Gründonnerstag in Caracas

Es war Gründonnerstag, der 19. April 1810, und der Gouverneur von Caracas, Feldmarschall Vicente de Amparan, hatte um sieben Uhr früh vor der Kathedrale den Stadtrat versammelt. Wie es die Sitte erforderte, wollte man gemeinsam der Heiligen Messe beiwohnen. Doch da kam ein Bote an und raunte dem Gouverneur zu, er werde im Rathaus erwartet, es sei dringend. Amparan schritt also über den großen Platz, auf dem schon außergewöhnlich viel Menschen aufgeregt diskutierten, zurück Richtung Rathaus.

Am Vortag war in La Guaira, dem Hafen 20 Kilometer nördlich von Caracas, die Schonerbrigg „Palomo“ aus dem spanischen Cadiz eingelaufen. Sie hatte neue Nachrichten aus der Alten Welt mitgebracht. Und obwohl die spanischen Kolonialbehörden eine strikte Zensur verhängt hatten und ankommende Schiffe peinlichst kontrollierten, war die Neuigkeit bereits in Caracas, der Hauptstadt des Generalkapitanats Venezuela, angekommen, die nur durch den schmalen, zweitausend Meter hohen Ávila-Gebirgszug vom Karibischen Meer getrennt ist. Napoleon hatte also auch Sevilla erobert. Ganz Spanien war besetzt – bis auf Cadiz, im äußersten Süden Andalusiens.

Der spanische König Ferdinand VII. lebte mit seiner Familie schon seit bald zwei Jahren im Schloss Valençay bei Tours faktisch unter Hausarrest. Immerhin ließ der französische Kaiser seinem prominenten Gefangenen eine üppige Jahresrente in Höhe von einer Million Franc zukommen. In Spanien hatte Napoleon seinen älteren Bruder Joseph als König eingesetzt. In Sevilla regierte eine Zentraljunta, die König Ferdinand treu blieb. Nachdem aber die gesamte Iberische Halbinsel unter französische Kontrolle geraten war, hatte sich die Junta aufgelöst und die Macht an einen Regentschaftsrat in Cadiz übergeben, das von den Franzosen beschossen und belagert, aber nie eingenommen wurde.

Dies war also die politische Weltlage, als in Caracas der Gouverneur des Generalkapitanats Venezuela, das direkt der spanischen Krone und nicht dem Vizekönig von Neu-Granada mit Sitz in Bogota unterstellt war, über den Platz zum Rathaus schritt. Amparan begab sich in den ersten Stock des Rathauses, wo sich die wichtigsten Männer der liberalen kreolischen Aristokratie versammelt hatten. Kreolen nannten sich die Abkömmlinge der Spanier, die in der Kolonie geboren waren. Sie kontrollierten zwar weitgehend die Wirtschaft, an den Hebeln der politischen Macht aber saßen spanische Kolonialbeamte. Im großen Saal des Rathauses roch es förmlich nach Rebellion.

Die Versammelten forderten den Gouverneur unverblümt auf, eine provisorische Regierung von Caracas einzusetzen, die gegebenenfalls die Provinz verteidigen und die Rechte des Monarchen wahren sollte. Sie boten ihm sogar den Vorsitz im neuen Gremium an. Bei seinem Amtsantritt ein Jahr zuvor hatte Amparan verkündet: „Es wird hier kein anderes Gesetz geben als meinen Willen.“ Nun aber zögerte er, versprach, den Vorschlag zu überdenken, erst wolle er die Heilige Messe besuchen. Er erhob sich, verließ den Saal und machte sich auf den Weg zur Kathedrale. Dort aber strömten nun Patrioten zusammen, um ihm den Weg in die Kathedrale zu versperren. Einer von ihnen, Francisco Salias, packte ihn beherzt am Arm und forderte ihn auf, ins Rathaus zurückzukehren. „Zurück ins Rathaus!“ riefen nun auch die Umstehenden.

Angesichts der angespannten Situation legten die 50 spanischen Grenadiere die Waffen an. Ihr Kommandant aber befahl: „Gewehr bei Fuß.“ Da ihm die Truppe bei seiner Rückkehr zur Kathedrale auch keine militärische Ehrenbezeigungen erwiesen hatte, kehrte der Gouverneur ziemlich verwirrt ins Rathaus zurück.

Dort wollte er den Vorschlag der Versammelten annehmen. Doch nun trat der Domherr Cortes de Madariaga dazwischen. Er hatte an den zahlreichen Versammlungen der Verschwörer nicht teilgenommen, aber diese wussten ihn auf ihrer Seite. Er forderte die Bildung einer eigenen Regierung – ohne den Gouverneur. Der sei nämlich beim Volk verhasst. Amparan schritt zum Balkon, um die Stimmung des Volkes zu testen. Er rief zur Menge, die sich auf dem Platz versammelt hatte: „Seid ihr mit meiner Regierung zufrieden?“ Hinter ihm aber stand der Domherr und beschwor die Leute unter dem Balkon mit eindeutigen Gesten. „Wir wollen ihn nicht! Wir wollen ihn nicht!“ schrien die Menschen zurück. „Na gut“, antwortete Amparan resigniert, „dann will ich auch nicht.“

Seine historischen Worte wurden als Abdankung interpretiert und sofort protokollarisch festgehalten. Es wurde eine Vertretung von Caracas gebildet. Den Gouverneur aber brachte man nach La Guaira, wo er in die Vereinigten Staaten verschifft wurde. Die Revolution hatte gesiegt! Kein Tropfen Blut war geflossen.

