METLAOUI. Es ist ein grauenhaftes Foto, eines jener Bilder, das man sofort wieder vergessen möchte und das sich doch tief ins Gedächtnis einbrennt. Da liegt, in Nahaufnahme, ein junger Mann mit nacktem blutendem Oberkörper auf dem Pflaster, ein Auge weit geöffnet. In dem anderen Auge steckt ein langes Messer. Jamil Tababi, der vor seinem ausgebrannten Laden steht, schaltet das Handy aus, und das Foto des toten Mannes verschwindet vom Display. Mohamed Ghezali hieß der Mann. Er ist einer von dreizehn Menschen, die bei Stammesfehden in Metlaoui umgekommen sind.
Metlaoui ist eine Stadt im Zentrum Tunesiens. Hier befindet sich die größte Phosphatmine des Landes. Allah, so sagen die Leute hier, hat die Gegend mit Reichtum gesegnet, aber die Menschen sind arm. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Metlaoui ist momentan die einzige Stadt Tunesiens, in der es eine Ausgangssperre gibt. Sie beginnt ab 18 Uhr und dauert bis 6 Uhr früh.
Die tödlichen Auseinandersetzungen vor zwei Wochen waren die schlimmsten im ganzen Land seit der Jasmin-Revolution vom 14. Januar. Damals wurde der Diktator Zine El Abidine Ben Ali ins Exil gejagt. An diesem Montag beginnt in Abwesenheit des Angeklagten ein Strafprozess gegen Ben Ali in Tunis. Doch es spricht vieles dafür, dass sich hier in Metlaoui die alten Kräfte mit ihrer Niederlage noch lange nicht abgefunden haben.
Angriff und Rache
Tababi, der Mann mit dem schrecklichen Foto in seinem Handy, verkaufte in der Marktgasse von Metlaoui Mobiltelefone. Er berichtet, eine Horde vom Stamme der Bouyahia sei zu seinem Laden gekommen. Die Angreifer hätten geschrien, er sei ein Fremder. Sie hätten erst seinen Laden geplündert und danach in Brand gesteckt.
Gegenüber, auf der andern Straßenseite, liegt die verkohlte Imbissbude von Chabam Rejab. Er hat drei Kinder und weiß nicht, wie er sie nun ernähren soll. Der große Ofen für die Hähnchen ist weg. Wie auch der Herd, auf dem er seit Jahren Steaks, Schawarma und Würste gebraten hat. „Es waren Bouyahia“, sagt Rejab, „es war am Freitag.“
In der rußgeschwärzten Metzgerei von Amor Dinari, die gleich neben Rejabs Ruine steht, stinkt es entsetzlich nach verwestem Fleisch. „Sie kamen am Samstag“, berichtet der Metzger. Er vermutet, es waren Leute vom Stamm der Eljeridaya, die Rache üben wollten. Weil Dinari ein Bouyahia ist, einer der wenigen unter den Ladenbesitzern der Marktgasse. „Chabam und ich waren immer Freunde“, betont er, „ich habe ihm seit Jahren das Fleisch geliefert, und natürlich bleiben wir Freunde.“ Nein, Stammesauskämpfe seien das nicht, betonen beide einmütig, da seien Provokateure am Werk.
Bouyahia, Eljeridaya, Slama, Maâmar – jeder weiß hier, welchem Stamm er angehört. Doch behaupten in der Marktgasse alle, die Stammeszugehörigkeit habe nie eine Rolle gespielt. Man habe sich vielleicht gehänselt, mal Witze übereinander gemacht. Als vor drei Jahren im ganzen Phosphat-Gebiet Streiks ausbrachen, die sechs Monate lang andauerten, die einzigen großen Unruhen in Tunesien während der 23 Jahre dauernden Diktatur Ben Alis, da hätten jedenfalls alle zusammengestanden und gemeinsam gekämpft. Und natürlich auch bei der Revolution im Januar.
