Der Bauch des Ungetüms öffnet sich, lange bevor es zum Stillstand gekommen ist. Es muß alles schnell gehen, auf dem Flughafen von Sarajevo. Flugkapitän Vollmann will seine Mannen nicht länger als nötig der Gefahr aussetzen. Die Stellungen serbischer Freischärler sind nur hundert Meter von der Rollbahn entfernt. Zwar sind entlang der Piste weiße Panzer der UN-Truppen eingebuddelt, doch Schutz bieten die Blauhelme nur begrenzt. So werden die zehn Tonnen Mehl in aller Eile ausgeladen. Und nach knapp einer halben Stunde hebt die gepanzerte Transall wieder ab. Zurück bleibt ein halbes Dutzend Journalisten, irgendwo zwischen zwei Aeroflot-Maschinen aus der Ukraine und einem Lufttransporter aus der Türkei. Vor dem zerschossenen Terminal herrscht emsiges Treiben. Überall kurven weiße Fahrzeuge der UNO, rasseln Schützenpanzer mit aufgepflanztem Gewehr und der blauen Fahne, Generatoren rattern.
Das „Holiday Inn“ hat gewiß schon bessere Zeiten gekannt. Die mächtige Glasfassade des Hotels am Stadtrand von Sarajevo ist zerborsten. Im Frisiersalon und im Büro der Autovermietungskette Hertz hat sich längst eine dicke Staubschicht auf die verwaisten Möbel gelegt. Viele Zimmer gleichen einer Schutthalde. Man kann direkt ins Freie springen. Fenster gibt es keine mehr, nur Löcher in den Mauern. Vor drei Monaten noch hatte die politische Partei der Serben ihr Hauptquartier hier im feinsten und nunmehr einzigen Hotel der Stadt. Als im April aus dem fünften Stockwerk das Feuer auf eine vieltausendköpfige Menge eröffnet wurde, die nichts weiter als Frieden, nur endlich Frieden, forderte, wurde es von der bosnischen Miliz gestürmt.
Seither ist diese unten im Foyer Tag und Nacht präsent. Mindestens ein Bewaffneter schleicht immer umher, zur Sicherheit der Gäste – ausschließlich Journalisten und Personal von Hilfsorganisationen. Denn ansonsten macht sich keiner mehr freiwillig nach Sarajevo auf, das zur Geisel serbischer Soldaten und serbischer Freischärler geworden ist. Die bosnische Metropole, die in einem Talkessel liegt, ist umzingelt. Oben auf den bewaldeten Berghängen sind etwa ein Dutzend serbischer Stellungen mit schwerer Artillerie versteckt, aus Haubitzen und Mörsern werden Granaten auf die Stadt zu ihren Füßen abgefeuert. Nur vom Zuk-Berg im Norden droht ihnen Gefahr. Dort hat sich ein bosnischer Trupp festgesetzt und feuert hin und wieder über die Stadt hinweg auf die serbischen Stützpunkte. Aber die Freischärler stehen nicht nur oben. Auf der steileren Südseite der Miljacka, die Sarajevo von Ost nach West durchfließt, sind sie fast bis zum Ufer des Flusses vorgedrungen. Vor allem von dort schießen die berüchtigten „Snajpers“, die Heckenschützen, auf alles, was sich bewegt.
„Wo Granaten fallen, werden Lilien blühen…“
Nur wenige Meter vom Eingang des „Holiday Inn“ entfernt peitscht ein Schuß. Ein junger Mann wird getroffen, gerade als er in den Bus einsteigen will. Er rettet sich ins Innere des Fahrzeuges, das der französischen Hilfsorganisation „Equilibre“ gehört. Eine Frau läuft hinüber, will den Verletzten herausholen, doch ein zweiter Schuß des Heckenschützen jagt sie ins Hotel zurück. Keiner der etwa zehn Journalisten, die im Foyer sitzen, wagt sich zum Bus vor – es wäre Selbstmord. Nach zehn Minuten schließlich trifft der angeforderte UN-Panzer ein, stellt sich schützend vor den Bus und birgt den Verletzten. Es ist der Franzose Joseph Aguetan, ein 21jähriger Jurastudent. Er gehört zur etwa 20köpfigen Gruppe, die in zweitägiger Reise Medikamente und Nahrungsmittel von Split nach Sarajevo gebracht hat.
Weitere Schüsse, nun unmittelbar am Eingang, lassen die Gäste hinter die Stühle hechten. Nur einer, an die zwei Meter groß, in Khakihemd und -hose, die Pistole im Gürtel, geht beherzt zur Rezeption und schnappt sich das Gewehr hinter dem Tresen. Es ist Dinko Coric, der 35jährige Generaldirektor des Hotels. Er setzt ein volles Magazin ein und postiert sich entschlossen hinter einer Säule vor dem Eingang, den Lauf des Gewehres hält er in die Richtung eines Gebäudes, das etwa hundert Meter entfernt liegt. Dort, im Dunkeln hinter einer der zahlreichen Fensterhöhlen, lauert der andere. Wild entschlossen steht Coric auf seinem Posten, als er gerufen wird. Am Tresen ist Slobodan, der Fahrer des US-Fernsehteams CNN – ein Serbe, der lange im US-Exil gelebt hat -, eingetroffen. Sein Arm blutet. Die Kugel ist von oben durch das Autodach eingedrungen, am Helm des CNN-Reporters abgeprallt und hat den Fahrer erwischt. Coric kippt eine halbe Flasche Alkohol über die Wunde und verbindet den Mann.
