KOZANI/NAOUSSA. Die Kundschaft wurde weniger. Eines Tages konnte Dimitris die Miete nicht mehr zahlen. Schließlich räumte er seinen Jeans-Laden, nach nur zwei Jahren. „Wäre ich bloß in Deutschland geblieben“, ärgert sich der Grieche, der in Gelsenkirchen Früchte und Gemüse verkaufte, „wir lebten nicht schlecht, aber meine Frau wollte zurück.“ Nun verbringt er seine Tage auf dem Hauptplatz von Kozani und schlürft kalten Kaffee. Wie Kostas, mit dem Dimitris einst die Schulbank gedrückt hat. Der hat sein Restaurant vor einer Woche dichtgemacht: „Meine Stammgäste aßen immer häufiger selbst am Sonntag lieber zu Hause.“ Und Orestis, der zwanzig Jahre als Typograf in einer Klitsche arbeitete, die zu Jahresbeginn Insolvenz anmeldete, sagt nur: „Mein Leben ist zu Ende. Mit 45 kriege ich doch nirgends mehr einen Job. Was aus den drei Kindern einmal werden soll, weiß ich nicht. Wahrscheinlich werden sie auswandern.“
Alle klagen, alle jammern, alle stöhnen. Das Bild vom fröhlichen Volk der Griechen war schon immer trügerisch, doch jetzt ist es zerbrochen. In Kozani, einer Kleinstadt in Nordgriechenland, herrscht Depression, und kein Licht erscheint am Horizont. Angestellte im öffentlichen Dienst verdienen über zwanzig Prozent weniger als noch vor einem Jahr – und dies bei steigenden Preisen. Die Zeiten sind vorbei, als Hellenic Petroleum, der staatliche Erdölkonzern, seinen Beschäftigten 18 Monatslöhne bezahlte. Auch wurden die Prämien für pünktliches Erscheinen ersatzlos gestrichen. Griechenland ist pleite.
Es gibt zwei Möglichkeiten, einen Haushalt zu sanieren: Man kann die Einnahmen erhöhen oder die Ausgaben reduzieren. Das hoch verschuldete Griechenland hat beides gleichzeitig versucht. Die Mehrwertsteuer wurde angehoben und bei den Ausgaben wurde radikal gespart – mit dem Effekt, dass innerhalb eines Jahres 65000 Firmen eingingen und das ohnehin große Arbeitslosenheer 200000 Neuzugänge bekam, was wiederum zu einer Verminderung des Steueraufkommens führte. Unter dem Strich bleibt eine tiefe Rezession.
Die Dreckschleudern Europas
So wird nun das Tafelsilber verkauft. Der sozialistische Ministerpräsident Giorgos Papandreou will über den Verkauf öffentlicher Unternehmen fünfzig Milliarden Euro erlösen. Sogar Häfen und Airports werden angeboten. Die Privatisierungswelle löst in Griechenland Ängste aus, die längst auch Kozani erreicht haben. Hier liegen vier Braunkohleminen und fünf Kraftwerke. Darunter die beiden größten Dreckschleudern Europas. Die Gegend ist gezeichnet von Schornsteinen, Kühltürmen und Betonklötzen, die wie Spielzeuge eines Riesen wirken, die planlos in die Landschaft geworfen wurden. Ein Gewirr von Hochspannungsleitungen durchzieht die grüne Ebene, über der eine zarte bräunliche Dunstglocke schwebt. Das makedonische Kozani ist auch die Heimat von DEI, der staatlich kontrollierten Stromgesellschaft, die achtzig Prozent des Landes mit Energie versorgt. Noch besitzt der griechische Staat 51 Prozent der Aktien von DEI. Jetzt will er ein Drittel der Wertpapiere an Privatinvestoren verkaufen, um seine Schulden abzubauen.
Dimitris Papavramidis ist Direktor von Ptolemais, des ältesten Kohlekraftwerks ganz Griechenlands. An der Wand seines Büros hängen Gemälde und Fotos von sauberen Industrieanlagen, eleganten Kaminen, schlanken Röhren und Förderbändern. Die Bilder stammen aus einer Zeit, in der Kohle für Fortschritt und Moderne stand. Was Papavramidis von der Privatisierung hält? „Das ist Sache der Regierung in Athen“, meint der Direktor ausweichend. Aber man sieht ihm an, dass er mit deren Plänen hadert. Immerhin warf DEI im vergangenen Jahr einen Profit von 600 Millionen Euro ab. Für die Umwelt aber zeichnet sich eine lichte Zukunft ab. Die Dreckschleudern werden stillgelegt. Mit Hilfe von Auslandskapital soll hier die größte Solaranlage Europas entstehen. Die rund 4000 Beschäftigten der Kraftwerke und Minen aber sind dann überflüssig. Die Fotovoltaik erfordert andere Qualifikationen als der Bergbau.
