ATHEN. Zumindest an diesem Mittwoch scheint er der mächtigste Mann Griechenlands zu sein. Yiannis Panagopoulos sitzt in seinem Chefsessel. Er ist völlig ruhig, während Funktionäre herumwieseln, Telefone klingeln, Akten gereicht werden und der Lärm von Sprechchören in sein Büro dringt. Von seinem Balkon aus sieht man Tausende Menschen zum Sitz der GSEE strömen. Die GSEE ist der Dachverband der griechischen Gewerkschaften, und Panagopoulos ist ihr Boss. Seit Mitternacht streiken die Fluglotsen. In Piräus, der Hafenstadt bei Athen, liegen die Fähren zur griechischen Inselwelt vor Anker. In der Hauptstadt sind ab zehn Uhr die Zugänge zur U-Bahn zugesperrt. Die Taxi-Chauffeure sind für sechs Stunden in Streik getreten. Seit Dienstag schon sind staatliche Ämter geschlossen, Lehrer und Steuereintreiber im Ausstand, die Ärzte versehen nur einen Notdienst. Er wird diese Nacht mehr als üblich gebraucht werden. Mit Verletzten wird gerechnet. Noch kann Panagopoulos nicht wissen, dass der Generalstreik Menschenleben kosten wird. Drei Menschen verbrennen in einer von Randalierern angezündeten Bankfiliale.
„Die Wut ist riesig“
Der Gewerkschaftsboss weiß wohl, dass die Regierung die harten Sparmaßnahmen, ausgehandelt mit EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, trotz aller Massenproteste nicht zurücknehmen wird. Er weiß, dass das Parlament, in dem die regierende sozialdemokratische Pasok eine absolute Mehrheit hat, morgen zustimmen wird. Gefragt nach dem Sinn des Generalstreiks sagt der Mann, der mit einer randlosen Brille den Charme eines Buchhalters ausstrahlt: „Diese Krise ist keine griechische Krise, sondern eine europäische, deshalb muss eine europäische Lösung gefunden werden.“ Dann warnt er vor Rezession, vorm rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit, vor geschlossenen Läden. Dass es so kommt, daran besteht kein vernünftiger Zweifel. Auch die europäischen Krisenmanager gehen davon aus, dass die radikale Senkung der Löhne zum wirtschaftlichen Abschwung führt. Die Pasok, der auch Panagopoulos angehört, heißt das Konzept gut. Der Gewerkschaftsboss sagt dazu: „Die Partei muss nicht Angst haben, dass ich austrete, sondern dass ihr Fußvolk austritt.“
Draußen sind inzwischen Zehntausende auf die Straßen gegangen: Gewerkschaftler aller Professionen, die gegen Lohnkürzungen protestieren, Studenten, denen der Stellenstopp im öffentlichen Dienst die Zukunft verbaut, Rentner, die den Gürtel noch enger werden schnallen müssen. Maoisten, Trotzkisten, fein nach Grüppchen sortiert. Ein Anarchist, von oben bis unten schwarz gekleidet, wie es sich für einen Anarchisten gehört, verteilt ein Flugblatt mit dem Titel: „Nicht Griechenland steckt in der Krise, sondern der Kapitalismus“. Der 69-jährige Tatsis Padellis, Präsident der kommunistischen Gewerkschaft für Rentner des Privatsektors, hält sich an einem Spruchband fest, auf dem es heißt: „Nicht einen Euro für die Kapitalisten“. 45 Jahre hat er als Elektriker gearbeitet, jetzt befürchtet er eine Rentenkürzung. „Die Regierung holt das Geld bei uns“, sagt er, „statt bei denen, die es gestohlen haben.“ Der Zorn ist groß.
„Die Wut ist riesig“, sagt Michalis Psalidopoulos, „weil hier niemand je zur Rechenschaft gezogen wird.“ Der Professor für Wirtschaftsethik an der Universität Athen verweist nur auf Theodoros Tsoukatos. In Athen kennt jeder den Fall, obwohl er schon elf Jahre zurück liegt. Der Abgeordnete der Pasok hatte von einem Siemens-Mann nachweislich eine Million D-Mark entgegengenommen. Der deutsche Konzern wollte sich den Auftrag für den Aufbau eines Sicherheitssystems für die Olympischen Spiele 2004 sichern und hatte eine stattliche Reihe von Parlamentariern beschenkt, auch Tsoukatos. Er behauptete, das Geld an die Partei weitergeleitet zu haben. Die will es nie erhalten haben. Tsoukatos ist bis heute ein freier Mann. „Die Wut ist riesig“, wiederholt der Professor, „aber dieser Generalstreik ist revolutionäre Gymnastik, mehr nicht, viele Griechen sind in ihrem Nationalstolz verletzt“.
