THEO PINKUS – Leben im Widerspruch

Am 1. Mai fehlte er nie. Immer stand er etwas verloren am Straßenrand und versuchte in der Zürcher Innenstadt den „Zeitdienst“ für 50 Rappen loszuwerden. Wir kauften das in aller Regel todlangweilige Blättchen —aus Respekt vor diesem Monument der Arbeiterbewegung, das dem Regen, dem Wind und dem Spott der saturierten Zürcher Bürger trotzend jeden Passanten mit seinem „Kanne Si scho de neu ‚Ziitdienst‘?“ nervte.


Theo Pinkus hat ein Antiquariat, eine Buchhandlung, einen Verlag, eine Studienbibliothek und eine Tagungsstätte in den Alpen gegründet. Doch wichtiger als all dies, so gestand er mir einmal, sei ihm der ‚Zeitdienst‘. Er war mächtig stolz auf die Gazette, die er vierzig Jahre lang im wesentlichen in Eigenregie herausgab. Sie stand für ihn selbst mehr als alles andere, was er hinterlässt, für Kontinuität über alle Irrungen und Wirrungen der Zeit — Slansky-Prozeß, Ungarn-Aufstand, 68er-Bewegung — hinweg.

In seinem antiautoritären Habitus und mit seinem langen weißen Haar war er zwar einer der unseren, der revolutionären Linken, doch Kontinuität fand er bei der traditionellen kommunistischen Partei der Arbeit — und die war langweilig, verknöchert und steril. Er blieb ihr treu bis zum Tod, der ihn, den unerschütterlichen Kommunisten und unverwüstlichen Optimisten, am vergangenen Sonntag in Zürich ereilte.

Mit der sozialistischen Bewegung kam Theo Pinkus schon in frühen Jugendjahren in Kontakt. 1909 als Sohn eines schlesischen Wirtschaftshistorikers, Redakteurs und Geschäftsmannes sowie einer schlesischen Theaterschauspielerin, beide aus Breslau, in Zürich geboren, engagierte er sich schon im Alter von 15 Jahren in linken Schülerzirkeln. Und mit 17 war er sich klar: „Ich will nicht Kapitalist werden“, hält er in seinem Tagebuch fest, „und muß in der sozialistischen Bewegung mitarbeiten. Ein Muß. Ich muß.“

Ein Jahr später — sein Vater, der Kapitalist, hat gerade Konkurs gemacht und sich vor der Schweizer Justiz und den Gläubigern nach Albanien abgesetzt, um sich dort später den Kommunisten anzuschließen — besteigt Theo Pinkus den Zug nach Berlin. Er hat eine Lehrstelle beim Ernst Rowohlt Verlag gefunden. Die Welt der Bücher wird ihn zeitlebens so wenig loslassen wie die Welt der Kommunisten, denen er –  in der Metropole der Weimarer Republik kaum angekommen — bald schon beitritt. Als Agitprop-Funktionär der KPD in Berlin-Schöneberg schart er junge Leute um sich und    gewinnt unter anderen auch den späteren DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph für die Partei. Später steigt Pinkus in die Reichsleitung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition auf.

Nach dem Reichstagsbrand wird ihm das Berliner Pflaster zu heiß. Er geht zur Schweizer Botschaft, um sich einen Paß ausstellen zu lassen. „Hören Sie, Pinkus“, wundert man sich dort, „das ist ein bißchen viel auf einmal; Kommunist, Jude, Ausländer und kein Paß.“ Doch nach zehn Minuten hat er das rettende rote Dokument mit dem weißen Kreuz.

Kaum in der Heimat angekommen, heiratet Theo Pinkus. Eine Scheinehe, um einer deutschen Emigrantin zum Aufenthaltsrecht in der Schweiz zu verhelfen. Seine wirkliche Lebensgefährtin, Amalie De Sassi, eine Tessi- nerin, Tochter eines Lebensmittelhändlers, lernt er im selben Jahr kennen. Bis zu seinem Tod wird er mit ihr zusammenbleiben. Die beiden haben sich über die Kommunistische Partei der Schweiz kennengelernt. Sie bleiben dieser auch treu, als sie nach Kriegsbeginn verboten wird. Doch noch in der Illegalität wird Theo Pinkus wegen Reformismus und Sozialdemokratismus aus der Partei ausgeschlossen – und Amalie, weil Theos Frau, gleich mit.