Es war eine Revolution der kreolischen Oberschicht, die sich der spanischen Vormundschaft entledigen wollte. Das einfache Volk stand abseits. Als erste Maßnahmen beschloss die neue Regierung die Abschaffung der Umsatzsteuer auf Lebensmittel, das Verbot des Sklavenhandels, die Beseitigung der Exportzölle und die Freigabe des Handels mit befreundeten und neutralen Staaten. Sie hatte ihre Souveränität im Namen Ferdinands VII. erklärt. Noch wagte man nicht, sich öffentlich von der spanischen Krone loszusagen. Doch die Ereignisse von Caracas waren der Auftakt zu einer Reihe von Rebellionen auf dem ganzen Subkontinent. Im Mai kam es zu einer Revolution in Argentinien und Paraguay, im Juli in Kolumbien (damals Neu-Granada), im August in Peru, im September in Mexiko. Überall übernahm eine kreolische Elite die Macht.

Und überall bereiteten nun die Spanier den Gegenschlag vor. Auch in Venezuela. Nicht sämtliche Provinzen des Generalkapitanats hatten sich den Patrioten von Caracas angeschlossen. Coro, Maracaibo und Guyana hatten sich hinter den spanischen Regentschaftsrat von Cadiz gestellt. Der Versuch, diese Provinzen zu unterwerfen, mündete in einen offenen Krieg, der sich noch verschärfte, als ein neu gebildeter Kongress in Caracas am 5. Juli 1811 die Unabhängigkeit Venezuelas proklamierte.

Am vehementesten für die Ausrufung der Republik hatte sich ein Mann eingesetzt, der schon an der Verschwörung vom 19. April 1810 maßgeblich beteiligt war, sich damals aber noch im Hintergrund gehalten hatte: Simón Bolívar, Spross einer der reichsten Familien der kreolischen Aristokratie. In die Weltgeschichte ging er als „El Libertador“, der Befreier, ein. Es drängte ihn, die Verteidigung der bedrohten Republik zu übernehmen. Doch mit dieser Aufgabe wurde Francisco de Miranda betraut. Der legendäre General war schon 1805 und 1806 in Venezuela gelandet, um einen Aufstand gegen die Spanier zu entfachen. Nach den beiden missglückten Versuchen hatte er sich nach London ins Exil begeben. Nun war er zurück.

Wirtschaftlich sah sich die junge Republik schon bald vor horrende Probleme gestellt. Einen großen Teil des Budgets verschlang der Kauf von Waffen und Munition. Dann fielen unversehens die Preise für Kakao und Kaffee, die beiden wichtigsten Exportprodukte des Landes, in den Keller. Das Gehalt der Staatsangestellten musste halbiert werden. Unzufriedenheit mit dem neuen Regime machte sich breit. Das Volk murrte und immer wieder liefen Soldaten zu den Spaniern über.

Die Katastrophe brach am 26. März 1812 über Venezuela herein. Es war wieder ein Gründonnerstag. Die Erde bebte fürchterlich. Allein in Caracas blieben über 10 000 der damals 45 000 Einwohnern tot unter den Trümmern zurück. Viele Bewohner der Hauptstadt hielten das Erdbeben für ein Zeichen göttlichen Zorns über die frevelhafte Regierung, die es gewagt hatte, sich von der Krone des katholischen Spanien loszusagen. Aufgehetzt von Priestern, die inmitten von Ruinen Hasspredigten gegen die Revolutionäre hielten, riefen sie nach König Ferdinand.

Das Erdbeben brach der ersten Republik das Genick. Am 25. Juli 1812 kapitulierte sie vor den spanischen Truppen. Miranda, der sich militärisch als Versager herausgestellt hatte, wurde von einer Gruppe um Bolívar festgenommen und an die Spanier überstellt. Bis 1814 hielten diese ihn in einem Gefängnis der Hafenstadt La Guaira fest, dann überstellten sie ihn nach Cadiz, wo er 1816 in Kerkerhaft starb.

Bolívar ließen die Spanier ausreisen. Schon ein Jahr später war er in Caracas zurück und rief im August 1813 die Zweite Republik aus. Doch auch sie hatte nur zwei Jahre Bestand. Bolívar musste erneut fliehen.


Und wieder kam er zurück. Im Herbst 1817 gründete er in Angostura – dem heutigen Ciudad Bolívar – die Dritte Republik. Von der Stadt, im Osten Venezuelas am Orinoco gelegen, startete er zu seinem gewaltigen Eroberungsfeldzug. Mit seinem Heer zog er durch die Ebenen und Urwaldsümpfe Westvenezuelas, über die Andenkette nach Bogota hinunter, von dort über Ecuardor, Peru, Bolivien (damals Oberperu) nach Kolumbien (Neugranada)zurück, wo er vereinsamt starb. Überall hatten die Truppen des „Befreiers“ die spanischen Kolonialherren vertrieben. Anderthalb Jahrzehnte nach dem Gründonnerstag 1810 war – mit Ausnahme weniger Gebiete – ganz Lateinamerika fre.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 17.04.2010

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