Nabil lebte in einem Weiler oberhalb von Khemis El Khechna, keine dreißig Kilometer außerhalb Algiers, da, wo die fruchtbare Mitidja-Ebene ins Atlas-Gebirge übergeht. Der Vater war eines Tages verschwunden, und so mußte die Mutter ihre sieben Kinder alleine durchbringen. Es war ein kärgliches Leben zwischen Zitronen- und Olivenbäumen, mit ein paar Schafen und Ziegen, letztlich bei aller Schönheit der Natur wohl doch etwas eintönig. Und vermutlich hat der zwölfjährige Nabil schon damals, wie die meisten Jungen seines Alters, von einem andern Leben in Algier geträumt, der Millionenstadt, deren Außenviertel als weißes Band am Horizont sichtbar sind. Doch dann geschah vor drei Jahren etwas, was all seine Träume zerschlug. Wie üblich hatte ihn die Mutter geschickt, Wasser zu holen. Auf dem Weg zum Dorfbrunnen schoß man ihm die Nase weg.

Nun sitzt Nabil da, in einem kleinen Raum in Algier. Houria Sewawi, die Ärztin, hat ihn hergebracht. Ein riesiges Pflaster läuft quer über sein Gesicht, vom einen Ohr zum andern. Ein Auge starrt leblos vor sich hin. Das Gesicht des 15jährigen Jungen ist schmerzhaft verzerrt. „Soll ich das Pflaster wegmachen?“ – „Nein, muß nicht sein.“ Dann löst die Ärztin es doch. Da wo die Nase war, ist ein großes, tiefes schwarzes Loch. Die obere Zahnreihe ist samt Gaumen weg. Nabils Worte sind unverständlich, er hat Atemschwierigkeiten und ißt Babynahrung.

Auf dem Weg zur Wasserstelle geriet Nabil vor drei Jahren in eine Schießerei zwischen islamistischen Gruppen, die sich die Gegend streitig machten. Lyndan Rekab, die Lehrerin, fand den schwerverletzten Jungen am Wegrand, Soldaten brachten ihn schließlich nach Algier. Houria Sewawi und Lyndan Rekab sind froh, daß es die Armee gibt. „Sie beschützt uns“, sagen sie einstimmig, und nun hat man den Familien auch Waffen zur Selbstverteidigung gegeben. Beide sind Witwen. Houria Sewawis Mann, Bürgermeister, wurde Opfer eines Attentats, der Mann Lyndan Rekabs war Militäroffizier und fiel im Gefecht mit Terroristen.

Nissa Hammadi, Journalistin bei „Matin“, versteht nicht, weshalb die Europäische Union ihrem Land keine Waffen für den antiterroristischen Kampf liefern will. „Wenn sie wirklich gegen den Terrorismus wären“, meint sie, „würden sie wenigstens die islamistischen Gruppen zerschlagen, die im Ausland die logistische und finanzielle Hilfe organisieren.“ Ihr traumatisches Erlebnis hatte die28-jährige Frau im Dezember 1994. Damals hatte sie Said Mekbet, ihr Chefredakteur, zum Essen eingeladen. Sie saßen im Restaurant „Miséricorde“, zu deutsch: „Barmherzigkeit“. Da stand ein Mann, der seit sechs Monaten schon regelmäßig im selben Lokal aß, auf, zog die Waffe und drückte zweimal ab. Said Mekbet, der Nissa Hammadi in den Journalismus und ins politische Milieu eingeführt hatte, war sofort tot. „Er stand auf der Liste, die die Terroristen in der Moschee angeschlagen hatten, ganz oben“, sagt Nissa Hamadi. „Le Matin“, früher die Zeitung der Kommunisten, hatte schon immer die Hardliner im Apparat unterstützt. Den Militärputsch vom Januar 1922, mit dem die „Islamische Heilsfront“ (FIS) um die Früchte ihres Wahlsiegs vom Vormonat gebracht wurde, hatte das Blatt begrüßt.

