SZEGED. Der Schienenstrang verläuft schnurgerade durch die ebene Landschaft. Ganz hinten am Horizont, da wo sich die beiden Schienen zu berühren scheinen, sind kleine dunkle Punkte wahrnehmbar. Sie bewegen sich, kommen näher, werden größer und größer. Es sind Menschen, die auf dem Bahndamm daherkommen. Gruppen von Menschen. Jetzt sieht man deutlich, dass sie Beutel, Rucksäcke oder kleine Kinder tragen.


Sie schweigen, fragen nichts, lächeln verlegen zurück. Nur einer sagt „Salam alaikum“. Er heißt Khaled, war in Damaskus medizinisch-technischer Assistent und hat ein dickes, von Narben übersätes Bein. Eine „barrel bomb“ habe ihn erwischt, erklärt er in brüchigem Englisch, eine dieser mit Nägeln und Metallteilen gefüllten Fassbomben, die das syrische Regime aus Hubschraubern auf die Zivilbevölkerung abwerfen lässt. Jetzt geht er am Stock, wie seine alte Mutter auch. Er verabschiedet sich, dann humpeln beide weiter über die Eisenbahnschwellen, um den Anschluss an die Gruppe nicht zu verpassen.



Am weißen Grenzstein

Einige Flüchtlinge wirken erschöpft, andere wie nachdenkliche Sonntagsspaziergänger. Hinter der ersten Gruppe kommt eine zweite, eine dritte, und auch schon die vierte ist erkennbar. Sie alle nehmen vom weißen Grenzstein kaum Kenntnis, auch nicht vom hölzernen Wachturm aus kommunistischer Zeit, der aus dem Schilf ragt. Sie ziehen weiter gen Norden, werden wieder kleiner und kleiner, bis sie nur noch als Punkte wahrnehmbar sind.

Natürlich wissen sie, dass sie gerade die Grenze zwischen Serbien und Ungarn überschritten haben. Denn wenige Meter hinter dem Grenzstein funkelt links und rechts des Bahndamms ein neuer Zaun aus Nato-Draht mit scharfen Klingen. Da zwischen Szeged (Ungarn) und Subotica (Serbien) in beide Richtungen dreimal täglich ein Lokalzug verkehrt, gibt es hier eine Lücke im 175 Kilometer langen Zaun, der – sieben Wochen nach Baubeginn – am Wochenende fertiggestellt wurde. „Europa muss den Europäern gehören“, hatte Ungarns rechtspopulistischer Premier Viktor Orbán befunden. Es scheint, als hätte er schon vergessen, dass vor gerade mal 26 Jahren in seinem Land ein Zaun abgebaut wurde, der den Osten vom Westen trennte.

Zwischen 2 000 und 3 000 Flüchtlinge, manchmal auch mehr, kommen zurzeit täglich über die Grenze nach Ungarn. Vermutlich 90 Prozent von ihnen auf dem eingleisigen Schienenstrang zwischen Szeged und Subotica. Auch der ungarische Grenzschutz, der auf dem Feldweg vor dem Zaun patrouilliert, weiß von der Lücke. Als ein ungarisches Fernsehteam auftaucht, sind umgehend sechs Polizisten mit einem Schäferhund zur Stelle und machen das Schlupfloch dicht. Die ungarische Polizei, soll das Fernsehpublikum glauben, lässt keinen rein, stellt sich dem Ansturm von Flüchtlingen entgegen, verteidigt das Vaterland gegen jene, die Staatspräsident János Áder vor Kurzem „Belagerer“ genannt hat.

Dass das von Türken belagerte Budapest 1541 kapitulierte und danach anderthalb Jahrhunderte lang zum Osmanischen Reich gehörte, weiß in Ungarn jedes Schulkind. Nein, diesmal werden es die „Belagerer“ – wieder sind es Muslime, vor allem Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan – nicht schaffen, so die unterschwellige Botschaft.

Als das TV-Team den Bahndamm verlässt, ziehen sich auch die Polizisten wieder zurück. Sie wissen, dass sie in Wahrheit niemanden aufhalten können. Dass der Zaun nur im Fernsehen funktioniert. Die nächsten Flüchtlinge kommen über den Schienenstrang, ziehen am Grenzstein vorbei nach Norden. Nach etwa zwei Kilometern überquert eine Straße die Bahnlinie. Dort wartet die Polizei mit Bussen.

