und ein politischer Visionär, dem am Ende doch alles zerronnen ist. Geboren wurde er 1783 in Caracas als viertes Kind einer der reichsten Familien der kreolischen Aristokratie des Generalkapitanats Venezuela, damals eine Kolonie der spanischen Krone.
Kreolen nannte man die Nachfahren der Spanier, die in der Neuen Welt geboren waren. Sie hatten sich überall in Lateinamerika zur wirtschaftlich führenden Schicht entwickelt, die politischen Machtpositionen jedoch waren Angehörigen des Königshauses und spanischen Kolonialbeamten vorbehalten. Boløvars Vater besaß Kupferminen, Kakaoplantagen, Sklaven. Auch Boløvars Mutter stammte aus begüterter Familie. Doch starben beide früh an Tuberkulose.
Im Alter von neun Jahren kommt Simón in die Obhut eines Onkels. Dessen Sekretär, Simón Rodrøguez, ein aufrührerischer Geist und begeisterter Rousseau-Leser, wird Hauslehrer des Jungen. 16 Jahre alt, kommt Bolívar zur weiteren Ausbildung nach Madrid. Er wohnt bei einem Amerikaner, der gerade der Geliebte der Königin ist. So erhält er Zugang zum Hof, wo er mit Prinz Ferdinand Federball spielt, dem künftigen König, dem er später die Kolonien entreißen wird. Bolívar lernt Sprachen, Tanz, Fechten und Mathematik, und er verliebt sich in die vier Jahre ältere Mara Teresa Rodrøguez (mit seinem Lehrer nicht verwandt). Sie heiratet den erst 19-Jährigen, der mit ihr heimkehrt nach Venezuela. Hier stirbt sie kurz darauf an Gelbfieber.
Bolívar reist erneut nach Europa. Es zieht ihn nach Frankreich, wo er 1804 Alexander von Humboldt trifft. Der Universalgelehrte ist just von seiner fünfjährigen Expedition durch Lateinamerika zurück. Als das Gespräch zwischen den beiden auf die spanische Kolonialherrschaft kommt, meint Humboldt: »Ich glaube schon, dass Ihr Land reif ist für die Unabhängigkeit, doch sehe ich den Mann nicht, der es vollbringen wird.« Als Aufforderung war dieser Satz wohl nicht gemeint.
Bolívar ist gerade 21 Jahre alt und führt in Paris das Leben eines Dandys. Wenige Monate später setzt sich Napoleon in Notre-Dame die Kaiserkrone aufs Haupt. Bolívar lässt sich das Schauspiel nicht entgehen. Die Krone hält er als überzeugter Republikaner für einen lächerlichen Kopfschmuck, doch der Jubel, der dem Gekrönten entgegenbraust, beeindruckt ihn gewaltig. Napoleon, Kaiser der Franzosen!
Als der gekrönte General 1808 seinen Spanienfeldzug beginnt, ist Bolívar schon wieder in seiner Heimat. Unter Napoleons Diktat danken in Madrid die Bourbonen ab. Der Kaiser setzt seinen Bruder Joseph auf den spanischen Thron.
In Lateinamerika fühlen die Kreolen, dass ihre Stunde gekommen ist.
Zuerst in Venezuela. Sie zwingen Spaniens Generalkapitän, die oberste Autorität am Ort, zum Rücktritt. Es ist ein Aufstand der Oberschicht gegen die Fremdherrschaft. Das einfache Volk steht abseits.
Innerhalb eines halben Jahres fällt der übergroße Teil des Subkontinents vom Mutterland ab. In Caracas wird am 5. Juli 1811 die erste Republik ausgerufen. Sie besteht gerade ein Jahr lang. Den Todesstoß geben ihr weniger die spanischen Soldaten als ein verheerendes Erdbeben, das gerade jene Städte zerstört, die von den Republikanern kontrolliert werden, und das deshalb weithin als Gottesurteil begriffen wird. Allein in Caracas sterben 10000 der 45000 Einwohner.
