In einem Interview, das in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis, am 19. Dezember 2009 in Le Nouvelliste erschien, fragte der haitianische Schriftsteller Pierre Clitandre den Geologen Claude Prépetit: „Leben wir auf einem Pulverfass?“ – „Ohne dramatisieren zu wollen“, gab der Fachmann zur Antwort, „das ist nicht übertrieben.“ Seit Jahren hatte er, von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, vor einem Erdbeben im Großraum Port-au-Prince gewarnt. Die Folgen, so prophezeite er im Gespräch mit dem Schriftsteller, würden – wegen der Wohndichte und der Bauweise sowie angesichts einer fehlenden Raumplanung und einer unvorbereiteten Bevölkerung – katastrophal sein.
Weniger als vier Wochen nach der Veröffentlichung des Interviews – am 12. Januar 2010 – bebte in Haiti die Erde. Über 200 000 Menschen starben, über 300 000 wurden verletzt, 80 000 Gebäude stürzten ein. Und anderthalb Millionen Menschen verloren ihr Obdach. Claude Prépetit, inzwischen 63 Jahre alt, arbeitet noch immer im „Büro für Bergbau und Energie“, das dem Ministerium für Bau, Transport und Kommunikation unterstellt ist. Bloß ist dieses Büro heute in einer Baracke untergebracht. Nahezu alle Ministerien waren nach dem Beben nur noch Trümmerhaufen. Auch der Präsidentenpalast und die Kathedrale, die den Erzbischof unter sich begrub, sind noch nicht wieder aufgebaut.
In haitianischen Ministerien, auch wenn sie Holzbaracken sind, geht es in der Regel förmlich zu: Vorzimmerdamen, Beamte in weißem Hemd und Krawatte. Doch Prépetit kommt selbst zum Empfang – in offenem Hemd und Jeans, mit einem kleinen Rucksack über der einen Schulter. Er breitet eine geologische Karte von Haiti aus, zeigt die tektonischen Platten, dann holt er die Karte von Port-au-Prince und Umgebung, fährt mit den Fingern an den Linien entlang, die die sogenannten Verwerfungen oder Brüche markieren. Haiti liegt am Rand der Karibischen Platte, die an die Nordamerikanische Platte angrenzt und jährlich etwa zwei Zentimeter ostwärts wandert. Diese Bewegung hat zwei Verwerfungen hervorgebracht, von denen die eine mit einigen Nebenbrüchen just am Südrand von Port-au-Prince vorbeiführt.
An solchen Verwerfungen sammelt sich die Energie, die sich dann in einem Erdbeben entlädt, in einem Goudou-goudou, wie die Haitianer in ihrer lautmalerischen kreolischen Sprache sagen. „Viele haben das Erdbeben als Strafe Gottes verstanden“, sagt Prépetit, „das haben ihnen die Prediger evangelikaler Pfingstgemeinden eingeredet.“ Viele der Pfingstler gaben dem Voodoo, der von den Sklaven einst aus Westafrika mitgebrachten Religion, die Schuld an der Katastrophe. Der habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. „Die Bewegung der tektonischen Platten kann kein Gebet und kein Fasten aufhalten, ein Erdbeben ist nicht zu verhindern“, sagt Claude Prépetit, „aber man kann dafür sorgen, dass es möglichst wenig Tote kostet.“ Das Erdbeben in Haiti hatte die Stärke 7,0 auf der Richter-Skala. Sechs Wochen später gab es in Chile ein Erdbeben, Stärke 8,8, aber mit „nur“ 577 Toten.