Die Ankömmlinge werden ins Transitlager ins Grenzdörfchen Röszke gebracht und dort registriert. Wer aber seinen Fingerabdruck in Ungarn hinterlässt, kann später nach Ungarn zurückgeschickt werden. Immerhin hat Deutschland vergangene Woche beschlossen, zumindest keine Syrer mehr zurückzuschicken. Es hat sich unter den Flüchtlingen herumgesprochen. So verlassen vor allem Jugendliche aus Afghanistan, Pakistan und Irak den Bahndamm wenige Meter vor der Grenze, schlagen sich in die Büsche und warten auf eine günstige Gelegenheit, um über den Zaun nach Ungarn zu klettern.

Das ist nicht allzu schwierig, der Zaun ist nicht einmal mannshoch. An zahlreichen Stellen liegen schmutzige Jacken, zerrissene Schlafsäcke, blutbefleckte Decken über der obersten der drei aufeinandergestapelten Stacheldrahtrollen. Mit etwas Vorsicht und Geschick übersteigt man an diesen Stellen den Zaun, ohne von den winzigen Messern verletzt zu werden. Kinder schlüpfen unten durch oder werden über den Zaun gereicht. Unter den Augen und Kameras der Journalisten rennen sie über den Feldweg, auf dem die Grenzer patrouillieren, ins nahe Unterholz. Die meisten von ihnen werden wohl später bei einer Kontrolle auf der Landstraße oder in Szeged aufgegriffen und zwecks Registrierung in ein Transitlager gebracht.

Noch ist es einfach, den Zaun zu überwinden. Bis Ende November allerdings soll parallel zum Stacheldrahtverhau ein vier Meter hoher Metallgitterzaun stehen. Dann wird es schwieriger werden, unbemerkt ins Land zu schlüpfen, aber gewiss nicht unmöglich.

Einsatz der Armee?

Vielleicht versucht dann Ungarn tatsächlich, die Grenze dichtzumachen und auch das Schlupfloch am Bahndamm zu schließen. Diese Woche will das Parlament ein Gesetz verabschieden, das den Einsatz der Armee gegen Flüchtlinge erlaubt und für illegale Einreise eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht – bis zu fünf Jahren sogar, wenn der Grenzzaun beschädigt wurde.

Werden sich die Flüchtlinge, die jeden Tag zu Tausenden aus der Türkei, über Griechenland und Mazedonien kommen, schon bald in Serbien stauen, das sie bisher ungehindert einreisen lässt, weil sie ohnehin wieder ausreisen? Noch steht am Ortsrand von Horgos, dem serbischen Dorf an der Grenze, ein Polizist, der den durchziehenden Ausländern mit ausgestrecktem Arm wortlos den Weg zum Bahndamm weist. Die Dörfler, die fast alle der ungarischen Minderheit Serbiens angehören, sind heilfroh, dass die Fremden weiterziehen.

Niemand ist gut auf sie zu sprechen. Die Kosmetikverkäuferin hat ihre Ziersträucher vor ihrem Laden ausgerissen, weil sie voll von Fäkalien waren. „Oft schlafen sie ja direkt vor meinem Geschäft“, klagt sie, während gerade eine lange Flüchtlingskolonne vorbeizieht, „im Winter, wenn sie nicht mehr draußen schlafen können, werden sie wohl in die Häuser einbrechen.“ Der Bäcker meint: „Sie sind schlimmer als die Kosovaren, viel aggressiver.“ Angst hat er allerdings nicht. „Ich habe zwei Hunde“, sagt er, „einen deutschen Schäferhund und einen kaukasischen Owtscharka.“ Vor dem Lebensmittelladen stehen Flüchtlinge Schlange. Ein bulliger Mann in Trainingshosen bewacht den Eingang. Er passt auf, dass sich nie mehr als fünf Fremde im Laden aufhalten.

Das verschlafene Dorf hat sich verändert. Täglich ziehen hier Tausende Syrer, Afghanen, Pakistani, Kurden durch. Sie kommen in Bussen, lassen Müll liegen, suchen einen Platz, wo sie sich erleichtern können. „Es war immer sauber im Dorf“, sagt eine Alte, die am Stock geht, „und jetzt sammle ich all diesen Abfall mit der Heugabel ein, mit der Hand fass‘ ich nichts an.“

Mihály Bimbó kann die Wut der Grenzbewohner verstehen. Der 70-jährige ehemalige Tierarzt, ein rundlicher Mann mit borstigem Haar, ist Bürgermeister von Kanjiza, der Kreisstadt, zu der Horgos gehört. Er öffnet das Fenster seines Büros, bittet den Besucher ans Fenster und sagt: „Schauen Sie, da unten auf dem Hauptplatz der Stadt haben manche Nacht an die 1 500 Flüchtlinge geschlafen, sie urinierten ans Rathaus und verrichteten ihre Notdurft hinter den Bäumen.“