Bolívar, der beim Aufstand eine eher marginale Rolle gespielt hat, flüchtet übers Meer nach Cartagena, der wichtigsten Hafenstadt von Neu-Granada (dem heutigen Kolumbien). Dort aber hält es ihn nicht lange. Er hat eine Mission. Er hat sich dem Freiheitskampf verschrieben, also rekrutiert er Anhänger. 1812 fällt er mit einer 650 Mann starken Streitmacht wieder in Venezuela ein und erobert Caracas.
Im August 1813 ruft er die zweite Republik aus. Faktisch regiert der 30-Jährige jetzt als Militärdiktator. Doch die Versammlung der Stadtnotabeln verleiht ihm den Ehrentitel »El Libertador«.
Die Gefahr für die zweite Republik kommt nicht von Spaniens Soldaten, sondern von den Llaneros, der venezolanischen Variante der argentinischen Gauchos. Die Steppe des Tieflands (Llanos) wird zur Vendée Venezuelas. Der Spanier Tomás Boves, einst Schmuggler und Viehhändler, schafft es, die zumeist ungebildeten Llaneros für den Kampf gegen die reichen Kreolen zu mobilisieren. Aus dem Unabhängigkeitskrieg wird nun ein Bürgerkrieg, auf beiden Seiten grausam geführt. Die Llaneros ziehen mordend und plündernd durch die Städte, die zu den Republikanern halten. Währenddessen lässt Bolívar sämtliche spanischen Gefangenen, die er bei der Eroberung von Caracas gemacht hat, ermorden 800 an der Zahl. Kein Ruhmesblatt für den Libertador.
Seine Truppen kommen gegen Boves Reiterhorden nicht an. Als Caracas vor dem Fall steht, flüchten 20000 Zivilisten mit Bolívar und seinen Soldaten aus der Stadt. Nur 4000 bleiben zurück. Wieder zieht der »Befreier« übers Meer davon.
Bolívar gibt auch diesmal nicht auf. Die Unabhängigkeit seiner Heimat bleibt sein Lebensziel, und überdies ist er erst 31 Jahre alt. Im damals noch britischen Jamaika sucht er um englische Unterstützung nach. Vergebens. Schließlich verspricht ihm Haitis Präsident Alexandre Pétion Waffenhilfe unter der Bedingung, dass er in sämtlichen Gebieten, die er erobert, die Sklaven freilässt.
Aus südamerikanischen Flüchtlingen stellt Bolívar eine 250 Mann starke Invasionstruppe zusammen. Mit einer kleinen Flotte verlässt er im Mai 1816 Haiti und segelt zur Küste Venezuelas hinüber. In Carúpano, der ersten Stadt, die er einnimmt, dekretiert er die Freilassung der Sklaven. Doch Bolívar braucht Soldaten. So kommen nur jene Familien in den Genuss der Freiheit, deren männliche Mitglieder zwischen 14 und 60 Jahren ins Heer des »Befreiers« eintreten. Die meisten ziehen es vor, Sklaven zu bleiben aus Angst vor der Rache der Spanier.
Die spanische Restauration hat mittlerweile in ganz Lateinamerika gesiegt. Napoleon sitzt auf St. Helena. In Madrid hat Ferdinand VII.
den Thron bestiegen, und 11000 Soldaten sind in Südamerika gelandet, um das angeschlagene spanische Weltreich zu sichern. Doch Bolívar gelingt es, sich auf dem Kontinent festzusetzen. Im Juli 1817 nimmt er Angostura ein, das heutige Ciudad Bolívar, erklärt es zur Hauptstadt und proklamiert die dritte Republik.
Die kriegserprobten spanischen Regimenter indes sind ihm weit überlegen. So beginnt er, in Europa Söldner anzuwerben. Vor allem in England, das sich nach dem langen Kampf gegen Napoleon in einer tiefen wirtschaftlichen Depression befindet und wo zudem Abertausende von Soldaten demobilisiert sind, findet er zahlreiche Kriegswillige. Auch in Deutschland. Insbesondere im Königreich Hannover, das in Personalunion mit Großbritannien verbunden ist, haben Boløvars Agenten Erfolg. Und in Hamburg, wo der Senat der reichen Hansestadt wie immer und zu jeder Zeit froh ist, lästige Bettler und Vagabunden loszuwerden.