Die sozialdemokratische FFS war damals eine der wenigen laizistischen Parteien, die dafür eintraten, den Wahlsieg der FIS zu anerkennen und sie an die Regierung zu lassen. Der Präsident der FFS, Hocine Ait-Ahmed, eine der historischen Führer des algerischen Unabhängigkeitskampfes, lebt heute im Schweizer Exil. Generalsekretär vor Ort ist Ahmed Djeddai. Im Empfangszimmer der Parteizentrale sitzen zwei Bauern aus Ouled Allel. Ihr Dorf, das 15 Kilometer südlich der Hauptstadt liegt, haben sie vor zwei Jahren verlassen. Islamistische Terroristen der GIA hatten ihnen angedroht, die Kehle zu durchschneiden. In Ouled Allel befand sich damals das Hauptquartier islamistischen Guerilla, und so wurde der Ort bis auf wenige Häuser von der Armee zerstört. „Der Militärkommandant forderte uns danach auf, ihm eine Liste von Personen auszuhändigen, die bereit seien, der bewaffneten Bürgerwehr beizutreten“, sagt der jüngere der beiden Bauern, der seinen Namen nicht nennen will, „wir haben das gemacht, man hat uns Hilfe versprochen, doch nichts ist passiert.“ Dann steckt er dem Fremden einen handgeschriebenen Brief zu. „Wir bitten Sie, das Schweigen, das uns umgibt, zu durchbrechen, denn das Schweigen bedeutet Tod, Mittäterschaft, Feigheit“, heißt es da. Und dann ist von einer „Militärdiktatur“ die Rede und von einer „verfaulten, korrupten und despotischen Macht“.

FFS-Generalsekretär Ahmed Djeddai, von Beruf Chirurg, entging am ersten Tag des Aid El Fitr, des zweitägigen Fests, das auf den Fastenmonat Ramadan folgt, vermutlich einem Attentat nur, weil ihn seine Frau im letzten Moment bat, doch nicht, wie es die Tradition fordert, auf den Friedhof zum Grab seiner Mutter zu gehen. Letzte Woche dann standen auf der Tür seiner Arztpraxis drei Buchstaben: GIA. Natürlich hat Djeddai Angst – allerdings mehr vor Armee und Geheimdienst als vor den Islamisten. Die drei Buchstaben kann schließlich jeder schreiben. „In diesem Land wird systematisch gefoltert“, sagt er, „es gibt außergerichtliche Hinrichtungen, Leute werden verschleppt und verschwinden für immer.“ Und gibt es die „Organisation der freien jungen Algerier“ (OJAC) noch, die 1993 ankündigte, für jedes männliche Opfer des Terrorismus 20 „Bärtige“ (Islamisten) zu erschießen und für jede ermordete unverschleierte Frau 20 verschleierte Frauen zu töten. „Gibt es in diesem Land Todesschwadronen?“ fragt sich Djeddai. „Die Armee fordert die Leute auf, sich zu bewaffnen“, behauptet er, „doch die meisten weigern sich, dann kommt es zu Massakern, danach wollen alle Waffen.“ Wer für die Massaker verantwortlich ist, läßt er offen. Aber daß die Armee schon mehrmals zwar in unmittelbarer Nähe war, aber nicht einschritt ist, als Islamisten Dörfer überfielen und die Bewohner niedermetzelten, steht fest. Und Djeddai mutmaßt, daß einige Gruppen der GIA geheimdienstlich gesteuert werden, möglicherweise, ohne daß sie dies selbst merken. „Wer tötet hier eigentlich wen?“, fragt sich der FFS-Politiker täglich. Eine klare Antwort hat er nicht.

Djeddai ist für den Dialog mit allen, die die Gewalt und den Terrorismus verurteilen, also auch mit der verbotenen FIS, deren militärische Verbände, die AIS, inzwischen bevorzugte Zielscheibe der GIA, schon vor Monaten einen Waffenstillstand verkündet haben. Die drei Tageszeitungen, die für einen solchen Dialog einstanden, sind alle eingegangen. Es gibt viele Arten, eine Zeitung zu schließen. Man kann ihr die Inserate staatlicher Firmen und der öffentlichen Verwaltung entziehen, man kann kurzfristig gestundete Druckkosten eintreiben, man kann eine Zeitung zu hohen Prozeßkosten verurteilen.

„Die einen töten legal, die andern illegal“, sagt der junge Direktor eines Staatsbetriebs aus Oran, der größten Stadt im Osten des Landes, der im Hotel El Djazair, dem früheren Saint George,  abgestiegen ist und seinen Namen nicht nennen will, „aber das wirkliche Problem sind letztlich die Militärs.“ Wer hat im Oktober 1988 an die tausend Jugendliche erschossen, die auf den Straßen protestierten, als es noch keine FIS gab? Wer hat 1992 den Präsidenten Boudiaf erschossen, als der ankündigte, gegen die Korruption hoher Militärs vorzugehen? Der Direktor fragt und weiß die Antwort. Er ist verbittert darüber, daß die staatliche Bürokratie jede unternehmerische Initiative abblockt. „Aber ihr Journalisten bekommt hier ohnehin nur das Bild von Algerien präsentiert, das die Macht dem Ausland verkaufen will“, warnt er zum Abschied, „das Hotel hier ist für euch ein Fünfsternekäfig.“

Journalisten dürfen das Gebäude, das schon so illustre Gäste wie den Baron von Rothschild, Simone de Beauvoir, Andre Gide, Churchill und Eisenhower beherbergt hat, heute nur unter bewaffnetem Schutz verlassen. Dem Wunsch, einen Spaziergang durch die Kasbah, die verwinkelte Altstadt zu machen, die sich vom zentralen Platz der Märtyrer bis zur Zitadelle hochzieht, wird stattgegeben. Für die drei Journalisten werden neun Sicherheitskräfte abgestellt. Zu Fuß steigt der Trupp Gassen und Treppen hoch. An einigen Hausmauern stehen noch – oder wieder? – drei Buchstaben: F I S. Die Kasbah war – oder ist? – eine Hochburg der Islamisten. Sie bietet überall Schlupfwinkel. Schon die Franzosen eroberten sie 156/57 nur mit Terror und unter großen Opfern Haus für Haus zurück. Nach dem Sieg der algerischen Befreiungsfront zogen die meisten Bewohner der engen Kasbah in die geräumigen Wohnungen um, die die geflüchteten Franzosen in Bab El Oued und andern Vierteln Algiers hinterlassen hatten. Leute aus den umliegenden Dörfern zogen in die leeren Häuser der Kasbah ein, die seither zunehmend verfällt.

Gegenüber vom Haus, in dem die eindrückliche Schlußszene des einstigen Kult-Films „Die Schlacht von Algier“ gedreht wurde, sitzt eine ältere Frau auf der Treppe. Sie stellt sich als Louise vor, lädt die fremden Spaziergänger ein, sich die Wohnung anzusehen. Es ist ein Loch von etwa acht Quadratmetern mit drei Matratzen für fünf Kinder und sie selbst. Louise ist ein Opfer der algerischen Familiengesetzgebung, die 1984 verabschiedet wurde, in einer Zeit also, in der das Regime sich noch sozialistisch nannte. Danach kann ein Mann seine Frau ohne weitere Begründung verstoßen. Nach der Scheidung gehört die gemeinsame Wohnung ihm allein, selbst wenn er, was in seinem Belieben ist, die Kinder der Frau überläßt. Einer der neun bewaffneten Begleiter hat sich ebenfalls in die Wohnung gezwängt. Aus Sicherheitsgründen oder weil er hören will, was gesprochen wird? Die Bewohner der Kasbah sind freundlich. Aber ein Gespräch über das, was sich hier in den letzten Jahren abgespielt hat, ist in Anwesenheit der Bodyguards schlicht unmöglich.

„In der Kasbah gab es viele Tote“, hatte Fatima Mansouri, die Abgeordnete der Kasbah im Parlament gesagt, „aber die FIS ist nun aufgelöst, und das ist gut so.“ Die Bärtigen sind verschwunden oder haben sich rasiert. Zu Fuß getraut sich die Frau, die der Regierungspartei angehört, bis heute nicht allein in ihren Wahlkreis. Muhamed, der 52jährige Polizeioffizier, der die Eskorte der Journalisten befehligt, ein Mann in schwarzem Hemd, schwarzer Lederjacke und mit ausgebeulter Hosentasche, meint lapidar: „Die Bevölkerung der Kasbah bezahlt nun eben für ihre Komplizenschaft mit der FIS.“ Auch er geht nie allein in das Viertel, für dessen Sicherheit er zuständig ist. Polizist, sagt er, sei er aus Liebe zum Beruf.

