Die Gänsefüßchenrepublik im Kaukasus

Es ist eine atemberaubende Landschaft von wilder Schönheit. Durch eine Hochsteppe, vorbei an zerklüfteten Felsen windet sich die Straße zum verschneiten Pass hoch. Auf der andern Seite schlängelt sie sich verspielt hinunter, um hinter dem Berg zu verschwinden. Eine Schafherde trottet durch das karg bewachsene, steinige Feld. Hoch oben in den Lüften zieht ein Raubvogel seine Kreise. Es herrscht eine himmlische Ruhe. Nach sechs Stunden Fahrt hält der Kleinbus, der in Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, gestartet ist, mitten in den Bergen vor zwei Fahnenstangen und einem kleinen Häuschen. Es ist die Grenze zu Bergkarabach, einer unabhängigen Republik, die von keinem Staat der Welt anerkannt wird, einer Gänsefüßchenrepublik also. In der Hauptstadt Stepanakert wird man am Freitag in einer offiziellen Feier des Genozids an den Armeniern gedenken, der vor hundert Jahren seinen Anfang nahm. In Bergkarabach wohnen heute ausschließlich Armenier. Das war nicht immer so.

Bergkarabach ist seit bald hundert Jahren ein Objekt des Streits zwischen Armenien und Aserbaidschan. Nach der Oktoberrevolution und der Eroberung der beiden Staaten durch die Rote Armee wurde Bergkarabach, das mehrheitlich von (christlichen) Armeniern besiedelt war, per Dekret ein Autonomes Gebiet innerhalb der von (muslimischen) Aseris dominierten Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik und blieb dies fast 70 Jahre lang – bis zum Zerfall der Sowjetunion. 1992 rückten armenische Freischärler in das Gebiet ein. Die Armee des unabhängig gewordenen Aserbaidschans schickte Truppen in die abtrünnige Region. Es kam zum offenen Krieg, in den 1993 auch die Armee Armeniens eingriff. Als nach 40.000 Toten und einer Million Vertriebenen 1994 ein Waffenstillstand vereinbart wurde, hatte die armenischen Streitkräfte nicht nur die Gebiete der früheren Autonomen Region fast vollständig unter Kontrolle, sondern noch einmal so große Gebiete Aserbaidschans besetzt, die nie zur Autonomen Region gehört hatten. Seither ist der Krieg eingefroren, kann aber bei Bedarf jederzeit aufgetaut werden. Täglich kommt es zu Scharmützeln und jede Woche auch zu Toten.

In Shushi, eine halbe Autostunde von Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs, entfernt, sind die Spuren des Krieges noch überall zu sehen: notdürftig geflickte Häuser, zerschossene Mauern, Ruinen. Shushi war einst die größte Stadt zwischen Tiflis und Teheran, im 19. Jahrhundert ein Zentrum sowohl armenischer wie aserbaidschanischer Kultur. Noch 1920 hatte sie mehr als 40.000 Einwohner, heute sind es weniger als 4.000. Hatte die Stadt am Ende des Ersten Weltkriegs noch eine armenische Mehrheit, wurde sie nach dem antiarmenischen Pogrom von 1920, dem mindestens 2.000 Armenier zum Opfer fielen, fast ausschließlich von Aseris beseiedelt. Und als nach dem Kollaps der Sowjetunion der Krieg ausbrach, war Shushi eine Hochburg der Aseris mitten im armenisch besiedelten Bergkarabach.

„Von Shushi aus beschossen sie mit schwerer Artillerie Stepanakert“, sagt Samuel, „die Kathedrale hatten die Aseris zum Munitionslager gemacht.“ Der 18-jährige armenische Student der Hochschule der Künste weiß das nur vom Hörensagen. Er ist nach dem Waffenstillstand geboren. Aber was in der Stadt während des Krieges passiert ist, wissen ohnehin alle hier nur vom Hörensagen. Damals waren ja nur Aseri in der Stadt. Heute leben ausschließlich Armenier hier. Nach der Einnahme Shushis durch armenische Freischärler wurden alle Aseris vertrieben, die nicht schon aus Angst vor Rache geflüchtet waren. Die Kathedrale von Shushi ist längst restauriert. Die drei vom Krieg arg gezeichneten Moscheen aber sind nur noch steinerne Zeugen einer andern Herrschaft. Immerhin stehen sie unter öffentlichem Schutz, um sie vor dem weiteren Verfall zu bewahren. Kommen die Aseris je wieder zurück? „Wir werden es nicht zulassen“, sagt Samuel, „wir können nicht zusammenleben, nie, entweder sie oder wir.“