Metlaoui ist eine junge Stadt. Sie wurde von den Franzosen gegründet, die 1881 in Tunesien einmarschierten, ein Protektorat errichteten und schon wenige Jahre später hier Phosphate fanden. Von weither kamen damals die Leute, um in Bergwerken zu arbeiten. Noch immer gibt es in Metlaoui ein französisches, ein libysches, ein algerisches und ein marokkanisches Viertel, auch wenn die Kolonialherren und Gastarbeiter längst abgezogen sind.
Die Angehörigen der verschiedenen Stämme leben aber auch heute noch in getrennten Stadtvierteln. Die Bouyahia haben sich auf der linken Seite der Hauptstraße angesiedelt, die Eljeridaya im algerischen Viertel, in dem der Hauptmarkt liegt. Viele Bouyahia behaupten, die Stadt gehöre ihnen, weil schon der große tunesische Schriftsteller Mostafa Khraief sie als Erde der Bouyahia bezeichnet habe, und die Eljerdaya seien gar kein Stamm, sondern nur Leute, die aus dem nahen Dorf El-Jerid zugewandert seien.
Faouzi, der seinen Nachnamen nicht nennen will, mag sich keinem Stamm zuordnen. Er ist Abkömmling algerischer Einwanderer und handelt mit Farben und Lacken, mit Pinseln und Malerrollen, mit Gips und Zement, ein lukratives Geschäft in Zeiten, in denen zerstörte Läden renoviert werden müssen. Er behauptet, nach einer Auseinandersetzung um den Verkauf von Haschisch habe eine Bande von Bouyahia einen Eljeridaya getötet. Noch am selben Freitag habe der inzwischen festgenommene Polizeileutnant Mansur Brahmi vom Minarett der Moschee herab gezielt ein 14-jähriges Eljeridaya-Mädchen erschossen, um die Situation anzuheizen. Später sei auch Mohamed Ghezali, der tote Mann auf dem Foto, ebenfalls Eljeridaya, bedroht worden. Dieser habe sich zusammen mit seinem Vater in seiner Werkstatt verschanzt und schließlich aus Notwehr auf die Angreifer geschossen. Etwa fünf Bouyahia seien dabei umgekommen. Am Sonntag, als schon tausende Bouyahias plündernd den Stadtteil der Eljeridayas überfielen, sei dann Mohamed unter den Augen der Polizei gelyncht worden. Man habe ihm das Herz herausgerissen, die Genitalien abgeschnitten und ein Messer ins Auge gerammt. Auch Nasredin, sein Vater sei getötet worden.
Mit Messern und Jagdflinten
Habib Ghezali, Bruder Nasredins und Onkel Mohameds, ist Pedell einer Grundschule. Vor seinem Haus stehen fünf Automotoren, die er aus der ausgebrannten Werkstatt seines Neffen gerettet hat. Er legt eine DVD in seinen Laptop ein und zeigt drei Kurzfilme. Auf dem ersten ist deutlich zu erkennen, wie mit Stöcken, Messern und Jagdflinten bewaffnete Menschen auf andere Menschen einschlagen, ein zweiter zeigt, wie sein Neffe mit Füßen getreten wird, und auf einem dritten ist dessen verstümmelte Leiche im Krankenhaus zu sehen. Es sind Videos, die über Facebook verschickt werden. Jeder hier hat sie gesehen. Vor einem halben Jahr führten Filme von prügelnden Polizisten im Internet zum Aufstand gegen Ben Ali. Jetzt scheinen die Gräben zwischen den Stämmen aufzureißen.
