Buchautorin und Journalistin mit einem Faible für Außenseiter


Ohne sie wäre die „Tessiner Zeitung“ nicht, was sie heute ist. Als Silvana Schmid 1987 die Chefredaktion des Blattes antrat, hiess dieses noch „Südschweiz“ und der Zeitungskopf prangte in der altertümlichen Frakturschrift mit ihren „Elefantenrüsseln“, wie man in der Druckersprache die ausladenden Schnörkel der Grossbuchstaben nennt. Dem Schriftzug des Titels entsprach in etwa der Inhalt. Die „Südschweiz“ war in die Jahre gekommen, altbacken, staubtrocken, ziemlich langweilig. Silvana krempelte das Blatt um, verpasste ihm den heutigen Titel in modernem Schriftzug und holte neue Leute in die Redaktion, Grünschnäbel, zum Teil ohne jegliche journalistische Erfahrung, aber mit vielen, auch verrückten Ideen und mit überbordendem Engagement.
Silvana, damals 60 Jahre alt mit über 20 Jahren Berufserfahrung, verstand, ihre Redaktoren – es waren vor allem Männer, die vom Alter her alle ihre Söhne hätten sein können – zu führen. Sie gab Ratschläge, half bei Formulierungen, vertraute bei Konflikten ihrer Überzeugungskraft, manchmal auch ihrem Charme, und notfalls gab es eben den apodiktischen Befehl: „Das machen wir jetzt so – und basta“. Par ordre du mufti. Fünf Jahre hat Silvana die Redaktion geleitet. Sie hat manch einem den Einstieg ins Berufsleben erleichtert. Einer aus ihrem ersten fünfköpfigen Team ist heute Filmer in Basel, ein anderer Verleger in Berlin. Viele haben ihr viel zu verdanken. Am vergangenen Samstag ist Silvana Schmid gestorben.
Es war ein reiches Leben, das unerwartete Pirouetten schlug, ein Leben geprägt von den Epochenbrüchen des vergangenen Jahrhunderts: Weltwirtschaftskrise, Krieg, 68-er-Revolte. Mütterlicherseits wurde Silvana in eine illustre Familie geboren. Ihr Urgrossvater, Franz Josef Bucher, führte im 19. Jahrhundert das weltweit grösste Hotelunternehmen. Er hatte das Hotel auf dem Bürgenstock und das Luxushotel Serbelloni in Bellagio am Comersee gebaut, und drei weitere in Lugano, Genua und Kairo. Eine Cousine von Silvanas Grossmutter war mit David Sprüngli verheiratet, der 1836 in Zürich eine Confiserie eröffnete und danach den Schokoladekonzern gründete, der vom Zürcher Paradeplatz aus die Welt eroberte.
Doch dann taumelte nach dem New Yorker Börsencrash vom Oktober 1929 die Weltwirtschaft in eine tiefe Krise. Die zahlreichen Nachkommen des Hotelpatriarchen mussten Aktien des Unternehmens an Banken verkaufen, stritten sich um das Erbe. Silvanas Mutter ging leer aus, während ihre Brüder sich die Filetstücke unter den Nagel rissen. 1935 trennte sie sich von ihrem Mann und zog mit ihren beiden Töchtern ins Tessin. Einen Grossteil ihrer Schulzeit verbrachte Silvana in Lugano, wo ihre ältere Schwester an Tuberkulose starb. So wanderte sie – gerade 18 Jahre alt geworden – allein mit ihrer Mutter nach Brasilien aus. In Rio de Janeiro schlug sie sich als Fremdsprachensekretärin durch.
Nach drei Jahren kehrte Silvana mit ihrer Mutter vom Zuckerhut an den Uetliberg zurück, jobbte als Übersetzerin (inzwischen sprach sie fünf Sprachen fliessend) – und heiratete. Vermutlich hätte sie den Rest ihres Lebens als gelangweilte Gattin eines Architekturprofessors verbracht, so meinte sie selbst später, wäre da nicht der kulturelle Aufbruch der 60er Jahre dazwischengekommen. Silvana suchte nach einem eigenen Leben. Sie wollte nicht finanziell abhängig von ihrem Mann sein, nicht nur Hausarbeiten erledigen und ihm den Rücken für seine Arbeit freihalten.
Schon lange wollte sie Journalistin werden. So bewarb sie sich bei „Annabelle“, der grössten Schweizer Frauenzeitschrift, und wurde 1966 als Redaktorin, verantwortlich für das Ressort Wohnen, eingestellt. Sie schrieb lange, bebilderte Reportagen über Möbel, Design und Dekoration. Und sie berichtete auch über neue Wohnformen, über die damals noch höchst raren Wohngemeinschaften, über ein Sit-in rebellierender Studenten an der ETH in Zürich. Und nach einer Reise in die kommunistische Tschechoslowakei, wo unter Parteichef Alexander Dubček der „Prager Frühling“ ausgebrochen war, hatte sie die Politik endgültig erreicht.
Bei „Annabelle“ kündigte Silvana, auch weil sie keine Lust mehr hatte, Texte als Umfeld für Inserate zu schreiben. Sie war jedoch nur kurz Freelancerin. Schon bald erhielt sie eine Stelle bei der Illustrierten „Sie+Er“, schrieb Reportagen über Kampfpiloten und Schweizer in der DDR, über irische Aussteiger und traf in London George Harrison, den ihrer Ansicht nach schönsten der vier Beatles. Doch dann driftete „Sie+Er“ immer mehr in seichte Gewässer ab. Silvana kündigte, war wieder Freelancerin.