Schon deshalb wendet sich Georgios Katanas vehement gegen die Privatisierung. „Die Regierung darf das Steuer nicht aus der Hand geben“, sagt der Gewerkschaftler, „der Staat muss eine Aktienmehrheit behalten.“ Katanas ist in der Führung der Genop-DEI aktiv, der Gewerkschaft der vergleichsweise gut bezahlten Elektrizitätsarbeiter von DEI. Konzernleitung und Arbeitnehmervertretung arbeiten in dem Unternehmen Hand in Hand. Die DEI zieht bei ihren Beschäftigten die Beiträge für die Gewerkschaft ein und alimentiert diese zudem jährlich mit 2,5 Millionen Euro.
Den Generalstreik gegen die Regierung Mitte Mai hat Georgios Katanas begrüßt. Immer wieder sorgt die Gewerkschaft für eine Unterbrechung der Stromversorgung. Ob er an einen Erfolg der Proteste glaubt? Katanas lächelt verlegen. Er weiß, dass es Rückzugsgefechte sind. Zugeben würde er es nie. Aber er ist überzeugt: „Wenn die Privatisierung kommt, dann werden hier Tausende arbeitslos.“ Dann wird Kozani nie mehr sein, was es mal war: eine stolze Stadt mit stolzen Arbeitern.
„Was Kozani noch vor sich hat, haben wir bereits hinter uns“, sagt Anastasios Karabatsos, Bürgermeister der dreißig Kilometer nordöstlich gelegenen Stadt Naoussa. Die Ortschaft am Fuß des dicht bewaldeten Vermio-Gebirges liegt inmitten von Obstplantagen und Weinbergen. Die Luft ist sauber. Aus den Fabrikkaminen steigt kein Rauch mehr auf. Naoussa ist die Gemeinde mit der höchsten Arbeitslosigkeitsrate Griechenlands. Zweiundvierzig Prozent, sagen die Leute auf der Straße. So soll es in der Zeitung gestanden haben. Na ja, dreißig Prozent, meint etwas vorsichtiger der „Bürgermeister der heroischen Stadt“, wie er sich auf seiner Visitenkarte nennt. Der Name geht auf den griechischen Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanische Reich zurück. 1822 kam es in Naoussa zu heftigen Kämpfen. Die Türken obsiegten, und als Rache massakrierten sie in der Stadt 1241 Griechen. Vermutlich, um einer Vergewaltigung durch die Soldateska zu entgehen, stürzten sich danach dreizehn Frauen mit ihren Kindern von den Felsen in die Aranitza, den Fluss, der Naoussa durchzieht. Das sei historisch verbürgt, sagt der Bürgermeister. Jedenfalls gibt es ein Denkmal.
Derselbe Fluss, in den die verzweifelten Frauen sprangen, hat die Stadt später zu einer der reichsten Nordgriechenlands gemacht – zum Manchester des Balkans, wie man hier sagte, bevor die englische Industriemetropole verrottete. An der Aranitza, deren Wasserkraft die Maschinen antrieb, entstanden zahlreiche Spinnereien. Von der großen Zeit künden an ihren beiden Ufern alte leerstehende Fabriken, in denen einst aus heimischer Baumwolle Garn gesponnen wurde. Vor fünfzig Jahren hatte Naoussa 12000 Einwohner, von denen 4000 in der Textilbranche arbeiteten. Den Todesstoß versetzte der Branche die Öffnung des Eisernen Vorhangs. Innerhalb von wenigen Jahren wanderten die Firmen wegen günstigerer Lohnkosten ab, vor allem nach Bulgarien. Heute gibt es in Naoussa nur noch eine einzige Textilfabrik. Sie steht außerhalb der Stadt und beschäftigt gerade mal 200 Leute. Der wirtschaftliche Niedergang ist augenfällig. In der Laranas-Straße, dem nach dem erfolgreichsten örtlichen Textilunternehmer benannten größten Boulevard von Naoussa, stehen viele Geschäfte leer.