Die Jasmin-Revolution, die zum arabischen Frühling führte, begann mit der Selbstverbrennung eines arbeitslosen Jugendlichen in Sidi Bouzid, das unweit von Gafsa liegt, im Landesinnern, da wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist. Eine relativ gut gebildete Jugend begehrte auf und forderte Arbeit und ein Leben in Würde, ohne ständige Entmündigung, ohne Angst vor Polizeiknüppeln und Folter. Arbeit, das bedeutet, eine Wohnung kaufen und eine Familie gründen zu können. Wer Arbeit hat, hat eine Zukunft. Die Revolution hat gesiegt, vorerst jedenfalls. Aber die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Tunesien produziert heute weniger als vor einem Jahr und die Einnahmen aus dem Tourismus haben sich halbiert.
Die Revolutionsgewinner haben also heute mehr Probleme als vor der Revolution. Das macht die Lage so gefährlich. Gewaltausbrüche wie die in Metlaoui können schnell das ganze Land erfassen. Auch wenn niemand so genau zu wissen scheint, wer hier eigentlich gegen wen kämpft. Nichts ist gefährlicher als das Chaos.
Habib Ghezali, der Onkel des massakrierten Mohamed, denkt, dass irgendwelche dunklen Kräfte des alten Regimes die Bouyahia aufgestachelt haben. Kräfte, die letztlich auch die Polizei steuern würden. „Weshalb denn sonst hat die Polizei zwei Tage lang nicht eingegriffen, obwohl achttausend Bouyahias plündernd und brandschatzend durch die Stadt zogen?“
Diese Frage stellt sich auch Ali Kalthoum. Der Rechtsanwalt in Gafsa, der Hauptstadt des Regierungsbezirks, verteidigt zwei Angehörige von Opfern der Auseinandersetzungen. Er selbst ist auch Bouyahia, aber weit davon entfernt, seinen Stamm in Schutz zu nehmen. „Wie ist es möglich, dass die Polizei zwei Tage lang nicht eingreift, nachher aber fähig ist, innerhalb von kurzer Zeit 106 mutmaßliche Täter festzunehmen?“, fragt er. „Und weshalb wurde niemandem die Waffe abgenommen?“
Der Polizeikommissar Raja, der seinen wirklichen Namen nicht in der Zeitung lesen will, gilt in Gafsa als ehrlicher Mann. Der Kommissar behauptet, schon am Montag vor den Auseinandersetzungen seien die beiden Polizeistationen von Metlaoui angezündet worden. Die Polizisten hätten sich in der Stadt nicht mehr auf die Straße getraut, als Tausende randalierend und vandalierend über die Marktstraße zogen. Denn seit der Revolution darf die wegen Korruption und Folter weithin verhasste Polizei keine Schusswaffen mehr tragen. „In Metlaoui aber“, sagt Raja, „hat so gut wie jeder, ob Bouyahia, Eljeridaya oder Slama, eine Jagdflinte.“ In der vergangenen Woche demonstrierte in Gafsa die Polizei – für Helme und schusssichere Westen. Und wie konnte die unbewaffnete Polizei in der aufgeheizten Stimmung dann 106 Personen festnehmen? Man habe bewaffnete Spezialeinheiten der Nationalgarde aus Tunis herbeibeordert, sagt Raja.
Geheime Machtspiele
„Im Bezirk Gafsa“, sagt Mohamed Miraoui, Sekretär der UGTT, des mächtigen Gewerkschaftsverbandes, „beträgt die Arbeitslosigkeit heute 40 Prozent. Da sind die relativ gut bezahlten Arbeitsplätze im staatlichen Phosphat-Konzern CPG für viele die einzige Hoffnung, ein Leben voller Entbehrung hinter sich zu lassen und sich eine Zukunft zu bauen.“ Bis 2008 oblag es der örtlichen Gewerkschaft, die Arbeitsplätze zu verteilen. Miraouis Vorgänger, Amara Abbassi, aber war ein Bouyahia, und sein Stamm kontrollierte auch die Gewerkschaftssektion von Metlaoui und damit den Zugang zu den Arbeitsplätzen bei der CPG. „Da gab es viel Günstlingswirtschaft“, gibt Miraoui zu. Mit der Revolution aber musste Abbassi, ein Mann des Regimes, der gleichzeitig nationaler Abgeordneter der inzwischen aufgelösten Regierungspartei RCD war, den Hut nehmen.
