Du sollst dich nicht erwischen lassen

ATHEN. Es ist schwierig, jemanden zu finden, der reden will. Alle sind misstrauisch. „Nennen Sie mich Kostas“, sagt schließlich Kostas, der anders heißt, und bittet ins Hinterzimmer seines Geschäfts im Zentrum von Athen, wo er sich auf ein durchgesessenes Sofa fallen lässt. Das Büro ist vollgestopft mit leeren Kartons. Auf dem Tisch stapeln sich Lieferscheine, leere Bestellformulare, auch einige Rechnungen. Über dem alten Computer hängt eine Ikone: Die Muttergottes vergießt eine Träne. Sie scheint mitzuleiden. „Es geht uns schlecht“, klagt Kostas, „und es wird noch schlimmer werden, man will uns an den Kragen. Ausgerechnet jetzt, wo das Geschäft schlechter läuft als je.“ Er sagt es in recht gutem Deutsch mit schwäbischem Akzent. Zehn Jahre hat der 59-jährige Kostas bei Daimler gearbeitet. Vor 25 Jahren ist er in seine Heimat zurückkehrt, um das Geschäft seines Vaters zu übernehmen. Während er im Hinterzimmer jammert, wartet vorne im Laden seine Frau zwischen Töpfen, Pfannen, Gläsern, Vasen und Staubsaugern auf Kunden.

Bakschisch für den Arzt

In Griechenland ist der Einzelhandel innerhalb eines Jahres um fünfzehn Prozent eingebrochen. Kostas bekommt es zu spüren. Und just ab 1. Januar soll er nun bei jedem Verkauf auch nur eines Kaffeelöffels eine Quittung ausstellen. Das jedenfalls verlangt die Regierung, die der in Griechenland endemischen Steuerhinterziehung zu Leibe rücken will. Zum Glück begnügen sich bis jetzt die meisten Kunden mit dem Zettel, der aus der alten Kasse rattert. Aber wie lange noch? Bislang hat Kostas einmal im Jahr dem Steuereintreiber ein gewisses Sümmchen – wie viel, will er nicht verraten – gegeben und dafür Ruhe gehabt. Ein anständiger Deal, bei dem immer beide Seiten gewonnen haben, findet er.

Ein Deal auf Kosten des Staates! „Aber was tut der Staat für uns?“, protestiert der Ladenbesitzer, „als ich letztes Jahr meinen Sohn wegen einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus brachte, musste ich tausend Euro bezahlen, damit sich ein Arzt bereitfand, ihn zu operieren.“ In Griechenland sind die meisten Krankenhäuser staatlich. Die Krankenkasse übernimmt die Behandlung. Doch wer kein Bakschisch zahlt, wartet eben. „Aber ich konnte doch nicht warten“, sagt Kostas, „der Junge stand gekrümmt vor mir und hielt sich den Bauch.“

Die Zahlen kann in Griechenland inzwischen jeder herunterbeten: Der Staat hatte 2009 ein Haushaltsdefizit in Höhe von dreißig Milliarden Euro, was 12,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht,während der EU-Vertrag von Maastricht nur drei Prozent zulässt. Die akkumulierte Staatsschuld beträgt knapp dreihundert Milliarden Euro und ist damit sogar größer als das Bruttoinlandsprodukt. Die Lage ist dramatisch. „Das wichtigste, was die neue Regierung nun machen muss“, meint Michalis Psalidopoulos, „ist, dafür zu sorgen, dass alle Steuern zahlen.“ In Griechenland, so sagt der Wissenschaftler, der an der Universität von Athen einen Lehrstuhl für Wirtschafts- und Dogmengeschichte innehat, würden die Lohnabhängigen für sechzig Prozent aller Steuern aufkommen, die Freiberufler aber nur für zehn Prozent. „Selbst im Athener Nobelviertel Kolonaki mit all den Sportwagen und Jeeps vor den Häusern, versteuern zahlreiche Ärzte ein Einkommen, das unterhalb der Armutsgrenze liegt.“ Dem Fiskus entgehen durch Steuerhinterziehung jährlich Einnahmen in Höhe von dreißig bis vierzig Milliarden Euro. In Deutschland, das etwa siebenmal mehr Einwohner als Griechenland hat, sind es deutlich weniger.

Hätten alle Bürger brav ihren Obolus entrichtet, hätte der Staat kein Haushaltsdefizit – und jetzt nicht die EU-Funktionäre am Hals. In Brüssel schäumt man, weil das griechische Desaster die Stabilität des Euro gefährdet. Die katastrophale Lage hat vor allem die im vergangenen Oktober abgewählte konservative Regierung der Nea Dimokratia unter Kostas Karamanlis zu verantworten, die für 2009 noch von einem Haushaltsdefizit in Höhe von sechs Prozent ausgegangen war. Der Wahlsieger Jorgos Papandreou von der sozialdemokratischen Pasok ließ nachrechnen und meldete gut das Doppelte nach Brüssel. Doch unschuldig ist auch die sozialistische Pasok nicht. Immerhin war sie mit Ministerpräsident Konstantinos Simitis an der Regierung, als Griechenland 2001 den Euro einführte. Den Beitritt zur Eurozone hatten sich die Griechen mit kreativer Buchführung und geschönten Statistiken erschlichen. „Korruption und Klientelwirtschaft wucherten auch unter dem Pasok-Regime“, gibt Professor Psalidopoulos zu, „aber unter Karamanlis häuften sich die großen Skandale.“

Auch im orthodoxen Griechenland gelten die zehn Gebote Gottes. Doch hier gibt es noch ein elftes, und es ist das wichtigste: Du sollst dich nicht erwischen lassen. Und gegen dieses Gebot hat nicht nur Michael Christoforakos, der Chef von Siemens Hellas, verstoßen, der sich nach Erkenntnis der Ermittler mit Schmiergeldern Großaufträge von Armee und Regierung sicherte, sich dann – als Doppelstaatsbürger – nach Deutschland absetzte, im vergangenen Juni in Oberbayern festgenommen und im November schließlich freigelassen wurde. Auch Karamanlis‘ Kabinett wurde von Skandalen erschüttert. Dass sich der Minister für Umwelt und öffentliche Bauten ohne Baugenehmigung eine Villa just auf einem aus Gründen des Umweltschutzes für Bebauung gesperrten Gebiet errichten ließ, mochte da noch zu den lässlichen Sünden zählen. Wesentlich brisanter war dann ein frivoler Deal zwischen Staat und Kirche, der zwei Minister den Job kostete.

Efraim, der Abt von Vatopedi, dem reichsten der zwanzig Klöster der autonomen Mönchsrepublik auf dem Heiligen Berg Athos, behauptete, dass seinem Kloster aufgrund von Verfügungen eines byzantinischen Kaisers ein sechs Quadratkilometer großer See in Nordgriechenland samt Ufer gehöre. Der Staat anerkannte die dubiosen Ansprüche und überließ dem Kloster im Tausch gegen den See zweihundertsechzig Grundstücke, zum Teil Filetstücke in touristisch erschlossenem Gebiet, die die Kirche umgehend versilberte. Am skandalösen Geschäft, bei dem der Staat vermutlich um hundert Millionen Euro betrogen wurde, verdienten allerdings nicht nur die Schwarzröcke, sondern auch die Familie des Handelsmarineministers Giorgos Voulgarakis. Seine Frau, die als Notarin einige Verkäufe beglaubigte, sahnte kräftig ab. Und sein Schwager und sein Schwiegervater vertraten das Kloster als Anwälte. Mit Voulgarakis musste auch Presseminister Theodoros Roussopoulos den Hut nehmen, ein Freund des Abtes, der den lukrativen Deal eingefädelt hatte. Die Kirche aber, zweitgrößte Immobilienbesitzerin des Landes, zahlt weiterhin keine Steuern und lässt sich ihre Priester vom Staat bezahlen.

Vier parlamentarische Untersuchungsausschüsse sollen nun die vier schlimmsten Skandale der jüngsten Zeit aufarbeiten. Transparenz schreibt die neue sozialdemokratische Regierung unter Papandreou ganz groß. Die Parole heißt „open government“ – „offene Regierung“. Um mit der unseligen Vergangenheit von Mauschelei und Vetternwirtschaft zu brechen, hat die Regierung eine Internetseite eingerichtet, auf der die Gesetzesvorhaben dem Volk vorgestellt werden, bevor sie ins Parlament kommen. Alle können ihre Meinung dazu mitteilen. Jeder Regierungsbeschluss, der Geld kostet, wird im Internet begründet. Und jeder neue Beamte – ob Referent oder Minister – wird mit seinem Lebenslauf, seinen Qualifikationen und Erfahrungen, vorgestellt.

„Die offene Regierung ist ein Fortschritt in diesem Land der Geheimniskrämerei“, meint der Bauingenieur Dimitris, „immerhin fällt jetzt auf, wenn ein Theologe im Wirtschaftsministerium als Fachkraft für Bankenaufsicht eingestellt wird. Bislang wurde man ja von einem Onkel angeheuert, dann wurde der Vertrag verlängert, und irgendwann war man unkündbar. Vom staatlichen Gehalt kann man nicht leben, also schwänzt man den ganzen Tag oder nutzt den Arbeitsplatz für schwarze Zweitarbeit.“

Dimitris hat für das Treffen das Café des im neoklassizistischen Stil gebauten Luxushotels Grande Bretagne vorgeschlagen, wo Könige und Präsidenten absteigen, die Suite mehr als tausend Euro kostet und der Capuccino immerhin 7,50 Euro. Nur wenige Meter vom Hoteleingang entfernt bieten afrikanische Flüchtlinge ihre Lederwaren an, die sie auf weißen Bettlaken ausbreiten. Irgendwo zwischen diesen beiden Welten oszillieren Menschen wie Dimitris. Die Umsätze in der Baubranche, neben Tourismus und Handelsschifffahrt der wichtigste Wirtschaftsfaktor in Griechenland, sind innerhalb eines Jahres um achtzehn Prozent gefallen. Wer sich gestern noch auf der sicheren Seite wähnte, dem kann schon morgen der Boden unter den Füßen wegrutschen.

„Auf jeden Fall herrscht nun unter Papandreou ein anderes Klima als noch unter Karamanlis“, sagt Dimitris, „aber der Mann steht vor einer Herkules-Aufgabe.“ Er muss unter dem Druck der EU, die jede weitere Hilfe an Griechenland konditionieren wird, die Staatsfinanzen in Ordnung bringen, ohne Massenstreiks zu provozieren, die die kränkelnden Wirtschaft in den Abgrund stürzen. „Früher hat es sich die Regierung einfach gemacht“, meint der Bauingenieur, „um die Tabakbauern zu befrieden, kaufte sie deren unverkäuflichen Tabak auf und wurde von der EU dafür bestraft. Sie subventionierte die Olympus Airways und musste auch dafür Brüssel Gelder erstatten. Und sie kaufte mit Milliarden von geliehenem Geld Waffen, um sich gegen den Nato-Partner Türkei zu wappnen. Damit muss nun Schluss sein.“

Papandreou hat harte Sparmaßnahmen angekündigt, um die enorme Staatsverschuldung bis 2012 schrittweise unter die Dreiprozentmarke von Maastricht zu bringen – und nun stehen die Zeichen auf Sturm. Seit einer Woche schon blockieren Landwirte an über zwanzig Orten die wichtigsten Verkehrsadern des Landes wie auch Grenzübergänge nach Bulgarien und Mazedonien, um von der Regierung bereits abgelehnte Agrarsubventionen zu erzwingen. Der mächtige Beamtenbund hat einen Streik für den 10. Februar angemeldet. Für eine wirkliche Steuerreform sei er bereit, vier bis fünf Prozent seines Salärs zu opfern, ließ sein Präsident verlauten, aber nun wolle der Staat sechs bis sieben Prozent. Die angekündigte Erhöhung der Steuern auf Alkohol, Tabak und innerfamiliäre Eigentumsüberschreibung hat die Regierung – auch auf Druck der eigenen Parlamentsfraktion – inzwischen wieder zurückgenommen.

Der Plan Kallikrates, benannt nach dem Bauherrn, der auf der Akropolis den Tempel der Siegesgöttin errichtete, stößt auf den geballten Widerstand der Opposition. Er sieht die Zusammenfassung der sechsundsiebzig bestehenden Präfekturen zu dreizehn Regionen vor, und aus 1 034 Gemeinden sollen 370 werden. Da sind viele traditionelle Pfründen bedroht.

Eine Quittung für die Kunden

Griechenland steht ein heißer Frühling bevor. Die Regierung fürchtet nicht nur die Blockaden der Gewerkschaft, sondern auch die Barrikaden einer revoltierenden Jugend. Vor einem Jahr kam es in Athen und in zahlreichen weiteren Städten nach der Erschießung eines Jugendlichen durch die Polizei zu tagelangen Ausschreitungen. Es war der Protest einer frustrierten, um ihre Zukunft betrogenen Jugend, deren Lage um keinen Deut besser geworden ist.

Bei den Unruhen ging damals auch das Schaufenster von Kostas zu Bruch. Er streitet noch immer mit der Versicherung, die nicht zahlen will. Er wartet noch immer auf einen neuen Gerichtstermin. Beim ersten war der Anwalt der Versicherung einfach nicht erschienen. Also vertagten die Herren Richter die Verhandlung. Seither hat er von der Justiz nichts mehr gehört. „Die sitzen doch nur ihre Ärsche breit“, schimpft er auf die Beamten im aufgeblähten Staatsapparat, „und spätestens mit sechzig gehen sie in Pension. Alles auf unsere Kosten.“ Ja, wenn auch die Reichen zur Kasse gebeten würden, ja, dann würde er auch allen Kunden eine Quittung ausstellen.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 22.01.2010

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