Ein Verteidigungsminister, der sich unheimlich freut, wenn Leute seiner eigenen Republik aus der Armee desertieren, ist gewiß keine alltägliche Erscheinung. Jerko Dokos Gefühle sind so unverständlich nicht: Die Einheiten, aus der die jungen Soldaten ausbüchsen, stehen zwar in seiner Republik Bosnien-Herzegowina, sind aber nicht ihm, dem Verteidigungsminister in Sarajewo, unterstellt, sondern der Bundesarmee und dem jetzt serbisch kontrollierten Staatspräsidium. Jerko Doko, der Verteidigungsminister ohne Armee, ist im übrigen Kroate.
Ob sich Bosnien-Herzegowina, dessen Bevölkerung zu über 44 Prozent aus Moslems, zu 31 Prozent aus Serben und zu 16 Prozent aus Kroaten zusammensetzt, aus dem Krieg zwischen Serben und Kroaten jenseits der Grenzen seiner Republik heraushalten kann? „Hier ist der Krieg bereits angekommen“, stellt Jerko Doko, ein fest. „Von den Flughäfen unserer Republik steigen Maschinen der jugoslawischen Luftwaffe Richtung Kroatien auf. Die Regierung Bosnien-Herzegowinas hat die Kontrolle über seine Territorien verloren. In den vorwiegend serbisch besiedelten Grenzgebieten zu Montenegro im Süden und Kroatien im Norden bilden sich unter den Augen der Armee bereits die Konturen autonomer serbischer Gebiete. Von dort aus ist es in den letzten Wochen immer wieder zu Angriffen auf Kroatien gekommen.“
Im Büro des Verteidigungsministers von Bosnien-Herzegowina hängt eine große „ethnische Karte“ der Republik. Vorwiegend moslemisch besiedelte Gebiete sind grün eingezeichnet, Blau steht für kroatisch und Rot für serbisch. Je dunkler die Farbe, desto höher der Bevölkerungsanteil der numerisch stärksten Ethnie. Daraus folgt zweierlei: Erstens es gibt einige wenige erschlossene Siedlungsgebiete, ansonsten wechseln sich die Farben Rot, Blau und Grün munter ab. Zweitens: Es gibt einige, wenige bevölkerungsarme Gebiete, in der eine Ethnie mehr als 80 Prozent der Bevölkerung stellt, und es gibt viele Gebiete, in denen keine der drei Ethnien 50 Prozent erreicht. Wer in diesen Teil Jugoslawiens auf die absonderliche Idee verfallen sollte, anhand ethnischer Kriterien staatliche Grenzen zu ziehen, muß die Grenzpfähle quer übers ganze Land verteilen, sie mitten in Dörfer und 10.000fach in Ehebetten einschlagen.
„Ihr Deutschen versteht uns nicht! Ihr versteht nichts von Jugoslawien! Als sich die Deutschen vereinigten, freute sich die ganze Welt. Auch wir. Ausgerechnet ihr Deutsche habt nicht verstehen können, weshalb wir Serben uns nicht auf verschiedene Länder aufsplitten lassen werden!“ Radovan Karadjic ist schon erregt, bevor ich ihm die erste Frage meines angemeldeten Interviews stellen kann. Ob die Aufwallungen des Chefs der bosnischen-herzegowinischen „serbischen demokratischen Partei“ echt oder vorgetäuscht ist, läßt sich nicht entscheiden. Aber jedenfalls ist er eine resolute Erscheinung. Ein Mann, der dem Gegner – als solchen begreift er mich – vorerst entschlossen in die Augen schaut. Daß sich viele Serben in Bosnien-Herzegowina freiwillig zur Armee melden, wundert ihn nicht. Schließlich geht es um die Durchsetzung des Rechtsstaates gegen 200.000 illegale Bewaffnete. Mit denen meint er die kroatische Nationalgarde und die „Schwarzen Legion“ – so hießen die SS-ähnlichen Eliteeinheiten der klerikal-faschistischen kroatischen Ustascharepublik im Zweiten Weltkrieg. Ob es sie heute gibt, kann bezweifelt werden. Wahrscheinlich hingegen ist, daß sich irgendwelche durchgeknallten kroatischen Extremisten so schimpfen. Aber mit Geschichte ist man hier – auf serbischer Seite – schnell zur Hand.
„Lassen wir die Geschichte Geschichte sein. Die Leute wollen arbeiten und essen“, wehrt auf der anderen Seite Ivan Markesic, der Generalsekretär der „Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft“ (KDZ) in Bosnien die Frage nach der aktuellen Virulenz der jüngeren Historie ab und greift schon zehn Minuten später auch in die Geschichtskiste und zwar ganz tief. „Die Krajina war ja ursprünglich nicht serbisches Gebiet und erst die Türken haben dort Serben zum Grenzschutz angesiedelt.“ Das mag ja sein, aber es ist auch schon einige Jahrhunderte her. Markesic jedenfalls ist ein gebildeter Mann, der seine Worte sorgfältig abwägt. Seinen Doktor in Theologie hat er sich mit einer Dissertation über Dorothee Sölle erworben. Der deutschen Kultur ist er zugeneigt. Das wiederum wird keinen Serben wundern.
Sarajewo ist die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas und strahlt Toleranz aus. Ein Dutzend Moscheen koexistieren in der Altstadt friedlich mit katholischen Kirchen und zwei Synagogen. Die Leute haben sich daran gewöhnt, miteinander zu leben, heiraten über ethnische und religiöse Schranken hinweg. Alle versichern das immer wieder. Alle beschwören ihre Gemeinsamkeit als bosnisch- hercegoeinische Bürger und verurteilen die Raserei des Bürgerkriegs. Und doch beschleicht einen das schreckliche Gefühl, das es schon bald anders werden könnte. Ein Indiz dafür wenn man hier mit irgend jemandem über Politik redet, sei ers ein Minister, sei es ein Kellner oder Taxichauffeur, weiß man nach fünf Sekunden, ob der Gesprächspartner Serbe oder Kroate ist, auch wenn er sich über seine Volkszugehörigkeit ausschweigt oder mit seinen politischen Ansichten hinter dem Berg hält. Ein Wort rutscht immer durch, und an manchen Stellen verrät ein Blick eine ganze Gedankenwelt.
Was passiert mit Bosnien-Herzegowina, wenn Kroatien unabhängig wird? Wird es auch unabhängig? Wird es Krieg geben? Der Verteidigungsminister ohne Armee hat nur eine Antwort: „Ich bin in Bosnien- Herzegowina geboren und will in Bosnien-Herzegowina sterben.“
Thomas Schmid, DIE TAGESZEITUNG, 10.10.1991