Mit ihm verloren die Bouyahia in Metlaoui ihren wichtigsten Fürsprecher. Dass im März dann ein Schreiben der CPG auftauchte, in dem der Konzern zwei Drittel aller neuen Arbeitsplätze den Bouyahia versprach, obwohl sie nur einen Drittel der örtlichen Bevölkerung ausmachen, war eine gezielte Provokation der alten abgehalfterten Notabeln der Region. Sie hetzen die Stämme gegeneinander auf, um Unruhe zu schaffen und die Sehnsucht nach Ordnung zu befördern, nach der alten Ordnung. Darin sind sich der neue Gewerkschaftssekretär, der Polizeikommissar, der Rechtsanwalt und viele Bewohner von Metlaoui einig. Die sozialen Spannungen haben auch wirtschaftliche Folgen. So ist die Förderung von Phosphat seit der Revolution um 60 Prozent zurückgegangen, weil Arbeitslose immer wieder Zugangsstraßen zu den Bergwerken blockieren oder die Gleise, auf denen das Phosphat zur Weiterverarbeitung nach Gabès, an die Küste, transportiert wird.
Vor dem Verwaltungsgebäude der Chemischen Gruppe Gafsa, dem zweitgrößten Arbeitgeber der Region, haben Arbeitslose ein Zelt aufgebaut. Der Konzern, der zu 70 Prozent in staatlicher Hand liegt und Phosphat verarbeitet, hat 300 Arbeitsplätze, verteilt über den ganzen Bezirk, ausgeschrieben. 12000 Bewerbungen sind eingegangen. Auch Sofian Fatoum hat seine Unterlagen eingeschickt. Der diplomierte Chemiker hat Chancen, wenn es gerecht zugeht. Denn Langzeitarbeitslose, Ältere und sozial Schwache werden bevorzugt. Sofian ist seit neun Jahren arbeitslos, 36 Jahre alt und lebt notgedrungen noch immer bei seinen Eltern. Wenn er den Job kriegt, wird er 600 Dinar – umgerechnet 300 Euro – monatlich verdienen. Wenn er tüchtig spart, wird er eine Familie in einem Alter gründen können, in dem man hier früher Großvater wurde.
Mohamed Ismail, der schon zwei Wochen hier campiert, hat nicht allzu viel Vertrauen ins Management des Chemiekonzerns. Er zückt ein Papier, auf dem die Verteilung der Arbeitsplätze auf die verschiedenen Gemeinden des Bezirks ersichtlich ist. „Die Jobs werden nicht proportional zur Einwohnerzahl vergeben“, stellt der diplomierte Elektriker fest. Gemeinden, in denen Arbeitslose Straßen sperrten oder die Wasserzufuhr unterbrachen, werden offenbar bevorzugt, um die Gemüter zu beruhigen. „Wir haben den Verwaltungsangestellten Schokoladen und Blumen gebracht“, sagt Mohamed, „um zu zeigen, dass es auch friedlich geht.“
Blockaden mag auch er nun nicht mehr ausschließen. Doch man werde sich auf keinen Fall wie die Leute in Metlaoui manipulieren lassen. Über die Stammesfehde haben die Arbeitslosen im Zelt lang diskutiert. Dann haben sie eine Kollekte gemacht und 125 Liter Milch, 600 Liter Mineralwasser, Biskuit und Zucker nach Metlaoui gebracht, wo der Markt seit zwei Wochen geschlossen ist. Es sieht so aus, als häten sie erkannt, was zu tun ist, um die Gewalt einzudämmen. Sie lassen sich nicht verrückt machen und bleiben freundliche Menschen. Das ist schon eine ganze Menge in diesen Tagen.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 20.06.2011