Eines fernen Tages wird vielleicht auch der Norden Albaniens im Angebot von „NUR“, „TUI“ und „Neckermann“ stehen. Doch noch ist an Fremdenverkehr nicht zu denken. Jede Infrastruktur fehlt, und es herrschen rauhe Sitten. Schon kurz hinter der Hauptstadt Tirana werden Kotztüten verteilt und noch schnell zwei notdürftig verpackte Kalaschnikows in den Gepäckraum des Sammeltaxis geworfen. Auf mit Schlaglöchern übersäten Straßen erreicht man nach fünf Stunden das nur 150 Kilometer entfernte Dörfchen Koman. Dort ist Ende. Die Fahrgäste steigen in einem stinkenden Tunnel aus, stolpern dem Licht entgegen, wo eine Fähre auf sie wartet.
Die Gewehrsalven, die an den schroffen Felsen des Stausees widerhallen, erschrecken niemanden. Irgendwer hat wohl aus Spaß geballert. Vielleicht war es auch ernst. Noch vor kurzem jedenfalls gab es zwei Fähren. Jetzt fährt noch eine Fähre, und das auch nur noch einmal am Tag. Die Leute beschweren sich über die gestiegenen Preise. Auf dem Schiff, das drei Stunden lang den Stausee hochfährt, ist ein buntes Völkchen zusammengekommen. Einheimische, die in ihre Dörfer zurückkehren, aber auch viele, die zum erstenmal in diese gottverlassene Gegend gekommen sind.
Rexhep Osmani hat vorgestern einen Anruf aus Pristina, der Hauptstadt der umkämpften südserbischen Provinz Kosovo, erhalten: Seine Tante sei mit ihren vier Kindern aus Decani, einem Ort, der mittlerweile wohl völlig zerstört ist, nach Albanien geflohen. Noch am selben Tag ist er in Tetovo, einer albanisch besiedelten Stadt im Westen Makedoniens, aufgebrochen und hat nach einer zweitägigen Busreise über Tirana die Fähre erreicht.
Zeqe Malushaj, der seit über 20 Jahren in der Schweiz als Zimmermann arbeitet, hat jüngst erfahren, daß die Cousine seiner Frau und ein alter Freund im Kosovo umgekommen sind. Von seinen Angehörigen aus Peja hatte er seit Tagen keine Nachricht mehr. Und so ist er in den Norden Albaniens gekommen, um sie zu suchen. Mit ihm sind zehn weitere Kosovo-Albaner aus der Schweiz auf der Fähre. Sie haben 41.000 Franken gesammelt und dafür 13 Tonnen Lebensmittel, Kleidung und Medikamente eingekauft. Jetzt wollen sie auskundschaften, wie sie die an die richtigen Leute bringen.
Das Land hier ist karg, doch es muß trotzdem noch etwas hergeben. Jedenfalls rennt ab und zu ein Bauer die steile Böschung hinunter, um zuzusteigen. Kinder, die Ziegen hüten, winken verstohlen. Plötzlich stürzen auf dem Schiff zwei Männer mit gezückten Pistolen aufeinander los. Zwei weitere versuchen, die Streithähne zu trennen, und haben auch schon gleich ihre Schießeisen zur Hand. Padre Antonio, ein italienischer Pfarrer, der seit fünf Jahren in der Gegend arbeitet, drängt die Journalisten aus der Gefahrenzone: „Paßt auf, hier ist jeder bewaffnet.“
Ein Mann ohne Waffe ist nun mal kein richtiger Mann – jedenfalls hier in den Bergen, wo der Kanun, das alte Gewohnheitsrecht, das auch die Blutrache regelt, noch verwurzelt ist. Ein richtiger Mann muß wohl auch Bajram Curri gewesen sein. Er war Armeechef des Bischofs und des Schriftstellers Fan Noli, der 1924 ein halbes Jahr Ministerpräsident Albaniens war. Fünf Stunden lang soll er den Truppen, die ihn umzingelten, Widerstand geleistet haben, bis er den Freitod wählte. So will es jedenfalls die Legende.