Im Dezember 1970 schlug ihre journalistische Sternstunde. In Rio de Janeiro hatten Guerilleros ihren Cousin entführt, den Schweizer Botschafter Gianrico Bucher. Die Kidnapper forderten die Freilassung von 70 Genossen, Freifahrten in Rios Vorortszügen, die Erhöhung der Mindestlöhne sowie die Verlesung ihrer Forderungen in Fernsehen und Radio. Die Meldung war gerade einen Tag alt, da sass Silvana schon im Flieger nach Brasilien, erste Klasse, als Sonderberichterstatterin der „Schweizer Illustrierten“. 40 Tage lang dauerte die Entführung, und Silvana schrieb jede Woche eine Reportage aus Rio. Mitte Januar 1971 konnte dann ganz Brasilien am Fernsehen live verfolgen, wie 70 freigepresste Polithäftlinge ein Flugzeug nach Chile bestiegen, das vom sozialistischen Präsidenten Salvador Allende regiert wurde.
Silvanas wachsendes Interesse an Politik ging mit einem schrumpfenden Interesse an ihrer Ehe einher. Anfang der 1970er Jahre wurde die Scheidung vollzogen. Silvana gründete 1973 mit einigen Mitstreitern den Presseladen in Zürich, eine Bürogemeinschaft fortschrittlich gesinnter, freischaffender Journalisten. Hier verfasste sie mit zwei Mitautoren ihr erstes Buch: „Das rote Bologna. Kommunisten demokratisieren eine Stadt im kapitalistischen Westen.“ Silvana war fasziniert von den Experimenten der kommunistischen Stadtverwaltung und ihren Erfolgen, vom Modell demokratischer Partizipation.
Das erste Buch, das Silvana allein schrieb, „Freiheit heilt“, erschien 1977. Es handelt von einem damals unkonventionellen, ja geradezu revolutionären Experiment. Der Psychiater Franco Basaglia war entsetzt über die Zustände in den Kliniken Italiens: Angeschnallte Patienten, Zwangsjacken, Elektroschocks waren Normalität. Als Leiter der psychiatrischen Klinik in Triest liess er die Patienten frei, sorgte für eine ambulante Behandlung. Sein Ziel war die Rückführung der Kranken in die Gesellschaft.
In den 1980er Jahren war Silvana wieder im Tessin, ihrer Wahlheimat, zurück. Sie arbeitete als Korrespondentin für verschiedene Tageszeitungen, bis sie Pressechefin des Filmfestivals Locarno wurde und 1987 Chefredaktorin der „Tessiner Zeitung“. Als sie 1992 in den Ruhestand trat, setzte sie sich nicht zur Ruhe, sondern schrieb Bücher. 1996 erschien „Loplops Geheimnis“, ein Bericht über das Leben des surrealistischen Künstlerpaars Max Ernst und Leonora Carrington in Südfrankreich. Ihr Haus war nicht weit entfernt vom Haus, in dem sich Silvana mit ihrem Lebenspartner, einem pensionierten Journalisten, niedergelassen hatte und wo sie ein Jahrzehnt lebte, bis sie endgültig ins Tessin zurückehrte.
Ihrem Faible für Aussenseiter wie Basaglia, Ernst und Carrington ist auch ein dünnes Büchlein Silvanas zu verdanken. Es ist ein Porträt von „La Lupa“ mit bürgerlichem Namen Maryli Marconi, einer Sängerin und Performerin aus dem Val Onsernone, die heute in Zürich lebt und vorzugsweise in schrillen Kostümen auftritt. Die Melange von Witz und Frechheit, gepaart mit einer Spur von Nachdenklichkeit und Melancholie, diese eigentümliche Melange, die die Tessinerin mit der gewaltigen Stimme und dem schrägen Outfit ausstrahlt, hat Gitty Darugar in 13 Farbfotos, die das Büchlein zu einem Juwel machen, geradezu genial eingefangen. Die iranisch-deutsche ehemalige Schauspielerin, die heute als Fotografin in Paris lebt, war in den letzten 44 Jahren Silvanas engste Freundin und zum Schluss wohl die einzige, die ihr blieb. Regelmässig reiste sie jährlich mehrere Male aus dem fernen Paris an, um sie im Altersheim und zuletzt im Pflegeheim im Tessin zu besuchen.
Silvanas schönstes Buch aber ist eine Biographie ihrer Mutter, Lify Bucher, die 99 Jahre alt wurde. Es ist zu einem weiten Teil auch eine Autobiographie. Die Tochter erzählt über ihr eigenes Leben aus der von ihr selbst imaginierten Sicht ihrer Mutter. Sie sieht sich durch die Augen ihrer Mutter und erzählt von einer heranwachsenden jungen Frau, die die Fesseln der Konventionen sprengen und sich ihre eigene Zukunft bauen will, die schliesslich als Journalistin und Autorin reüssiert. Silvana Schmid starb im Alter von 96 Jahren in der Casa Tarcisio, einem Pflegeheim für Sehbehinderte in Tenero.
(Der Autor arbeitete in den 1980er Jahren öfter vertretungsweise in der „Tessiner Zeitung“, als Silvana Schmid Chefredaktorin war, mit der er übrigens nicht verwandt ist.

(Der Nachruf erschien in der „Tessiner Zeitung“ am 22.03.2024.)

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