Entwicklungspotenzial für seine Stadt sieht Bürgermeister Karabatsos vor allem im Tourismus – und hofft dabei vom Ruhm der benachbarten Orte Pella und Vergina zu profitieren. In Pella wurde Alexander der Große geboren, der in seinem kurzen, nur dreiunddreißig Jahre dauernden Leben ein Reich gründete, das von Makedonien bis zu den Ufern des Indus reichte. Die alte Königsstadt ist bloß zu einem kleinen Teil ausgegraben. In Vergina hingegen ist das erst 1977 entdeckte Grab Philipps II., Vater von Alexander dem Großen, einen Besuch wert. Man konnte es dem König zuordnen, weil man zwei unterschiedlich lange goldene Beinschienen einer Prunkrüstung fand und aus der Literatur wusste, dass das eine Bein des Monarchen kürzer als das andere war. Das Grab steht inzwischen auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes der Menschheit.
Auch Naoussa selbst kann zu dieser über 2300 Jahre alten Geschichte etwas beitragen. Außerhalb der Stadt hat man Reste jener Schule freigelegt, in der der Philosoph Aristoteles, Begründer der klassischen Logik, einst den 14-jährigen Alexander unterrichtet hatte. Es biete sich geradezu an, Synergien zu entwickeln und die drei antiken Fundstätten im Verbund touristisch zu vermarkten, sagt Karabatsos. Wenn Touristen kommen, braucht man Hotels mit Zimmermädchen, Restaurants mit Kellnern, Stadtführer, Taxichauffeure. So ließe sich womöglich eine Aufwärtsspirale in Gang setzen, wo es bis jetzt doch immer nur abwärts gegangen ist.
Einfach zu teuer
Im Übrigen setzt der Bürgermeister auf die Landwirtschaft. In Naoussa, behauptet er, wüchsen die besten Pfirsiche der Welt. Das ist wohl übertrieben. Ein Großteil der Ernte wird jedenfalls nach Russland exportiert. Womit aber Anastasios Karabatsos durchaus recht haben könnte, oder worin ihm zumindest die meisten Nordgriechen recht geben: In Naoussa wächst der beste Wein Griechenlands. Von hier stammt der Xinomavro, auf deutsch: sauerschwarz, ein dunkler Wein mit hohem Säuregehalt. Er wird mindestens ein Jahr lang im Eichenfass gelagert.
Doch nun hat die Krise auch den Weinbau erreicht. „Ein guter Xinomavro von den lehmig-steinigen Böden der Osthänge der Vermio-Berge ist für viele Griechen einfach zu teuer geworden“, sagt Yiannis Dalamara, einer der drei Winzer von Naoussa, die nur biologisch Wein anbauen, „mein Absatz ist im letzten Jahr um dreißig Prozent eingesackt.“ Eine Zeit lang hat Dalamara, der in fünfter Generation Weinbau betreibt, seinen Negoska, eine säureärmere Sorte, für 36 Euro die Flasche an Lafayette in Paris verkauft. Dieses Jahr hat er auf dem norwegischen Markt Fuß gefasst. Aber er bekommt die Depression doch zu spüren. Früher konnte er in seiner Degustationsabteilung jährlich 4000 bis 5000 Besucher begrüßen, jetzt sind es deutlich weniger geworden.
Anastasios Karabatsos, der Bürgermeister, hofft, dass in der Krise nun viele jüngere Griechen aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft ein Auskommen suchen. Dalamara ist da skeptisch. Er hält sich, wie die andern Winzer auch, an die Albaner. „Das sind gute Arbeiter“, sagt er, „und die jungen Griechen wollen nicht mehr Wein lesen, die wollen alle Chefs sein.“
Vielleicht aber ist es auch einfach eine Frage des Geldes: Die Griechen machen es für diesen Lohn nicht, nicht für vierzig Euro am Tag, die Albaner hingegen schon. Und natürlich wird ein Winzer versuchen, seine Kosten niedrig zu halten, damit er konkurrieren kann, damit er selbst ein Einkommen findet, damit es sich auch rechnet? Weshalb sollten für ihn andere Regeln, eine andere Logik gelten als für den siechen Staat der Griechen?
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 18.05.2011