Der Schock über die Armut in Albanien
Bajram Curri – so heißt heute der Hauptort des Distrikts Tropoja. Es ist ein trostloses Städtchen, heruntergekommen und dreckig. Es gibt zweimal täglich eine Viertelstunde fließendes Wasser, die Gullideckel wurden an ein Stahlwerk in Montenegro verschachert. Auf dem Hauptplatz bei der Präfektur suchen Kosovo-Albaner nach ihren geflüchteten Verwandten und Bekannten. Die Flüchtlinge erkennt man an ihrem Äußeren. Sie sind modischer und sauberer gekleidet als die Einheimischen. „Ich war schockiert, als ich diese Armut hier sah“, sagt Xheve Pula, die auch aus dem Kosovo geflüchtet ist. Sie ist mit ihren drei Kindern und einer weiteren Frau mit fünf Kindern bei einer Familie untergekommen. Alle zehn schlafen in einem einzigen Raum, auf sieben aneinanderliegenden Matratzen.
Über 10.000 Kosovo-Albaner sind vor der serbischen Artillerie, die seit bald zwei Wochen ihre grenznahen Dörfer beschießt, nach Albanien geflohen. Alle sind bei Familien untergekommen, in einem Gebiet, das gerade mal 30.000 Einwohner zählt, und fast alle wollen vorerst hier, in Grenznähe, bleiben.
Im Kleinbus nach Tropoja, einst Hauptort des gleichnamigen Bezirks, sitzt ein Mann, der sich als Fatmir ausgibt. Auf seiner Baseball-Mütze prangt der Doppeladler mit den Buchstaben UCK. Das Kürzel steht für „Befreiungsarmee des Kosovo“, die geheimnisvolle Guerilla, deren Führer niemand kennt und die der serbischen Polizei und nun auch der jugoslawischen Armee den Krieg erklärt hat. Na ja, jeder kann sich schließlich so ein Emblem annähen. Doch dann zerstreut Fatmir die Zweifel. Er wickelt eine Handgranate aus seinem Taschentuch und sagt: „Heute nacht gehe ich wieder hinüber, und die anderen vier im Bus hier auch.“
Zustimmendes Nicken. Anders als in Bajram Curri, wo Polizei präsent ist, tragen in Tropoja fast alle jungen Männer, viele unter ihnen Halbwüchsige, eine Kalaschnikow. Während der Unruhen des vergangenen Jahres waren schließlich fast sämtliche Waffenlager geplündert worden. Gegenüber der kleinen Moschee sitzt ein alter Mann auf einem Hocker vor seinem Haus, neben sich, ans Gemäuer gelehnt, ein Maschinengewehr chinesischen Fabrikats mit zwei Patronengürteln. Das Relikt aus der Zeit der Allianz zwischen dem langjährigen albanischen Diktator Enver Hodscha und Mao Tse-tung stellt er aus wie andere ihre Tomaten oder Paprikas.
Aber es herrscht keine aufgeregte Stimmung. Die Maultiere an der Dorftränke sorgen für ein friedliches Bild. Anderthalb Stunden fährt man mit dem Lastwagen über eine unbefestigte steinige Straße zur Grenze auf dem Padesh, einem Höhenzug oberhalb von Tropoja. Der serbische Wachturm ist seit einem Jahr nicht mehr besetzt. Auf dem albanischen stehen drei weiß gekleidete Herren und schauen mit Feldstechern in den Kosovo hinein. Es sind Beobachter der Europäischen Union.
Aber auch mit bloßem Auge kann man die etwa sieben Kilometer entfernten Dörfer sehen, aus denen Tausende Familien vertrieben wurden. Heute ist kein Artilleriebeschuß zu hören, nur das Geräusch der serbischen Panzer, die unten auf der Hauptstraße rollen. Im abschüssigen Wald, der sich zwischen der Grenze und der Straße den Hügel entlangzieht, ist eine Kompanie der jugoslawischen Armee verborgen. Und im selben Wald verstecken sich auch Flüchtlinge, viele wochenlang.
Die Grenze selbst ist jedoch unbewacht, einmal abgesehen von dem einzigen albanischen Soldaten und dem albanischen Grenzpolizisten, die hier beide etwas verloren in der Landschaft stehen. Früher hat hier ein elektrisch geladener und mit Sensoren versehener Zaun die Flucht von Albanien in den Kosovo verhindert.