„Mit tropischen Wirbelstürmen und Überschwemmungen haben die Menschen hier Erfahrung“, sagt Prépetit, der bei jedem Satz die Stirn in Falten legt, „mit Erdbeben nicht, in Port-au-Prince bebte die Erde 1770 zum letzten Mal.“ Damals hatte Port-au-Prince, 1749 gegründet, etwa 10 000 Einwohner. Heute leben im Großraum der Hauptstadt über zwei Millionen Menschen. „Man muss die Verstädterung stoppen, man darf nicht zulassen, dass immer mehr Menschen ihre Hütten an gefährdeten Berghängen oder an regelmäßig überschwemmten Küstenabschnitten bauen“, sagt der Wissenschaftler, „man muss diese Leute umsiedeln.“
Vor fünf Jahren aber ging es zunächst darum, diejenigen Leute umzusiedeln, die unter Plastik lebten, über eine Million Menschen. Zelte standen auf dem Champ de Mars, der großen Parkanlage vor dem eingestürzten Präsidentenpalast, auf allen Plätzen und Plätzchen der Hauptstadt, in Vorgärten und auf den Bürgersteigen. Heute sind die Zelte aus dem Blickfeld weitgehend verschwunden, der Verkehr fließt wie immer. Die Stadt ist sichtbar verwundet, oft sind die Häuser nur notdürftig geflickt. Und die Gesellschaft ist traumatisiert. Man hört es immer wieder. Doch ist auch Normalität zurückgekehrt. Das Leben, der mühsame Alltag, geht weiter.
Auch Juserelle hat unter Plastik gelebt. Nun sitzt die 22-jährige Frau vor ihrem schmucken Häuschen in Corail, einem Lager 20 Kilometer außerhalb von Port-au-Prince, flicht einem Mädchen Dreadlocks und langweilt sich. Na ja, Häuschen ist etwas übertrieben ausgedrückt. Es ist ein einziger Raum, 22 Quadratmeter groß, mit vier Holzwänden und einem Giebeldach und einer kleinen asphaltierten Terrasse. Hier lebt sie mit ihrer Schwester, dem Schwager und deren drei Kindern. Eine Küche gibt es nicht und auch kein Bad, keine Dusche und keine Toilette. Seit über vier Jahren schon wohnt sie hier. Jeder Tag gleicht dem anderen. Was eine Änderung herbeiführen könnte, weiß sie nicht. Einen Mann heiraten? Eine Familie gründen? „Ich habe doch kein Geld“, sagt sie, „es gibt hier keine Arbeit, und wie sollte ich die Schule für ein Kind bezahlen?“
Eval, ihr Nachbar, ebenfalls 22 Jahre alt, sitzt im löchrigen T-Shirt vor einem blitzblank geputzten Motorrad. Ab und zu macht er sich nach Port-au-Prince auf, wenn er als Maler über Freunde einen Auftrag kriegt. Meistens erhält er weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von umgerechnet 50 Cents die Stunde, und seit anderthalb Monaten hat er keine Arbeit mehr gefunden. In die Stadt fährt Eval nicht mit seiner Honda 125. Er geht zu Fuß zur Überlandstraße und nimmt sich dort einen Tap-tap, einen jener bunt angemalten kleinen Lieferwagen mit offener Ladefläche, auf der sich die Passagiere auf zwei Holzbänke quetschen. Das ist billiger, kostet zehn Gourdes, umgerechnet weniger als 20 Cents. Sein Einzimmerhaus teilt er mit seiner spindeldürren Frau. „Sie hat die Cholera überstanden“, sagt er. Über 8 500 Haitianer hat die vermutlich von nepalesischen Blauhelmen eingeschleppte Seuche dahingerafft.
Als die Erde bebte, war Eval in Gonaives, einer Stadt 160 Kilometer nördlich von Port-au-Prince. Der öffentliche Verkehr war zusammengebrochen, viele Straßen waren nicht mehr befahrbar. Als er fünf Tage später endlich in der Hauptstadt ankam, erfuhr er, dass man seine Eltern unter den Trümmern ihres Hauses geborgen hatte. „Wo sie beerdigt sind, weiß ich nicht“, sagt er, „wahrscheinlich irgendwo hier im Cul-de-Sac.“ So heißt die weitläufige Ebene, in der Corail liegt und in die damals Zehntausende Leichen gebracht wurden. Niemand hat die Toten identifiziert. Es musste alles schnell gehen. Es herrschte tropische Hitze, und man befürchtete den Ausbruch von Seuchen. Im Cul-de-Sac liegen auch die Knochen vieler verscharrter Opfer der Duvalier-Diktatur.
Zur Einweihung des Lagers, das in Corail im Frühsommer 2010 errichtet wurde, kamen der Präsident René Préval und der Hollywood-Star Sean Penn persönlich. Der Schauspieler, Regisseur und Ex-Mann von Madonna war schon im Januar, eine Woche nach dem Erdbeben, nach Port-au-Prince gereist, um zu helfen. Zusammen mit Diana Jenkins, einer Bosnierin, die 1992 aus dem belagerten Sarajevo geflohen war und später einen reichen britischen Finanzier geheiratet hatte, hatte er das größte von über hundert Zeltlagern errichtet – an der allerfeinsten Adresse der Hauptstadt, auf dem Neun-Loch-Golfplatz des Club Pétion-Ville, wo Diplomaten, Minister und Topmanager zu verkehren pflegten. Noch am Tag des Erdbebens hatten Obdachlose das Gelände gestürmt. Penn und Jenkins hatten danach Plastik besorgt, ein Kino, eine Schule, eine Theaterbühne und auch eine Apotheke eingerichtet. 60 000 Opfer beherbergte schließlich das Camp, wo auch Penn selbst monatelang lebte – in einem Zelt wie alle andern auch.
Etwa 5 000 brachen ihre Zelte ab und siedelten nach Corail um, als man ihnen umgerechnet 400 Euro pro Zelt anbot und ein Häuschen im neuen Camp in Aussicht stellte. Corail war ein Vorzeigelager. Saubere Unterkünfte, Pflanzen zwischen den Häuschen, Mülltonnen. Heute künden verblichene Schilder davon, dass hier eine Reihe humanitärer Organisationen gearbeitet haben. Doch längst sind die Leute wieder sich selbst überlassen. Aber immerhin gibt es Gemeinschaftslatrinen und eine Wasserstelle, eine einzige für das ganze Viertel. Nur gibt es keine Elektrizität, also kein Fernsehen. Und es gibt keinen Arzt. Die Schule kostet Geld, etwa zwei Euro im Monat, aber die Kinder werden wenigstens kostenlos geimpft. „Als die Ausländer noch hier waren, konnte man sich ein bisschen Geld verdienen“, sagt Eval, „mit der Reinigung des Kanals oder dem Bau von Latrinen.“
Heute hat nur noch der 70-jährige Paul Arbeit. Der hagere Mann mit altmodischer Brille und gestutztem weißen Bart, seit zwei Monaten verwitwet, schnitzt mit Hammer und Stemmeisen Masken, Gesichter mit breiter Nase, strähnigem Haar, verrunzelter Stirn. Das Eichen- und Nussbaumholz bringt ihm ein Händler vorbei, der auch die Masken abholt – sie werden an Touristen in Puerto Rico verkauft. Nach Haiti kommen keine Touristen. Zu schlechte Straßen, zu viel Kriminalität. Es fehlt jede touristische Infrastruktur.
Noch trostloser als in Corail sieht es in Canaan aus. So haben die Menschen, die sich hier nach dem Erdbeben niederließen, selbst die Gegend benannt. Der Name ist der Bibel entnommen. Nach Kanaan, ins Land, wo Milch und Honig fließen, führte Gott sein Volk Israel, das er aus ägyptischer Gefangenschaft befreit hatte. Anders als das biblische Kanaan ist das haitianische Canaan ein völlig ausgetrockneter Berghang oberhalb von Corail. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren gab es dort noch Sisalplantagen. Danach wurde das steinige Terrain aufgegeben. Es wurde zum Refugium von Banditen, die im karstigen Gebiet ihre Geiseln versteckten, und von Auftragskillern, die ihre Opfer töteten.
Nach der Erdbebenkatastrophe vor fünf Jahren haben sich in dieser Einöde über 300 000 Haitianer angesiedelt. Ohne jede Hilfe von außen, ohne Unterstützung humanitärer Organisationen haben sie sich in dieser kargen Landschaft Hütten gezimmert. Aber viele, wahrscheinlich die meisten sind gar nicht Opfer des Erdbebens, sondern konnten einfach ihre Wohnung in der Stadt nicht mehr bezahlen, wollten der Enge der großen Slums von Port-au-Prince entkommen oder sind aus fernen Landesteilen hierher gezogen, um in der nahen Zweimillionenmetropole irgendein Auskommen zu finden.
Jede Hütte ein Schicksal. Asefi wurde mit seiner Frau und seinen vier Kindern auf die Straße gesetzt und schnitzt nun vor seiner Wellblechhütte mit einem scharfen Messer Plastiksandalen, die er manchmal einem Zwischenhändler verkauft, manchmal selbst in die Stadt bringt. Gabriel ist Schreiner und in Cité Soleil, der größten Elendssiedlung der Hauptstadt, aufgewachsen. Sie wird seit langem schon von Drogenbanden kontrolliert. „Ich lebte dort mit meinem Bruder, dessen Kindern und meinen eigenen zusammen“, sagt der praktizierende Katholik, „mein Bruder hat sich einer Gang angeschlossen. Ich wollte nicht, dass meine Kinder in diesem Milieu groß werden.“ Er hat sich für 1 000 Gourdes, etwa 20 Euro, eine Solarzelle gekauft und liest jeden Abend nach Einbruch der Dunkelheit in der Bibel.
Canaan ist ein endloses Meer von Bruchbuden und Hütten, die man auf schmalen Pfaden erreicht. Es gibt keine Elektrizität. Tankwagen bringen Trinkwasser in die Gegend. Es gibt Privatschulen, aber keine öffentliche Verwaltung, kein Krankenhaus, nur irgendwo einen verlorenen Polizeiposten, der leer steht.
„Es gibt keinen Plan des Wiederaufbaus, kein Projekt, das diskutiert wird, es gibt keine politische Öffentlichkeit“, schimpft Gérard-Emile Brun, ein bulliger Mann mit Bart und Brille, in seinem klimatisierten Büro, das sich in einer Baracke der Hauptstadt befindet, „in diesem Land kann jeder – ob Priester oder Sänger – Präsident werden.“ Der Armenpriester Jean-Bertrand Aristide musste als Präsident, tief verstrickt in Korruption, einst vor einem Volksaufstand ins Ausland flüchten. Heute ist der Sänger Michel Martelly Präsident. Erfahrung in Politik und Verwaltung hatte er keine, als er vor drei Jahren seinen Amtseid leistete.
Brun, 67 Jahre alt, zückt vier Visitenkarten. Er ist Vizepräsident des nationalen Verbands der Ingenieure und Architekten Haitis, Präsident der haitianischen Vereinigung der Architekten und Urbanisten, Vizepräsident des Bauunternehmens Tecina und Geschäftsführer der Immobiliengesellschaft Nabatec, der das Gelände von Canaan zum größten Teil gehört. Sie hatte es lange vor dem Erdbeben gekauft. Der Plan mit roten, blauen, gelben und grünen Flächen, den Brun auf dem Tisch ausbreitet, stammt von 1999 und ist mit „Integrierte wirtschaftliche Entwicklungszone“ überschrieben. Eingezeichnet sind: Wohnviertel, Sozialwohnungen, Handelszentrum, Fußballakademie, Schulen, Universität und Krankenhaus, privater Industriepark, koreanischer Industriepark.
All dies sollte just da gebaut werden, wo heute Zehntausende von Bruchbuden stehen. „Ein koreanisches Unternehmen hat bereits ein Stück Land gekauft“, beteuert Brun, „mit vielen andern ausländischen Firmen standen wir in Verhandlungen.“ Die Weltbank wie auch die haitianische Regierung hätten das Projekt unterstützt, behauptet er. Doch dann zerstörte das Erdbeben Port-au-Prince, und die Regierung erklärte Teile der Zone zum „Terrain öffentlichen Nutzens“. Weithin wird vermutet, dass die damalige Regierung unter Präsident René Préval das beschlagnahmte Land an Parteigänger vergab.