Die beiden treten der Sozialdemokratischen Partei bei. Doch dieser ist der Büchernarr, der massenweise politische Literatur aus den Ländern des Ostblocks einschleppt und einen respektablen Büchersuchdienst aufgebaut hat, eindeutig zu links. Er fliegt raus. Aber immerhin darf Amalie in der Partei bleiben. Den ausgeschlossenen Sozialdemokraten nimmt die Kommunistische Partei, die sich inzwischen in Partei der Arbeit umbenannt hat, schon bald wieder mit offenen Armen auf. 1953 schon hält er eine Gedenkrede zum Tode Stalins. „Ich verehrte natürlich Stalin“, bekannte er 35 Jahre später seinem Biographen. „Als Stalin starb, tat mir das ebenfalls leid. Viele in unserer Umgebung waren sehr betroffen, die Leiterin der Pioniergruppe weinte.“

Es sind schwierige Zeiten für Kommunisten. Sie gelten als Vaterlandsverräter, oft genug sind sie Fremde im eigenen Land. Am deutlichsten bekommen sie es 1956 zu spüren, nach dem antikommunistischen Aufstand in Ungarn. Scheiben kommunistischer Läden werden eingeschlagen, Kinder von Kommunisten verprügelt, und eine Aufschrift auf der Vitrine der Buchhandlung, die Pinkus ein Jahr zuvor eröffnet hat, verkündet kurz: „Mörder!“. Das Ehepaar Pinkus bringt die Kinder zur Sicherheit in denTessin, verbarrikadiert die Haustüre und wartet  bessere Zeiten ab.

Die kommen 1968. Amalie, inzwischen 58 Jahre alt, wird in cler autonomen Frauenbewegung aktiv. Theos kleiner Buchladen in der Froschaugasse wird zur bekanntesten Adresse in der linken Szene. Studenten, die sich an die Rekonstruktion der Geschichte der Arbeiterbewegung machen, drängen sich zwischen den verstaubten Regalen des großen Archivs im selben Haus. Berliner, die in Zürich keine Bleibe haben, schlafen auch schon mal in der nahegelegenen Stiftung Studienbibliothek, der das Ehepaar aus ihrem Privatbesitz über 11.000 Bände zur Geschichte der Arbeiterbewegung, darunter zahlreiche Erstausgaben und kostbare Tarnschriften, überlassen hat — damals wie heute ein Paradies für linke Bücherwürmer.

1968 war für Pinkus zweifellos ein zweiter politischer Frühling. Der Kommunist lebte auf, suchte das Gespräch mit den neuen Rebellen, kreuzte auf, wo es was zu diskutieren gab. Die Partei ärgerte sich über ihn, weil er über Rätesystem, Basisdemokratie, Selbstverwaltung parlierte; die Neue Linke nahm ihm die Treue zur Partei übel. Doch Theo Pinkus genoß dieses Leben zwischen den Fronten.

Anfang der 70er Jahre gründete er zusammen mit einigen Freunden eine Tagungsstätte in den Alpen — nur wenige Stunden Fußmarsch von der italienischen Grenze entfernt, „falls da irgendeiner mal flüchten muß“. Eine Stätte der Begegnung zwischen alter Arbeiterbewegung und neuer Sozialbewegung, wie er hoffte. Es kamen zunächst vor allem Jugendliche aus der Schweiz, Italien und Deutschland, die billig unter ihresgleichen Urlaub machen wollten, aber auch Max Frisch und Herbert Marcuse stellten sich im Haus Salecina am Maloja-Paß ein.

Seit Anfang der achtziger Jahre finden im Haus Salecina unter anderem auch regelmäßig Seminare zur Geschichte von unten statt. Inzwischen gibt es viele Geschichtswerkstätten, seit kurzem auch in Ost-Berlin, die sich ganz nach der Devise „Grabe, wo du stehst“ um die Rekonstruktion der Regional-, Lokal- und Alltagsgeschichte bemühen. Theo Pinkus grub an vielen Stellen.

© taz

Thomas Schmid, taz, 05.05.1991

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert