VENISSIEUX. Die Geschäfte laufen schlecht und die Zukunft sieht düster aus. „Immer weniger wollen in heimatlicher Erde bestattet werden“, klagt Ali K. , füllt zwei Tassen Tee und greift zur Zigarette, die er sich hinters Ohr geklemmt hat. Die kleine Firma, die ihn beschäftigt, bietet eine besondere Dienstleistung an: die Überführung von Leichen nach Algerien. „Gewiss, so ein Transport kostet eine Stange Geld“, sagt der 45-Jährige, „aber das ist nicht das Problem, nein, immer mehr wollen hier beerdigt werden, weil ihre Verwandtschaft zum großen Teil hier lebt.“ Ali K. ist Franzose, aufgewachsen in Frankreich, geboren sieben Jahre, nachdem das Land seiner Väter die Unabhängigkeit erlangte. Wenn er selbst von den anderen, den französischen Franzosen spricht, sagt er: „Die Weißen“. Und für die ist er schlicht ein Araber.
Khalida, seine Tochter, 17, trägt ein Kopftuch und schweigt. Ihr Bruder Ahmed, 15, nestelt an seinem Kapuzenpulli und mault: „Ich bin Algerier.“ Sein Vater lächelt milde und sagt: „Du sprichst ja nicht einmal Arabisch.“ Ahmed antwortet nur: „Jedenfalls habe ich nicht geschwiegen.“ Wie viele seiner Schulkameraden hat er die vom Staat angeordnete Schweigeminute für die ermordeten Mitarbeiter von Charlie Hebdo nicht mitgemacht. „Sie haben den Propheten beleidigt“, schiebt er als Begründung nach. An der Wand hängt ein Bild der Kaaba, des schwarzen Steins von Mekka, des zentralen Heiligtums im Islam. Daneben, unter der algerischen Flagge, ein Porträt von Ali K.s verstorbenem Vater, mit Gewehr. 1938 geboren, hatte er als Bauernjunge auf Seiten der algerischen Befreiungsbewegung gekämpft. Er war Mudschaheddin, wie es damals hieß.
Die Familie K. lebt in Vénissieux, einem Vorort von Lyon. Ein Drittel der 62 000 Einwohner ist in Les Minguettes untergekommen, einem Stadtteil, der an Marzahn in Berlins Osten oder an das Märkische Viertel in Berlins Westen erinnert: Betonklötze, Wohntürme, ein bisschen Rasen und Parkplätze dazwischen. Les Minguettes wurde Ende der Sechzigerjahre aus dem Boden gestampft, als die Wirtschaft boomte und nach Arbeitskräften verlangte. Die kamen vor allem aus Algerien und zum kleineren Teil auch aus den anderen Ländern des Maghrebs. In Vénissieux hatten sich zahlreiche Großbetriebe angesiedelt.
„Als ich Kind war, beschäftigte allein der Lkw-Hersteller Renault Truck 18 000 Menschen“, sagt Michèle Picard, „heute sind es gerade noch 3 000.“ Die resolute 47-jährige Bürgermeisterin ist wie Ali K. in Les Minguettes aufgewachsen – und Mitglied der Kommunistischen Partei, wie ausnahmslos alle Bürgermeister, die Vénissieux nach 1944, nach der Befreiung der Stadt von der Nazi-Herrschaft, regiert haben. Bei den letzten Wahlen zum nationalen Parlament gewannen die Kommunisten im Verbund mit anderen Linksparteien weniger als sieben Prozent der Stimmen. In Vénisseux erreichte Picard hingegen 37 Prozent.
Wie eine Todesanzeige hängt über drei Stockwerke des Rathauses hinweg ein schwarzes Plakat mit der Schrift „Nous sommes Charlie“ – „Wir sind Charlie“. Auf der lokalen Trauerkundgebung hatte die Bürgermeisterin von den „Idealen der Freiheit und den republikanischen Werten der Toleranz, die Teil unserer gemeinsamen Geschichte sind“ gesprochen, Werte, die gegenüber Fundamentalisten und Reaktionären verteidigt werden müssten. Doch gesteht sie nun ein, dass die Vorstadtjugend der Kundgebung fast vollständig fernblieb. „Vénissieux“, sagt Michèle Picard, „ist eine Industriestadt, eine Stadt der Arbeiterkultur.“ Aber es gibt immer weniger Arbeit. Unter den Jugendlichen beträgt die Arbeitslosigkeit 40 Prozent. Wer einen arabischen Namen trägt, hat auf dem Arbeitsmarkt besonders schlechte Chancen. Mindestens ein Drittel, vielleicht die Hälfte der Stadtbevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Genaue Angaben gibt es nicht. Im republikanischen Frankreich fragt die Statistik nur nach der Staatsbürgerschaft, nicht nach der ethnischen Herkunft. In Les Minguettes aber, das ist augenfällig, hat die übergroße Mehrheit ausländische Wurzeln.
„Mit der Deindustrialisierung“, resümiert die Bürgermeisterin im Jargon einer Soziologin, „ist der Zusammenhalt der Gesellschaft zerbrochen.“ Auch von einer „muslimischen Gemeinschaft“ könne keine Rede sein. Es gebe die Algerier, die Marokkaner, die Türken, alle hätten ihre eigenen Imame, und zudem strebe jede islamische Glaubensrichtung nach eigenen Gebetshäusern. Deshalb sei letztlich auch ihr Plan, eine große Moschee zu bauen, gescheitert. Und es gibt nicht mehr die Jugend von Les Minguettes schlechthin. Die Jugend sortiere sich längst nach Straßen. Ein Teil von ihr drifte in einen islamistischen Radikalismus ab. „Man mauert sich ein“, bilanziert Michèle Picard, „und diese Mauern einzureißen, ist ein schwieriges Unterfangen.“
Vénissieux ist nicht nur eine Hochburg der Kommunisten, sondern auch der Salafisten, einer islamistischen Strömung, die die Rückkehr zum ursprünglichen Islam der Salaf, der Altvorderen, anstrebt. Die Salafisten lehnen die Integration in die Mehrheitsgesellschaft ab. Die Einmauerung, die Abschottung ihrer religiösen Gemeinschaft ist ihr Ziel. Bekanntester Salafist der Stadt war Abdelkader Bouziane, Imam der größten Moschee und polygamer Vater von 16 Kindern. Vor zehn Jahren wurde er aus Frankreich ausgewiesen. Er hatte die Steinigung von Ehebrecherinnen gerechtfertigt und gepredigt, Aids sei eine Strafe Gottes für sündiges Verhalten.
Die Salafisten sind radikal, aber nur eine kleine Minderheit unter ihnen geht den terroristischen Weg des Dschihadismus. Was aber treibt junge Männer, ihre Familien und Freunde zu verlassen und ihr Leben in fernen Ländern aufs Spiel zu setzen? Darüber kann Mourad Benchellali einiges berichten. Er hat viele Dschihadisten kennengelernt. Zweieinhalb Jahre war er auf der US-Basis Guantánamo interniert. Von den sieben Franzosen, die die Amerikaner auf ihrem Stützpunkt auf Kuba gefangen hielten, stammten drei aus Les Minguettes. Benchellali ist einer von ihnen. Der inzwischen 33-Jährige, Vater eines siebenjährigen Jungen, scheut die Öffentlichkeit nicht. Im Gegenteil. Er hat eine Mission gefunden. Er will aufklären, um gefährdete Jugendliche vom Weg in den Dschihad abzubringen.
Als Treffpunkt hat Benchellali das Café de la Paix im Zentrum von Vénissieux vorgeschlagen. Der Wirt kennt ihn. Benchellali, gegeltes nach hinten gekämmtes Haar, sorgfältig gestutzter Bart, wirkt zurückhaltend. Er redet leise, hastig, schaut dabei in die Ferne, als ob er dort die Antworten erst suchen müsste. „Ich war nie Dschihadist“, stellt er gleich zu Anfang des Gesprächs klar. „Ich war einfach naiv und habe auf meinen älteren Bruder Hakim gehört.“ Der hatte ihm vorgeschlagen, doch mal nach Afghanistan zu reisen. Es sei ein traumhaftes Land. Er habe Freunde, bei denen er dort unterkommen könne. Es war seine erste Auslandsreise überhaupt. Benchellali wollte der Enge der Wohntürme am Lenin-Boulevard von Les Minguettes entfliehen, die Welt kennenlernen. 19 Jahre alt war er, als er im Juli 2001 nach Pakistan flog.
Die Freunde seines Bruders beherbergten ihn tatsächlich und nahmen ihn schon bald mit über die Grenze, in ein Camp von Al-Kaida in Afghanistan. Zwei Monate lang wurde er dort an der Kalaschnikow und an Raketenwerfern ausgebildet, lernte Sprengstoff herstellen. „An Kampfhandlungen habe ich mich nie beteiligt“, beteuert Mourad Benchellali, „aber ich konnte nicht weg, ich saß in der Falle.“ Erst als die Amerikaner – in New York lagen inzwischen die Zwillingstürme des World Trade Centers in Schutt und Asche – Afghanistan bombardierten, um die Herrschaft der Taliban zu beenden, gelang es Benchellali, sich im allgemeinen Chaos nach Pakistan durchzuschlagen. Dort wurde er im Dezember 2001 von der Armee in einer Moschee festgenommen, nach wenigen Wochen nach Afghanistan zurückgebracht und den Amerikanern übergeben, die ihn nach Guantanamo ausflogen.
Zweieinhalb Jahre lang wurde er auf der US-Basis festgehalten, immer wieder gedemütigt, bedroht, geschlagen, mit Schlafentzug gequält und zum Ausharren in schmerzhaften Positionen gezwungen. Schließlich wurde er nach Frankreich überstellt, die ihn nach Fleury-Mérogis brachten, ins größte Gefängnis Europas, wo er bis im Juli 2006 weitere anderthalb Jahre in Haft war. Dass dort zur selben Zeit auch zwei der drei Attentäter von Paris einsaßen, hat Benchellali erst jüngst der Presse entnommen. Begegnet ist er ihnen nicht. Das Gefängnis, gebaut für 2 855 Häftlinge, ist mit über 4 100 Personen belegt.
Mourad Benchellali, der heute als Fliesenleger arbeitet und wieder in Les Minguettes lebt, hat seine Geschichte schon oft erzählt – vor Schulklassen, bei öffentlichen Veranstaltungen und auch in Gefängnissen, öfter im Ausland als in Frankreich selbst. Er hat sie auch niedergeschrieben. Sein Buch trägt den Titel „Voyage vers l’enfer“ – „Reise zur Hölle“. Benchellali kennt die Probleme der Jugend in den Banlieues der französischen Großstädte. Er spricht ihre Sprache. „Es ist meistens ein ganzes Bündel von Motiven, das einen jungen Mann in den Dschihadismus abdriften lässt“, sagt er, „Kompensierung täglich erlebter Ohnmacht, Enttäuschungen, verlorenes Selbstvertrauen, vielleicht Vereinsamung, vielleicht Abenteuerlust, und natürlich spielen der familiäre Kontext und oft psychische Schwierigkeiten eine Rolle.“
Die Radikalisierung laufe weniger über die Moscheen, als man denke. „Wichtiger sind die Videos, die in den sozialen Medien zirkulieren“, sagt Benchellali, dessen Vater, Imam in Vénissieux, wegen seiner radikalen Predigten bekannt war. Er musste sich wegen Aufstachelung zu Rassenhass und Rechtfertigung von Terrorismus vor Gericht verantworten, wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und 2006 aus Frankreich ausgewiesen. „Mein Vater hat mit meiner Reise nach Afghanistan überhaupt nichts zu tun“, stellt Benchellali allerdings klar, „damals ging ich ja nicht einmal regelmäßig zur Moschee. Den Koran habe ich erst in Guantánamo studiert, es war monatelang die einzige Lektüre, die ich haben durfte.“
In Les Minguettes, dessen Bewohner in ihrer großen Mehrheit Muslime sind, fühlt sich Benchellali zu Hause. „Ich liebe meine Religion“, sagt er heute ohne jedes Pathos in der Stimme, „doch für die meisten Franzosen bin ich der Dschihadist, bestenfalls der reuige Dschihadist, aber ich war doch niemals Dschihadist.“ Mit Franzosen meint er, selbst Franzose, wenn auch algerischer Herkunft, die französischen Franzosen, diejenigen, die Ali K., der Leichen transportiert, „die Weißen“ nennt.
Auch in Vénissieux liest man vielerorts „Nous sommes Charlie“. Wir alle. Die Beschwörung der nationalen Einheit ist gewissermaßen auch Ausdruck der realen Spaltung der Gesellschaft in „Eingeborene“ und Zugewanderte – eine Spaltung, die von den Rechtspopulisten des Front National seit Jahren gezielt gefördert wird. Vénissieux wird zwar seit der Befreiung von der Nazi-Herrschaft von Kommunisten regiert. Aber bei den Wahlen zum Europa-Parlament im vergangenen Jahr wurde der Front National stärkste Partei.
Vor über 30 Jahren hat Vénissieux Geschichte geschrieben. Jugendliche aus Les Minguettes begehrten gegen Polizeischikanen auf und zündeten Autos an. Die Polizei griff hart durch. Schließlich riefen der schwer verletzte Demonstrant Toumi Djaidja und Pater Christian Delorme 1983 zu einem nationalen „Marsch für die Gleichheit und gegen den Rassismus“ auf. Den Marsch nach Paris starteten 17 Aktivisten in Marseille. In Lyon war der Protestzug schon auf 1 000 Personen angeschwollen, und sieben Wochen nach dem Start zogen über 100 000 Demonstranten in Paris ein. Der „Marsch für die Gleichheit“ ist in das kollektive Gedächtnis der Bewohner von Les Minguettes eingegangen.
Und noch früher hat Vénissieux schon einmal Geschichte geschrieben. Sie ist im „Museum des Widerstands und der Deportation“ im Stadtzentrum festgehalten. Am 26. August 1942 wurden bei Razzien im Großraum Lyon 1 012 Juden festgenommen und ins Sammellager Vénissieux gebracht. Über eine Sabotage-Aktion gelang es dem Widerstand, 471 von ihnen, darunter sämtliche 108 Kinder, vor dem Abtransport ins Durchgangslager Drancy und dem Weitertransport von dort nach Auschwitz zu retten. Es ist eine Geschichte, die unter den muslimischen Jugendlichen von Vénissieux kaum bekannt ist.
Das „Museum des Widerstands und der Deportation“ ist geschlossen, seit vor zwei Monaten dessen Kurator, ein ehemaliger Partisan, gestorben ist. Michèle Picard, die kommunistische Bürgermeisterin, möchte es erweitern zu einem „Museum der Erinnerungen“ – ein Museum, das an die Résistance und die Deportationen, an die Industrie- und Arbeiterkultur und an die Geschichte der Migration erinnert. Ein Ort, in dem an die Geschichte sowohl der „Weißen“ wie auch der „Araber“ gedacht wird, ein Ort der nationalen Einheit
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 19.01.2015