Heute werden die Soldaten der USA in Haiti willkommen geheißen. 1915 kamen sie als Besatzer

Nach dem großen Erdbeben am 12. Januar sind weit über 10 000 US-Soldaten in Haiti gelandet. Sie kamen in Flugzeugen und Hubschraubern der Luftwaffe, in Landungsbooten und auf atomgetriebenen Flugzeugträgern, und sie haben den Flughafen von Port-au-Prince unter Kontrolle genommen. Es ist eine beeindruckende Demonstration der amerikanischen Macht. Der Intervention liegen humanitäre Motive zugrunde, auch wenn die Angst vor zigtausend Bootsflüchtlingen gewiss eine Rolle spielt. Die Haitianer, über die eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes hereingebrochen ist, hießen die fremden Soldaten willkommen.

Das war nicht immer so. Als die US-Marines 1915 in Haiti einmarschierten, schlug ihnen offene Feindseligkeit entgegen. Schließlich hatte sie niemand gerufen. Zwischen 1898 und 1909 waren die Amerikaner in Puerto Rico, Kuba, in Panama (als es noch zu Kolumbien gehörte), in der Dominikanischen Republik, in Nicaragua und Honduras eingefallen. Es war die Politik des big stick. „Sprich sanft und trage einen großen Knüppel, und du wirst weit kommen“, zitierte Präsident Theodore Roosevelt ein altes afrikanisches Sprichwort und sorgte für Ordnung im Hinterhof der USA, für Ordnung, wie er sie verstand.

Was Haiti betraf, waren die Interessen der USA vor allem geopolitischer Natur. Der kürzeste Schiffsweg von der amerikanischen Ostküste zum 1914 eröffneten Panamakanal, der sich damals in US-Besitz befand, führt durch die Windward-Passage, die Meeresstraße zwischen Kuba und Haiti. Auf der kubanischen Seite hatten die USA 1903 dem gerade unabhängig gewordenen Staat ewige Pachtrechte für die Bucht von Guantanamo abgepresst. Auf der anderen Seite der Meeresstraße hatte der US-Admiral Gherardi, der eine beeindruckende Armada anführte, 1891 vergeblich versucht, den Haitianern die Bucht von Môle Saint-Nicolas abzutrotzen.

Ein weiteres Motiv für die Invasion mag gewesen sein, den Einfluss des Wilhelminischen Reiches zurückzudämmen. Die Deutschen kontrollierten etwa 80 Prozent des haitianischen Großhandels und den einzigen Kai im Hafen von Port-au-Prince. Die Hamburg American Line dominierte den Schiffsverkehr mit Haiti. Zwei Drittel des dort produzierten Kaffees wurden auf deutschen Schiffen exportiert, und die Deutschen bezahlten immer wieder aufständische Truppen, um einen ihnen genehmen Präsidenten an die Macht zu hieven.

Wie stark der deutsche Einfluss auf Haiti war, zeigte sich 1897. Emil Lüders, Sohn eines deutschen Vaters und einer haitianischen Mutter, war wegen Körperverletzung – er hatte einen Polizisten geschlagen – zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden. Er war längst begnadigt, als zwei deutsche Kriegsschiffe im Hafen von Port-au-Prince anlegten. Der Kommandant verlangte von der haitianischen Regierung Schadenersatz in Höhe von 20 000 US-Dollar, eine offizielle Entschuldigung bei der Regierung des Deutschen Reiches und 21 Salut-Schüsse zu Ehren der deutschen Reichsflagge – und all dies innerhalb von vier Stunden. Die Kanonenbootpolitik hatte Erfolg. Haiti kam den Forderungen nach.

Zwischen 1911 und 1915 hatte Haiti sieben Präsidenten. Vier von ihnen wurden gestürzt, einer bei einer Explosion im Präsidentenpalast, einer wurde vermutlich vergiftet und einer von einem Mob gelyncht. Es waren unruhige Zeiten. Schon 1913 und 1914 waren US-Marines mehrere Male in Haiti kurzfristig an Land gegangen, um ausländisches Eigentum zu schützen. Dies war jedenfalls die Begründung von Präsident Woodrow Wilson, der 1913 in Washington die Amtsgeschäfte übernommen hatte. Nun suchte die US-Marine, die in haitianischen Gewässern dümpelte, nach einem Grund für eine Invasion. Er bot sich im Hochsommer 1915.

Am 27. Juli 1915 hatten einige tausend Caco-Rebellen, aufständische Kleinbauern, Port-au-Prince eingenommen. Ihr Führer war der Arzt Rosalvo Bobo, der für seine antiamerikanische Haltung bekannt war und nun Präsident werden wollte. Als die Rebellen den Präsidentenpalast stürmten, floh Vilbrun Guillaume Sam, der sich fünf Monate zuvor an die Macht geputscht hatte, in letzter Minute mit verletztem Bein und Karabiner in der Hand in die benachbarte französische Botschaft, in der auch die Residenz des Gesandten untergebracht war. Wenige Minuten danach wurden in einem Gefängnis der Hauptstadt 167 Häftlinge ermordet – die Mehrheit unter ihnen waren politische Gefangene, die der Elite der Mulatten angehörten. Nur sieben Häftlinge überlebten das Massaker, das Vilbrun Guillaume Sam für den Fall eines Putsches vorsorglich angeordnet hatte. Man hatte in der Eile die Schlüssel zu ihren Zellen nicht gefunden.