Etwa 6000 Fremdenlegionäre dürften am großen südamerikanischen Freiheitskampf beteiligt gewesen sein, die Hälfte von ihnen Engländer, auch sehr viele Iren und etwa 300 Deutsche. Einer von ihnen, der Major Otto Braun, befehligt zeitweise sogar Boløvars Leibwache und wird später im unabhängigen Bolivien Kriegsminister.
Bevor Bolívar nun seinen großen Eroberungsfeldzug beginnt, beruft er in Angostura den Kongress der neuen Republik ein. Die Rede, die er bei dieser Gelegenheit hält, ist heute in Südamerika Schullektüre.
»Gesetzgeber«, sagt er zu den Abgeordneten, »in Ihre Hände lege ich die oberste Gewalt Venezuelas.« Er tritt als »Oberster Befehlender Diktator der Republik« zurück und warnt vor einer Diktatur, »weil nichts so gefährlich ist, wie die Macht über eine lange Zeit hinweg bei ein und demselben Bürger zu belassen. Das Volk gewöhnt sich daran, ihm zu gehorchen, und dieser gewöhnt sich daran, es zu befehligen, woraus Usurpation und Tyrannei entspringen.« Bis zu seinem Tod, so verspricht Bolívar, wolle er nun ein einfacher Bürger der Republik bleiben. Er beschwört die Souveränität des Volkes, die Gewaltenteilung, die bürgerlichen Freiheiten, und die kommenden Zwistigkeiten ahnend, warnt er eindringlich: »Einheit, Einheit und nochmals Einheit muss unsere Devise lauten.« Am folgenden Tag wählt ihn das Parlament zum Präsidenten, und weil Krieg herrscht, stattet es ihn mit außerordentlichen Vollmachten aus. Bolívar verlässt den Kongress mit der gleichen Machtfülle, mit der er ihn betreten hat.
Noch aber ist das durch ihn ebenso befreite wie beherrschte Gebiet auf einen Zipfel im Osten Venezuelas beschränkt. Bolívar macht sich auf zu seinem legendären Feldzug, der seinen Ruhm begründen wird. Um die von den Spaniern kontrollierten dichter besiedelten Küstenregionen zu umgehen, zieht er mit 3000 Soldaten, mit Pferden und Maultieren, die Waffen und Munition schleppen, und mit einer Viehherde zur Nahrungssicherung erst durch die Tiefebene, durch Sümpfe und die Zuflüsse des Orinoco, dann über die eisigen Anden. Als er in Neu-Granada, also Kolumbien, eintrifft, sind die Spanier völlig überrascht – bei Boyacá wird im August 1819 ihr 3000 Mann starkes Heer vernichtend geschlagen. Bolívar macht 1600 Gefangene. In den eigenen Reihen fordert die Schlacht, die nur zwei Stunden gedauert hat, lediglich 13 Tote. Als der »Befreier« drei Tage später in Bogotá, der Hauptstadt Neu-Granadas, einzieht, ist der spanische Vizekönig als Indianer verkleidet samt Hofstaat bereits getürmt.
Nun eilt Bolívar von Sieg zu Sieg. Überall wird er gefeiert. Truppen, welche die Spanier in aller Eile ausgehoben haben, laufen jubelnd zu ihm über. Weniger als zwei Jahre nach der Schlacht von Boyacá zieht Bolívar triumphierend in seiner Heimatstadt Caracas ein. Bis auf zwei befestigte Häfen kontrolliert er nun ganz Venezuela und Neu-Granada, die er zu Kolumbien vereint. Der neue Staat ist fast sechsmal so groß wie Deutschland, hat aber kaum zwei Millionen Einwohner. Die Distanzen sind riesig. Weite Teile des Landes sind Dschungel und unwegsames Gebirge. Was sich in Caracas tut, erfährt man in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens, erst einige Wochen später.