Addad Hakim und Ould Ouali Nadim tragen einen Bart. Nein, religiös seien sie nicht, lachen sie, das ist eben unsere Art des Protests. Daß auf dem Personalausweis seit vergangenem März das Tragen eines Bartes in einer Sonderrubrik vermerkt wird, finden sie eher lustig. Ärgerlich wird dies erst, wenn sie das Land mit dem Flugzeug verlassen wollen. Bartträger werden seit vergangenem Sommer nicht mehr geflogen – Ausländer selbstredend ausgenommen. Die beiden Männer arbeiten im Büro des „Rassemblement Action Jeunesse“ (RAJ), einer Organisation, die sich bemüht, die Jugend, die zum großen Teil arbeitslos herumhängt, zu „sensibilisieren“, wie sie sagen. Doch so einfach ist das nicht. Addad Hakim, Generalsekretär der Organisation, holt den Ordner mit den „Interdits“, den administrativen Bescheiden über Verbote. In Tizi Ouzou, dem Hauptort der Kabylei, wurde die Veranstaltung eines Konzerts verboten. In Bechar durfte eine Diskussion in geschlossenem Saal über Menschenrechte nicht stattfinden. Ein Sit-in vor dem Parlament wurde genauso untersagt wie eine Ausstellung und eine Diskussionsveranstaltung über die blutig niedergeschlagene Jugendrevolte vom Oktober 1988. „Njet, njet, njet, heißt es da“, resümiert Hakim, „und dies in den allermeisten Fällen ohne jede Begründung.“

Die RAJ tritt für den Dialog auch mit der FIS ein, geißelt den islamistischen Terrorismus wie auch die militärische Repression und befürchtet eine Militarisierung der Gesellschaft. Daß die Armee nun in den Dörfern überall Selbstverteidigungsmilizen bewaffnet, findet Bouda Nadjet, Politologie-Studentin und RAJ-Aktivisten, fatal. Selbst wenn sich Ali Benhadj, der inhaftierte radikale Eiferer der FIS, und Said Sadi, der Präsident der RCD, einer Partei, die den Islamismus mit Stumpf und Stiel ausrotten will, einst den Versöhnungskuß geben sollten, sagt sie, werden noch Hunderttausende im ganzen Land unter Waffen stehen. „Das ist doch wahnsinnig, da wird es auf allen Seiten Abrechnungen geben.“

In Sidi Hamed interessieren solche Argumente wenig. Die Leute im Dörfchen, das unweit von Khemis El Khechna liegt, wo Nabil, der Junge ohne Nase, lebt, wollen Waffen. Vor einem Monat haben die islamistischen Terroristen der GIA eine Handgranate ins Dorfkino geworfen. 26 Männer wurden im Videoraum getötet, und als die Überlebenden ins Freie stürzten wurden sie beschossen und niedergemacht. Die Armee, die 500 Meter vom Geschehen entfernt kaserniert ist, griff nicht ein. 130 Grabhügel zeugen vom Massaker. 30 bis 40 junge Frauen wurden in die Berge verschleppt. Abad Mohamed, der im obersten Haus des Dorfes lebt, hat von den Soldaten eine Jagdflinte mit doppeltem Lauf erhalten. „Wenn die ‘Wilden’ von den Bergen herunterkommen“, sagt er, „verteidige ich meine Familie bis zum Tod.“ Seit einem Monat hält er jede Nacht auf dem flachen Dach hinter einer frisch hochgezogenen, mannshohen Mauer Wache. „Wir sind alle krank“, sagt eine seiner drei Töchter, die beim Massaker ein halbes Dutzend Freunde verloren hat, „wir schlafen nicht mehr.“

Die belgische Fernsehjournalistin, die mich zu Nabil geführt hat, hat aufgehört, sich die Frage zu stellen: Wer tötet hier wen? Sie will einen Film über den Jungen aus Khemis El Khechna drehen und Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit er in ihr Land geflogen wird und dort von Gesichtschirurgen wenigstens eine neue Nase erhält. 

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 14./15.02.1998 (unredigierte Fassung, redigiert erschienen unter dem Titel „Die algerische Tragödie)