Am Morgen danach stürmte ein Mob, angeführt von den Angehörigen dreier ermordeter Häftlinge, die französische Botschaft und zerrte den Präsidenten aus der Toilette der Residenz, wo er sich eingeschlossen hatte. „Vilbrun Guillaume Sam“, kabelte der Gesandte an seinen Außenminister in Paris, „wurde an den Füßen durch den Salon und dann über die Allee zum Eingangstor der Botschaft geschleift, dort mit drei Machetenhieben niedergemacht, wovon einer ihm den Kopf abtrennte. Dann übergab man den Körper einem Mob, der ihn zerstückelte.“ Am nächsten Tag, so berichtet der Gesandte weiter, sei ein Mann in der Botschaft erschienen und habe die Witwe des Präsidenten sprechen wollen, um ihr den Inhalt des Sacks zu übergeben, den er bei sich trug. „Es war der Schädel ihres Mannes, den er ihr verkaufen wollte.“

Präsident Sam wurde um 10.30 Uhr gelyncht. Um 17 Uhr desselben Tages gingen 350 US-Marines in Port-au-Prince an Land. Auf Widerstand trafen sie kaum. Die Intervention kostete nur drei Todesopfer, zwei von ihnen waren US-Soldaten, erschossen wohl aus Versehen von eigenen Kameraden. Die nur mit Macheten und alten Revolvern ausgerüsteten Caco-Rebellen hatten sich in die Berge zurückgezogen.

„Die Vereinigten Staaten haben nur ein Ziel vor Augen“, hieß es in einer Proklamation von Admiral Caperton, der die Invasion befehligte: „die Unabhängigkeit Haitis zu garantieren und zu festigen und dem haitianischen Volk zu helfen, eine stabile Regierung einzurichten.“ Man werde nur so lange bleiben, bis dieses Ziel erreicht sei. Die Amerikaner blieben 19 Jahre.

Schon zwei Wochen nach der US-Invasion wählte der haitianische Kongress unter dem Druck der Besatzungsmacht Philippe Sudre Dartiguenave zum Präsidenten. Er war eine Marionette der USA. Drei Tage nach seiner Amtsübernahme überbrachte ihm der US-Botschafter einen Entwurf eines Besatzungsvertrags. Anfang September verhängten die Besatzer das Kriegsrecht übers Land und führten eine Pressezensur ein. Mitte des Monats unterzeichnete die Regierung den Vertrag, im Oktober wurde er vom haitianischen Abgeordnetenhaus ratifiziert und im November auch vom Senat, nachdem die USA gedroht hatten, andernfalls eine Militärregierung einzusetzen.

Der Besatzungsvertrag übertrug den USA faktisch die Kontrolle über die haitianischen Einnahmen aus Import- und Exportzöllen, die wichtigste finanzielle Ressource des Karibikstaates. Diese Einnahmen sollten verwendet werden erstens für die Bezahlung der Zollverwaltung (in amerikanischer Hand), zweitens für die Tilgung der Auslandsschuld (im wesentlichen gegenüber den USA), drittens für die Ausgaben der Polizei (geleitet von US-Offizieren) und schließlich für öffentliche Ausgaben der Regierung.

Haiti wurde zum US-Protektorat. Zwar versuchten die verschiedenen Caco-Armeen, die bis dahin vor allem dazu gedient hatten, Präsidenten aus dem Amt zu putschen, nun den Widerstand gegen die Besatzer zu organisieren. Auf dem Höhepunkt der Revolte rief der populäre Caco-Führer Charlemagne Péralte, der über 20 000 bis 40 000 bewaffnete Anhänger verfügte, sogar eine Gegenrepublik aus. Doch der militärischen Übermacht waren die Caco-Truppen nicht gewachsen, und nach der Ermordung Péraltes vermutlich durch US-Soldaten brach der Widerstand 1920 zusammen.

Erst als 1929 US-Marines auf eine Menschenmenge feuerten, die gegen die Bildungspolitik der Besatzungsmacht protestierte, und dabei 24 Demonstranten erschoss, entfachte sich neuer Widerstand, unter dessen Druck die Neuwahlen angesetzt wurden, bei denen sich sämtliche Kandidaten für den Abzug der US-Soldaten aussprachen. 1934 verließ der letzte Marine die Insel.

Die Amerikaner hinterließen ein Land mit 1 700 Kilometer befahrbaren Straßen, mit elf Krankenhäusern, einem Telefonnetz, Bewässerungskanälen und Kanalisation – alles bezahlt aus den Zolleinnahmen Haitis, die sie kontrollierten und die sie nicht zur Begleichung der Auslandsschuld abzogen. Doch sie hatten keine haitianischen Ingenieure und Techniker ausgebildet. Und so verfiel die Infrastruktur nach ihrem Abzug schon bald. Auch hatten die Amerikaner in den 19 Jahren Besatzung es nicht vermocht, eine effiziente Verwaltung in haitianischer Hand aufzubauen. Die alten Übel – Schlendrian, Vetternwirtschaft und Korruption – kehrten zurück.

Die Finanzhoheit über den Karibikstaat gaben die USA übrigens erst 1947 ab. Ein Jahr danach kam es zu einer Premiere. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte beschlossen die Vereinten Nationen für ein Land ein Paket entwicklungspolitischer Maßnahmen. Für Haiti. 

copyright: Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 04.02.2010

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