„Heute herrscht in Canaan eine Mafia. Wer hier bauen will, muss ihr ein Stück Boden abkaufen“, erklärt Brun. Vom Staat verlangt der Architekt, Ingenieur und Bauunternehmer nun eine Entschädigung. Seine Gegner werfen ihm deshalb vor, er wolle aus der Katastrophe Kapital schlagen. „Ich hätte in den USA oder in Europa alle Chancen gehabt, gutes Geld zu verdienen, ein bequemes Leben zu führen“, sagt Brun, in dessen Büro viele Auszeichnungen hängen und auch ein Diplom der Columbia University von New York, „aber ich habe mich für Haiti entschieden.“
In Corail sind sich die Leute selbst überlassen, in Canaan herrscht eine Mafia, aber wenigstens in Lumane Casimir, benannt nach einer populären, vor 60 Jahren an Tuberkulose gestorbenen haitianischen Sängerin, schien die Regierung einen Erfolg vorzeigen zu können. Die Siedlung wurde von der Regierung im März 2013 gegründet und bot 112 Familien, die ihr Obdach verloren hatten, ein neues Heim. Im Dezember erhielten weitere 50 Personen ihre Hausschlüssel: Alle waren behindert, manche waren blind, die andern hatten – als Folge des Erdbebens – nur noch ein Bein oder einen Arm.
Doch im Sommer kam es zu Unruhen in Lumane Casimir. Zunächst hatte die Regierung eine Monatsmiete von 2 500 Gourdes (40 Euro) festgelegt. Auf Intervention von Präsident Martelly, der höchstpersönlich vor Ort auftauchte, wurde die Miete im April auf 1 500 gesenkt. Als die Gemeindebehörde von Croix-les-Bouquets, zu der die Siedlung gehört, einen Monat später trotzdem 2 500 Gourdes forderte, begehrten die Bewohner auf. „Im September kam die Polizei, zerstörte mein Haus und schlug mich zusammen“, sagt die 50-jährige Guerdine Dauphinay, die nur noch ein Bein hat, in einem Café von Port-au-Prince. Der blinde Pierre Molière, der sich auf einen weißen Stab stützt, pflichtet ihr bei. Ihm sei dasselbe geschehen. Sie beide hätten die Proteste organisiert. „Als Johnny, mein Sohn, mich besuchen wollte“, berichtet Dauphinay weiter, „wurde er von der Polizei angehalten, verprügelt und ins Gefängnis gebracht.“ Bei einem Ausbruch sei er angeschossen worden. Nun liege er angekettet im Zentralkrankenhaus im Stadtzentrum.
Verletzt und angekettet im Krankenhaus? „Sie glauben mir nicht? Fahren Sie hin“, sagt die Frau gekränkt, „hier ist sein Name.“ Johnny hat kein Einzelzimmer. Etwa 20 Patienten liegen im Raum. Fast alle haben sie Schusswunden, die meisten sind wohl Opfer der Gewalt in den Armenvierteln. Johnnys rechter Unterschenkel liegt in einer Metallschiene. Der 28-Jährige zeigt die Röntgenbilder seines zerschossenen Schienbeins. Sein linkes Bein liegt an einer schweren Eisenkette, die am Bett, ebenfalls aus Eisen, festgemacht ist. Johnny ist Generalsekretär des Marché de Fer, des Eisenmarktes im Zentrum der Hauptstadt, so benannt nach seiner gusseisernen Struktur. Er erzählt die gleiche Geschichte wie seine Mutter. Seine Frau, die gekommen ist, um ihm Essen und frische Bettlaken zu bringen, nickt stumm.
Ein Menschenrechtler, der den Fall untersucht hat, erklärt auf Anfrage, Johnny sei der eigentliche Anführer der Proteste in Lumane Casimir gewesen. Im Übrigen sei der Ausbruch aus dem Zentralgefängnis von Port-au-Prince, bei dem 329 Häftlinge entwichen, von der Gefängnisleitung auf Wunsch hoher politischer Stellen arrangiert worden, um den schwerreichen Geschäftsmann Clifford Brandt entweichen zu lassen, der wegen Erpressung eines Bankiers einsaß.
„Was hier passiert“, so kommentierte Präsident Martelly den Massenausbruch aus dem Gefängnis, „zeigt die Schwäche unserer Institutionen.“ Ob er selbst an ihrer Stärkung interessiert ist, darf allerdings bezweifelt werden. Seit drei Jahren sind Parlamentswahlen überfällig. Wenn sie bis zum 12. Januar nicht stattfinden – und sie werden nicht stattfinden – , dann muss das Parlament laut Verfassung aufgelöst werden. Dann müsste der Präsident per Dekret regieren. Damit habe er nun wirklich überhaupt kein Problem, verkündete Martelly, ein Land müsse schließlich regiert werden.