Bimbó hat viele Briefe an die Regierung in Belgrad geschrieben, bis endlich am Rand von Horgos ein Transitlager eingerichtet wurde, wo sich nun viele Flüchtlinge für einen Tag ausruhen, bevor sie sich zum Bahndamm aufmachen. Noch ist die Lücke offen. Wie lange noch? Werden die Flüchtlinge sich schon bald hier in Serbien stauen? „Die Flüchtlinge werden sich nicht aufhalten lassen“, da ist sich Bimbó sicher, „notfalls gehen sie 15 Kilometer weiter östlich über die Grenze.“

15 Kilometer östlich des Bahndamms, beim ungarischen Dörfchen Kübekháza, endet die ungarisch-serbische Grenze. Hier, mitten in der Puszta, steht der letzte Pfahl des neu errichteten Grenzzauns. Ein Flüchtling aus Serbien müsste ihn also nur umrunden, ein paar Schritte über rumänisches Territorium gehen, und wäre schon in Ungarn. Denn zwischen Rumänien und Ungarn gibt es keinen Zaun. Noch nicht.

Doch noch ist kein Flüchtling in Kübekháza angekommen, wo deutsche Hinweisschilder – „Zahnarzt“, „Friedhof“, „Dreigrenzenstein“ – daran erinnern, dass in Kübeckhausen einst die Hälfte der Dorfbevölkerung Banater Schwaben waren. Die meisten von ihnen wurden am Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben, wurden zu Flüchtlingen oder Aussiedlern. „Für das Dorf war es ein Verlust“, sagt Róbert Mólnar, der Bürgermeister von Kübekháza und fügt hinzu: „Wir brauchen Brücken, keine Zäune.“ Lange Zeit habe Premier Órban gegen die Brüsseler Bürokraten gehetzt, klagt der tiefgläubige Jurist, nun habe er ein neues Feindbild: die Flüchtlinge. „Dieser Grenzzaun ist eine Schande“, sagt Mólnar. Im Übrigen sei er vor allem eine Botschaft an die ungarischen Bürger: „Die Regierung beschützt euch vor dem Ansturm der Fremden.“

Jüngst ließ die Regierung überall im Land große Plakate anbringen, auf denen zu lesen stand: „Wenn Du nach Ungarn kommst, musst Du unsere Kultur respektieren“ und „Wenn Du nach Ungarn kommst, kannst Du den Ungarn nicht die Jobs wegnehmen“. Sie waren in ungarischer Sprache abgefasst, richteten sich also an die Ungarn. „Das Leid der verzweifelten Menschen politisch zu missbrauchen, ist einfach widerwärtig“, sagt Molnár. Sollten Flüchtlinge je in Kübekháza ankommen, so wird der Bürgermeister sie willkommen heißen.

Belegte Brote und Internet

Während die Regierung einen offen ausländerfeindlichen Diskurs führt, kümmert sich am Bahnhof von Szeged eine kleine Gruppe um die Menschen, die vor Krieg und Elend geflohen sind. Etwa 70 Helfer haben sich über Facebook zusammengefunden. In ihrer Holzbaracke schmieren sie Stullen und bieten freien Internet-Zugang an. Und immer, wenn ein Bus vom Transitlager in Röszke vor dem Bahnhof hält, eilen sie den Flüchtlingen mit Brötchen und Wasser entgegen.

Florentina, die sonst für den Malteser Hilfsdienst arbeitet, teilt Suppe aus. Leila, eine Iranerin, die an der Universität Szeged Medizin studiert, verbindet diejenigen, die sich am Zaun verletzt haben. Timea, Rechtsanwältin, bietet juristische Hilfe an. Balázs warnt die Ankömmlinge vor Schleppern, die, von der Polizei unbehelligt, auf dem Bahnhofplatz auf Kunden warten.

Allen registrierten Flüchtlingen stellt die Polizei ein kostenloses Zugticket nach Debrecen, Bicske oder Vámosszabadi aus. Dort, weit im Landesinnern, befinden sich die drei Lager, wo die Flüchtlinge bleiben müssen, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Doch ein neuer Gesetzentwurf sieht vor, die Asylverfahren künftig in grenznahen Transitzonen abzuwickeln.

Jede Stunde fährt in Szeged ein Zug ab, und noch hat jeder Zug einen Waggon für Flüchtlinge reserviert. Kaum einer von jenen, die über den Bahndamm oder über den Stacheldrahtzaun kommen, wird im Lager für Asylsuchende anklopfen. Sie wollen alle in Budapest aussteigen, sich über Österreich weiter durchschlagen, die meisten von ihnen nach Deutschland.


© Berliner Zeitung

THOMAS SCHMID, Berliner Zeitung, 31.08.2015

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