Gerade in Griechenland, wo die Europabegeisterung höher als in vielen andern Ländern war, im Land der Griechen, wo Zeus in Europa einst so verliebt war, dass er sich in einen Stier verwandelte, um die Tochter des phönizischen Königs zu entführen, in diesem Land macht sich nun große Verbitterung über Europa breit, gepaart mit Groll auf das wirtschaftlich starke Deutschland und mit Spott über dessen Kanzlerin. Angela Merkel hat mit Hilfszusagen gezögert, um bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nicht Stimmen zu verlieren. Da ist man sich hier einig. Und auch darin, dass dies die Kosten für eine Überwindung der Verschuldungskrise in die Höhe getrieben hat. „Aber die Deutschen schenken uns ja gar nichts“, sagt Despina Spanou, die unter einem roten Transparent marschiert, „sie holen sich alles mit fünf Prozent Zinsen zurück!“ Die resolute Frau ist Vorstandsmitglied von Adedy, der mächtigen Gewerkschaft der Staatsangestellten, die schon am Dienstag in Streik getreten ist. „Besser wäre es gewesen“, sagt Spanou, die auch der im Parlament vertretenen Syriza, der Koalition der radikalen Linken, angehört, „wir hätten uns Geld bei den Chinesen oder Russen geborgt.“
Adedy-Chef Spiros Papaspiros macht eine einfachere Rechnung auf. „Wenn 8 000 Griechen die 20 Milliarden Euro, die sie dem Staat schulden, herausrücken, hätten wir genug, um die aktuelle Krise zu überbrücken“, sagt der bullige Mann mit Dreitagebart, „wir müssten dann schnell, aber eben nicht übereilt, dauerhafte Lösungen angehen.“ Die Lösung, die Europa den Griechen anbiete, sei nur eine scheinbare, sagt der Gewerkschaftler. Tatsächlich könnte Griechenland nach einem Einbruch der Steuereinkünfte des Staates aufgrund einer Rezession wieder in der alten Schuldenfalle landen. „Das Sparpaket trifft die Falschen, die Unschuldigen“, sagt Papaspiros, der auch Pasok-Funktionär ist. Die Pasok sei weiterhin seine Partei, sie gehöre schließlich nicht Jorgos Papandreou, dem Ministerpräsidenten. Dass Griechenlands große Parteien aber autoritär geführt werden, bestreitet er nicht. Vermutlich werden alle Pasok-Mitglieder im Parlament geschlossen für das Sparpaket stimmen. Und was bringt der Protest, der Generalstreik? „Wir wollen Druck machen, ein politisches Klima herbeiführen, in dem die Regierung gezwungen wird, sich mit uns an einen Tisch zu setzen, statt sich vom Ausland alles diktieren zu lassen“, sagt Papaspiros.
Ratlosigkeit in Exarchia
„Man darf sich nicht täuschen lassen“, hatte Professor Psalidopoulos gewarnt, „viele Menschen gehen zwar heute auf die Straße, noch mehr aber bleiben zu Hause. Sie sehen keinen Weg, wie sie das Sparpaket verhindern können. Sie haben resigniert und sind gewissermaßen in die innere Emigration gegangen.“
In der Zwischenzeit hat sich die Massendemonstration im Zentrum von Athen aufgelöst. Wie erwartet, kommt es zu Ausschreitungen. Gerüchte von Toten machen die Runde. Sie werden schon bald von Polizei und Feuerwehr bestätigt. Im Exarchia-Viertel herrscht eine bedrückte Stimmung. Als vor anderthalb Jahren hier, in der Hochburg der radikalen Linken, ein 15-Jähriger von der Polizei erschossen wurde, sorgten aufgebrachte Jugendliche tagelang für Randale, setzten Autos in Brand und zerschepperten die Scheiben von Geschäften. Diesmal aber ist nicht die Polizei, sondern eine Gruppe vermummter Demonstranten schuld am Tod unbeteiligter Menschen. Es herrscht nicht mehr Wut in Exarchia, sondern Ratlosigkeit. Man wird morgen wenig über die Gewerkschaften sprechen und auch wenig über den Generalstreik sprechen. Schlagzeilen werden die Toten machen.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, 06.05.2010