Martelly wurde 2011 ganz offensichtlich nicht wegen eines Programms oder politischer Fähigkeiten zum Präsidenten gewählt, sondern weil er ein populärer Komponist und Sänger der haitianischen Kompa ist, einer Musik, die auf der Tanbou, der traditionellen Fasstrommel, begleitet wird. Gewiss gereichte ihm auch zum Vorteil, dass er nicht der politischen Klasse des Landes entstammt. Im vergangenen Mai gründete Martelly seine Partei Tèt Kale, das ist kreolisch und heißt auf Deutsch: „rasierter Schädel“ oder kürzer „Glatze“. Tèt Kale nannten ihn zunächst seine Fans, weil er tatsächlich keinen Millimeter Haarwuchs zulässt. Tèt Kale nennt er sich längst selbst. Tèt Kale heißt er auch oft in der Presse. Und im Zentrum von Port-au-Prince verkünden große Spruchbänder: „3 lane pwogrè, tèt kale“ – „drei Jahre Fortschritt mit Tèt Kale“.
Zumindest ist der Schutt weggeräumt. 20 bis 25 Millionen Kubikmeter Schutt sind ja nicht wenig. Und die Zelte stehen nicht mehr. Der Eisenmarkt, dessen Generalsekretär im Krankenhaus angekettet ist, steht wieder in alter Pracht da samt seinen vier markanten Glockentürmen. Er war 1890 in Paris als Bahnhofshalle für Kairo entworfen, dann aber nach Haiti verkauft worden. Bei einem Brand wurde im Jahr 2008 ein Flügel des Markts zerstört. Nach dem Erdbeben blieb eine Ruine zurück. Heute verkaufen die Händler wieder Gemüse und Parfüm, Früchte und Gemälde, Säfte, Holzkrücken, Bibeln und allerlei Voodoo-Utensilien. Alles dank der Großzügigkeit von Denis O’Brien, dem irischen Besitzer von Digicel, einem Konzern, der in der ganzen Karibik Handy-Netze unterhält und sich den Wiederaufbau des Eisenmarkts zwölf Millionen Dollar kosten ließ.
Aber sonst ist nicht viel wiederaufgebaut. Von der Kathedrale steht noch immer nur die beschädigte Frontfassade. Der blütenweiße Präsidentenpalast, der nach dem Erdbeben wie ein riesiges zerquetschtes Insekt im Champ de Mars lag, ist neugierigen Blicken durch eine grüne Absperrung vollkommen entzogen. Statt auf Neubauten trifft man im Zentrum vor allem auf „tôle rouge“ – rotes Stahlblech, das Ruinen oder Baustellen, auf denen nicht gearbeitet wird, abschirmt. Rotblech ist im haitianischen Alltag längst zur Metapher geworden. „Er schafft Rotblech“ heißt „Er liegt auf der faulen Haut.“ „Er redet Rotblech“ heißt „Er ist ein Schwätzer“.
Trotzdem, Port-au-Prince erhält ein neues Zentrum. Da, wo einst neoklassizistische Fassaden standen, verkünden fünf Jahre nach dem Erdbeben große Tafeln: „Hier entsteht der Verfassungsgerichtshof: drei Stockwerke, 2 368 Quadratmeter Büros“ oder „Hier entsteht die zentrale Zollverwaltungsbehörde, sieben Stockwerke, 7 000 Quadratmeter Büros“. Und der Schutt an der Rue du Champ de Mars ist nicht ein Überbleibsel des Erdbebens. Nein, hier wurden Häuser abgerissen, um eine Regierungsmeile und ein modernes Geschäftszentrum zu bauen, ein „Port-au-Prince Downtown“, wie böse Zungen spotten. Nur wer seinen Besitz nachweisen konnte, wurde entschädigt. Aber da es kein Kataster gibt und viele Dokumente beim Erdbeben zerstört wurden, gehen viele leer aus.