Präsident des neuen Staates wird es erstaunt niemanden Simón Bolívar. Doch die Regierungsgeschäfte überlässt der »Befreier« dem Vizepräsidenten Francisco Santander, einem Juristen, der ihm in vielen Schlachten zur Seite gestanden hat. Er selbst macht sich auf nach Süden. Im Juli 1822 zieht er ins befreite Quito (Ecuador) ein, nach Caracas und Bogotá die dritte Hauptstadt, die ihm zu Füßen liegt.
Beim großen Ball am Abend wird ihm eine junge Schöne vorgestellt. Es ist Manuela Sáenz, eine exzentrische Dame aus Quito, verheiratet mit einem Engländer in Lima. Der kleine Bolívar ist ein leidenschaftlicher Tänzer. Er verbringt den halben Abend mit ihr und die ganze Nacht. Bis zu seinem Tod wird sie ihm der vertrauteste Mensch bleiben.
Bolívar, ruhelos wie immer, reitet nach Guayaquil weiter. In der Hafenstadt Ecuadors trifft er sich mit José de San Martøn, dem Befreier des Südens. Der Argentinier hat die Spanier aus Chile vertrieben und ist danach in Lima, der Hauptstadt Perus, eingezogen.
Nun kommen die beiden großen Freiheitskämpfer Südamerikas zusammen.
Über die Gespräche ist wenig bekannt. San Martøn zieht sich nach Argentinien zurück und überlässt die Befreiung des peruanischen Hochlandes dem Venezolaner.
Zwei Jahre später hat Bolívar das Land erobert. Die letzte Entscheidungsschlacht schlägt sein General Antonio José de Sucre: Nach seinem Sieg bei Ayacucho im Dezember 1824 gehört auch Hochperu (das damals Teil des Vizekönigreichs Ro de la Plata ist) zum Reich des »Befreiers« und trägt fortan dessen Namen: Bolivien. Die Spanier sind damit aus dem rohstoffreichen Hochland vertrieben, aus ihrer wirtschaftlich bedeutendsten Kolonie. Ganz Amerika ist befreit.
Bolívar steht im Zenit seiner Macht. Er herrscht über Peru, Bolivien und Kolumbien, das auch Venezuela und Ecuador umfasst. Während des gesamten Unabhängigkeitskrieges hat es immer wieder Verschwörungen und Intrigen gegeben. Jetzt, wo der gemeinsame spanische Feind besiegt ist, nehmen sie bedrohliche Ausmaße an.
In Caracas erhebt sich Boløvars alter Mitstreiter José Antonio Páez, um Venezuela aus Kolumbien herauszulösen. In Bogotá fordert Vizepräsident Santander den Rücktritt des »Befreiers« – in Bolivien bricht eine Revolte aus. Überall melden Caudillos ihre Machtansprüche an. Boløvars Traum von einer kontinentalen Föderation zerbricht.
Dafür gibt es viele Gründe: die Weite des Raumes, die fehlende Infrastruktur, der Mangel an geschulten Beamten. Vor allem aber stört der erwachende Nationalismus die Einigung und reproduziert die vom Kolonialismus geprägten politischen Strukturen. Es gibt Venezolaner, Peruaner, Argentinier, aber keine Südamerikaner.
Angesichts der Perspektive eines failing state, wie wir heute sagen würden, ernennt in Bogotá eine vom Gouverneur einberufene Versammlung Bolívar zum Diktator. » Wehe dem Volk, das sich daran gewöhnt, unter einer Diktatur zu leben«, warnt dieser erneut und nimmt an. Seine erste Amtshandlung ist die Entlassung des Vizepräsidenten. Dahinter steckt ein tief sitzender Konflikt. Santander, der Jurist, der »Mann des Gesetzes«, wie ihn Bolívar achtungsvoll nannte, als sie sich noch vertrugen, steht für die Liberalen, für eine starke Legislative und einen dezentralisierten Staat, Bolívar hingegen will einen autoritär verfassten, zentralisierten Staat. Sein Vorbild bleibt Frankreich, und ihm graut vor den Warlords, die nach eigenen Kleinstaaten gieren.