Auch heute wieder sind 45 Flüchtlinge über die Grenze gekommen. Unter ihnen ist Lumnija Kuci mit ihren fünf Kindern im Alter zwischen drei und fünfzehn Jahren und ihrer 59jährigen Schwiegermutter. Sie warten oben auf dem Padesh, bis sie der Laster der UNHCR nach Tropoja fährt. 13 Stunden seien sie marschiert, berichten sie, und nachts hätten sie im Wald geschlafen – oder es zumindest versucht. Die drei jungen Männer, die die Familie sicher nach Albanien gebracht haben, wollen ihre Namen nicht nennen. Aber sie steigen mit auf die offene Ladefläche des Fahrzeugs. „In 48 Stunden müssen wir wieder zurück“, sagt einer von ihnen, „wir haben nur Erlaubnis für zwei Tage, dann müssen wir wieder unsere Dörfer verteidigen.“ Tatsächlich gehen die meisten jungen Männer wieder zurück in den Kosovo. Das bestätigt auch Bill Foxton, der Leiter der OSZE-Delegation, die im Hotel von Bajram Curri ihr Lager aufgeschlagen hat. Es scheint ein tollkühnes Unterfangen angesichts der militärischen Übermacht der Serben, und es wird gefährlicher, je weiter die ethnische und militärische Säuberung des Grenzstreifens fortschreitet.
Was geht in diesen Männern vor? Haben sie wirklich keine Angst, wie sie vorgeben? Überschätzen sie nicht ihre Kräfte? Gehen sie zurück, weil es ihre Familien, ihr Clan erwarten? Oder weil sie fürchten, sonst als Verräter abgestempelt zu werden? „Es wäre gut, wenn die Nato uns helfen würde“, sagt einer der drei Männer auf dem Laster, „was sollen wir mit Kalaschnikows gegen Panzer ausrichten?“ Und dann: „Wir haben keine andere Möglichkeit.“
Fast ein Jahrzehnt hätten sich die Kosovo-Albaner in zivilem Widerstand geübt und nichts erreicht, nun seien sie mit ihrer Geduld am Ende. Unten in der Nähe von Tropoja zeigt der Taxifahrer auf ein Haus in der Ferne. Jedermann kennt hier den großen Hof. Hier ist Sali Berisha, der im vergangenen Jahr entmachtete Präsident, aufgewachsen. Hier hat er einst Schafe gehütet. Doch der Taxifahrer weigert sich hartnäckig, den kurzen Weg hinzufahren. Durchs Fernglas sieht man vor dem einsam in der Landschaft stehenden Gehöft, das heute von einem Cousin Berishas bewohnt sein soll, etwa zwei Dutzend Maulesel und fast ebenso viele Autos und Menschen.
In Tropoja blüht der Schmuggel mit Waffen
Werden schon bald Waffen für den Schmuggel über die Grenze verladen? Erkennbar ist das aus dieser Distanz nicht. Ein Reporter von Koha Ditore, der unabhängigen Zeitung des Kosovo, berichtet aber, man habe ihn mit Schüssen vertrieben, als er sich dem Hof nähern wollte. Einem Mitarbeiter einer internationalen Organisation hat man etwas freundlicher, aber in bestimmtem Ton zur Umkehr geraten. Wie dem auch sei: Daß der Schmuggel mit Waffen in Tropoja blüht, daran zweifelt hier niemand.
Aber wie lange noch? Bis die Nato kommt? Ein Einsatz der Nato nur zur Überwachung der Grenze würde die UCK vom Waffennachschub aus Albanien möglicherweise abschneiden und so die serbische Seite begünstigen. Werden sich die Kreise, die am Waffenschmuggel gut verdienen und die bewaffneten jungen Männer in Tropoja, denen er wohl ein nur kärgliches Einkommen verschafft, Ärger machen?
30.000 Nato-Soldaten bräuchte man, um die Grenze zu sichern, meint Bill Foxton, der bei einer secret mission im arabischen Raum einen Arm verloren, den Krieg um die Falckland-Inseln miterlebt hat und im bosnischen Bihac acht Monate belagert wurde. Wer in Padesh oben gestanden hat, glaubt das sofort. Einen Nato-Einsatz ohne UN-Mandat im Kosovo aber werde die internationale Gemeinschaft nicht hinnehmen, meint der Brite und fuchtelt mit dem Arm: „Wir haben keine Antwort auf das, was passiert.“
Thomas Schmid, DIE TAGESZEITUNG (TAZ), 10.06.1998