Der Unmut ist groß. Der Unmut ist umgekehrt proportional zur Transparenz. „Niemand weiß, wer was aufbaut“, ereifert sich Régine, eine Urbanistin, die es eigentlich wissen müsste. Sie arbeitet in einer staatlichen Institution, die sich mit der Wiederherstellung von Straßen, Elektrizitätsnetz und Wasserleitungen befasst. Weder ihren Familiennamen noch den Namen ihrer Institution möchte sie publiziert sehen. Sie fürchtet um ihren Job. Dass die direkt dem Premierminister unterstellte oberste Wiederaufbaubehörde UCLBP Journalisten gegenüber dichtmacht, wundert sie nicht. „Ich weiß selbst nicht, wer das neue Wirtschaftsministerium baut“, sagt sie, „es gibt Gerüchte, der Auftrag sei längst an Chinesen gegangen. Und wer baut die Kathedrale wieder auf? Niemand weiß es.“
Die Vereinigung der haitianischen Architekten und Urbanisten, der haitianische Verband der Bauunternehmer, die „Bewegung für ein schönes Haiti“, zu der sich 120 Vereine und Organisationen der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen hatten, die eine öffentliche Diskussion über den Wiederaufbau forderte – alle fühlen sich übergangen.
Während in den ersten zwei Jahren vor allem internationale Geldgeber den Wiederaufbau finanzierten – „zwölf Milliarden Dollar waren versprochen, vier Milliarden kamen an“, sagt Präsident Martelly -, schöpft die Regierung heute vor allem aus dem Fonds von Petrocaribe, Venezuelas Erdölprogramm für die Karibik. „Es gab und gibt keine öffentlichen Ausschreibungen“, sagt Régine, „es herrscht Ausnahmezustand, also vergibt die Regierung die Aufträge direkt.“
Den großen Reibach machen Firmen aus der Dominikanischen Republik. Allein Félix Bautista, Senator im Nachbarstaat, hat für seine verschiedenen Baufirmen Aufträge in Höhe von 385 Millionen Dollar ergattert. In Santo Domingo ermittelt der Generalstaatsanwalt gegen den Milliardär wegen Geldwäsche und Korruption. Seine Immunität wurde im Oktober aufgehoben. Dutzende Villen und Häuser in seinem Besitz wurden beschlagnahmt. Bautista wird zudem verdächtigt, den Wahlkampf von Präsident Martelly mit 2,6 Millionen Dollar unterstützt zu haben, um sich später dann Aufträge zu sichern. Mitte Januar soll das Verfahren eröffnet werden. In Port-au-Prince munkeln viele, dass auf verschiedenen, mit rotem Blech abgeschirmten Baustellen die Arbeit wegen des Prozesses gegen den Bauherrn ruht.
Aber man darf nicht ungerecht sein“, sagt Régine, „Haiti musste vor fünf Jahren buchstäblich bei Null anfangen.“ Die Verwaltung lag am Boden, viele Beamte waren tot, die Ministerien eingestürzt. Vieles wurde repariert: Straßen, Häuser, Telefonleitungen, Wasserröhren, Schulen, und höchstens 100 000 Menschen von einst anderthalb Millionen wohnen noch in Zelten. Überall in Port-au-Prince trifft man auf Baustellen. Neue Viertel sind entstanden. Zum Beispiel Jalousie, das an einem Berghang über Port-au-Prince liegt. Von ferne ein malerischer Stadtteil, Gebäude in allen Farben stapeln sich übereinander. „Viele haben da einfach Häuser auf Land gebaut, das ihnen gar nicht gehört“, sagt Régine, „und oft haben sich die wirklichen Besitzer des Bodens die illegale Bebauung versilbern lassen.“
„Das Bauministerium hat zwar klare Vorschriften zur erdbebensicheren Bauweise herausgegeben, aber niemand kontrolliert, ob sie eingehalten werden, schon deshalb werden sie nicht beachtet“, sagt Claude Prépetit. Vier Wochen vor dem 12. Januar 2010, dem Tag, an dem mehr als 200 000 Menschen starben, hatte der Geologe im Interview mit dem Schriftsteller Clitandre vom Pulverfass gesprochen, auf dem die Hauptstadtbewohner lebten. „Käme es heute zu einem Erdbeben“, warnt er, „würde sich die Katastrophe wiederholen.“
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 03.01.2015