Ein Attentat im Herbst 1828, in das 30 Verschwörer verwickelt sind und über das Santander zumindest informiert ist, übersteht Bolívar dank seiner Geliebten Manuela, die ihn weckt und die Eindringlinge mit dem Säbel in der Hand aufhält, bis er durch ein Fenster entschlüpfen kann. Aber jetzt setzt ihm die Tuberkulose, die ihn schon seit seinem Feldzug in Peru plagt, immer heftiger zu. Als peruanische Truppen in Ecuador einfallen und im Süden Kolumbiens ein Aufstand ausbricht, macht er sich zum Krisenherd auf.
Über 10000 Meilen ist er in seinem Leben geritten. Nun aber kann er sich nur noch mühsam im Sattel halten. Es gelingt ihm zwar, an der Südfront wieder Ruhe herzustellen. Doch inzwischen hat ihm im Norden, in Venezuela, das sich selbstständig gemacht hat, sein alter Mitkämpfer Páez von Neuem den Krieg erklärt. Es brennt an allen Ecken.
Die Schmähschriften, die in Bogotá auftauchen, treiben den an Applaus gewöhnten Libertador zur Verzweiflung. Im März 1830 gibt er auf.
Todkrank zieht er sich auf ein Landgut vor der Stadt zurück. Im Mai wird sein Nachfolger gewählt.
Eine eigene Familie hat er nie gegründet, kein Sohn, keine Tochter wird um ihn trauern. Er verabschiedet sich von seiner geliebten Manuela und von Bogotá und macht sich mit einigen Getreuen auf seine letzte Reise, die 150 Jahre später der kolumbianische Schriftsteller Gabriel Garca Márquez in seinem historischen Roman Der General in seinem Labyrinth so eindringlich schildern wird. Bolívar reist an die Küste. Das Ziel ist unklar, vielleicht eine karibische Insel, vielleicht Europa. Seine Lebenskraft schwindet, sein Lebensmut. » Ich bin alt, krank, müde, enttäuscht, vergrämt, verleumdet«, schreibt er, »und schlecht bezahlt.«
Militärisch war Bolívar siegreich, politisch ist er gescheitert. Sein Ziel, die Schaffung einer lateinamerikanischen Föderation, hat er nicht erreicht. Zwanzig Jahre lang hat er gekämpft. Elf Jahre lang war er Präsident. Doch nun steht er vor einem Trümmerhaufen. Resigniert stellt der manische Schreiber in einem seiner letzten von insgesamt über zehntausend Briefen fest: »Ich habe auf dem Meer gepflügt und im Sand gesät.«
Seine letzten Tage verbringt er in der Nähe von Santa Marta in Kolumbien. Am 17. Dezember 1830 stirbt er einsam im Alter von nur 47 Jahren im Haus eines spanischen Freundes, gepflegt von einem französischen Arzt. Als Manuela vom Tod ihres Geliebten erfährt, lässt sie sich, in einem Anfall melodramatischer Verzweiflung, wie einst Kleopatra von einer Giftschlange beißen. Doch sie überlebt. Verbannt, verfemt, verarmt und vergessen verbringt sie die letzten 20 Jahre ihres Lebens in einer kleinen peruanischen Hafenstadt, wo sie Knoblauchzehen, Reis und schwarzen Tabak an die Walfänger verkauft.
Erst zwölf Jahre nach Boløvars Tod wurden seine sterblichen Überreste in seine Heimatstadt Caracas überführt und in der Kirche beigesetzt, in der er einst zum Libertador ausgerufen worden war. Nur das Herz sollte auf ausdrückliche Bitte der Regierung Neu-Granadas in Santa Marta bleiben. Doch die Urne mit dem kostbaren Organ ging später verloren. Niemand hat sie je gefunden. Recht so. Denn das Herz des »Befreiers«, sagen die Latinos, gehört weder Santa Marta noch Caracas, weder Kolumbien noch Venezuela, weder Chávez noch Uribe es schlägt in allen Völkern und Menschen Südamerikas.

Thomas Schmid – DIE ZEIT Nr.27 vom 28.06.2007, S.80

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