Von all diesem Geschehen, das noch gar nicht weit zurückliegt, will Susana Avagjan nichts mehr hören. Die 82-jährige Armenierin steht am Straßenrand und stützt sich auf einen Besen. Sie musste 1988 aus Sumgait, einem Industrievorort von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans fliehen. Bei einem antiarmenischen Pogrom kamen damaligen offiziellen (sowjetischen) Angaben zufolge 26 Personen um. Die Armenier sprechen von weit über hundert Toten. Der Pogrom von Sumgait war der Prolog zum Krieg um Bergkarabach. Und Susana Avagjan kehrt nun Straßen, um ihre Rente von umgerechnet hundert Euro aufzubessern. Einen Sohn hat sie im Krieg verloren, der andere ist krank. So muss sie in ihren alten Tagen auch noch für ihn aufkommen. Will sie wieder zurück nach Sumgait? „Es war dort wunderschön, ich vermisse das Kaspische Meer“, sagt sie, „aber ich werde es nie wieder sehen. Nein, zurück kann ich nicht.“ Ein Foto will die Rentnerin auf gar keinen Fall zulassen. Sie schämt sich wegen ihrer löchrigen Kleider.

„Die Eroberung von Shushi brachte die Wende im Krieg“, sagt Karen Mirzojan, Außenminister der Republik Bergkarabach. Sein Amtssitz ist ein altes zweistöckiges Gebäude im Zentrum von Stepanakert. Der 49-jährige Hausherr, geboren in Armeniens Hauptstadt Eriwan, ist promovierter Orientalist. Werden sich die Armenier aus den besetzten Gebieten außerhalb der früheren Autonomen Region Bergkarabach zurückziehen? „Aus den befreiten Gebieten“, korrigiert Mirzojan freundlich und holt einen historischen Atlas von Bergkarabach. Das Gebiet ist auf allen Karten keine Enklave innerhalb von Aserbaidschan mehr, sondern hat eine lange, gemeinsame Grenze mit Armenien. Wird sich Bergkarabach mit Armenien vereinigen? „Wenn es die Armenier Bergkarabachs und die Armenier Armeniens eines Tages auf demokratischem Weg beschließen, wird man das nicht verbieten können“, sagt der Außenminister, „aber das steht jetzt nicht an. Wir wollen die Verhandlungen nicht erschweren.“

Im Rahmen der sogenannten Minsk-Gruppe bemühen sich unter dem gemeinsamen Vorsitz von Frankreich, Russland und den USA 13 Staaten seit über zwei Jahrzehnten um eine Vermittlung im Konflikt. Ohne jedes Ergebnis, weil Aserbaidschan auf seiner völkerrechtlich vom Sicherheitsrat der UNO viermal bestätigten Souveränität über das Gebiet besteht und weil Bergkarabach, unterstützt von Armenien, keinen Fingerbreit des besetzten, pardon: befreiten Gebietes wiederhergeben will. „Weil keine Lösung in Sicht ist, nehmen die Spannung in der Region seit zwei oder drei Jahren rapide zu“, warnt Mirzojan, „aber ein offener Krieg wäre eine Katastrophe für alle Seiten, auch für uns, aber noch mehr für Aserbaidschan. Es hat keine Chancen, Bergkarabach zurückzuerobern.“ Rund 20.000 Soldaten Armeniens sind in Bergkarabach stationiert. Im Kriegsfall, so vermutet der Minister, würde Armenien als erster Staat der Welt die Republik Karabach diplomatisch anerkennen.

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 13.05.2015


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