Die Szene ist beileibe nicht typisch für den Alltag der Medienleute in Sarajevo. Als Journalist lebt es sich hier, gemessen an der Situation der Bewohner der Stadt, leidlich gut. Man rast im Auto und mit schußsicherer Weste über gefährliche Kreuzungen, wo der Normalbürger um sein Leben rennt. Man ißt, was die Hotelküche als einfaches Einheitsmenü mit drei Gängen eben anbietet, während andere sich von Brot und Reis ernähren. Man duscht, während andere am Zisternenwagen um ein bißchen Wasser anstehen. Man reist nach drei Tagen unter dem Schutz des UN-Kontingents wieder ab, wenn man die Schnauze voll hat, während den 350.000 verbliebenen Einwohnern der eingekesselten Stadt nichts anderes übrigbleibt, als mit diesem Terror zu leben, dem sie seit drei Monaten ausgeliefert sind.
Saliha, die 27jährige Lehrerin, arbeitslos, seit die Schulen im April kriegshalber geschlossen wurden, lehnt die schußsichere Weste, die ich ihr für unseren gemeinsamen Rundgang durch die Altstadt anbiete, lachend ab. Sie hat auf ihre Weise gelernt, mit der Gefahr zu leben: Sie ignoriert sie einfach. Sie rennt nicht mehr über Straßenkreuzungen und schläft schon längst nicht mehr im Keller. Es ist nicht Trotz, eher ein Versuch, in dieser Situation Würde zu bewahren. „Wie Hasen knallen sie die Menschen ab“, sagt sie trocken, „ich werde nicht mehr wie ein Hase rennen.“ Keine Minute vergeht, ohne daß irgendwo in der Ferne oder in der Nähe ein Schuß fällt, und wohl mindestens zwei Dutzend schwerer Granaten schlagen täglich irgendwo in der Stadt ein. Dabei gibt es nichts zu erobern, nicht einmal die Leute könnten vertrieben werden. Sie sind ja eingeschlossen. Es ist nackter Terror gegen eine wehrlose Bevölkerung. Nichts anderes.
Die Stadt ist nicht zerstört, nicht in Schutt und Asche gelegt. Aber sie ist schwer verwundet. Es gibt kaum ein Haus, das die Straßenkämpfe und die Angriffe aus den Bergen heil überstanden hat. Meistens sind die Scheiben zu Bruch gegangen, zahlreiche Dächer sind beschädigt, hin und wieder hat eine Granate ein Loch in die Außenmauer gerissen. Und überall Einschüsse. Die gröbsten Trümmer sind beseitigt. Es gibt viel zu reparieren. Doch die meisten Häuser sind noch bewohnbar oder können wieder bewohnbar gemacht werden.
Im wesentlichen ist das Stadtbild – bisher jedenfalls noch – erhalten. Wenn alles nicht noch schlimmer kommt, werden weiterhin in einem Umkreis von 500 Metern ein halbes Dutzend Moscheen, eine römisch- katholische Kathedrale, eine alte serbisch-orthodoxe Kirche und zwei Synagogen (eine der sephardischen und eine der aschkenasischen Gemeinde) stehen – Ausdruck einer neben Jerusalem einzigartigen Symbiose verschiedener Kulturen. An all diesen Gotteshäusern hat der Krieg Spuren hinterlassen. Am schlimmsten scheint es die Gazi Husrevbeg- Moschee geroffen zu haben, das größte und bedeutendste sakrale Denkmal des Islam in Bosnien-Herzegowina überhaupt. 43 Granaten hat die 1531 gebaute Moschee, eine der ältesten auf dem Balkan, abgekriegt. „Als Prinz Eugen (1697) Sarajevo plünderte und brandschatzte“, behauptet Muhamed, der im Innenhof des Gotteshauses religiöse Schriften feilbietet, „wurde die Moschee nicht beschädigt. Als Hitler und seine Ustaschas vier Jahre regierten, blieb sie ganz. Schauen Sie doch, wie sie jetzt aussieht.“
In der Tat. Am Minarett lassen sich die Einschläge kaum zählen, eine Granate hat in der Seitenwand der Moschee ein klaffendes Loch hinterlassen, eine weitere ist in der Rückwand, hoch oben im Mauerwerk, steckengeblieben. Auch die beiden Mausoleen im Innenhof sind beschädigt. Neben dem Koran und islamischen Heftchen stellt der alte Mann nun auch die Überreste der Artilleriegeschosse aus.
Die Altstadt steht also noch, wenn auch schwer beschädigt. Doch das Leben in den Gassen des pittoresken türkischen Bazarviertels hat sich radikal verändert. Wo vor wenigen Monaten noch tagaus, tagein die Rhythmen orientalischer Musik erklangen, wo einem überall der Geruch von gebratenem Lammfleisch in die Nase stieg, wo Marktschreier ihre Ware anpriesen, herrscht heute gespenstische Ruhe. Die Läden sind verschlossen und mit Brettern vernagelt. Es gibt keine Kebab-Buden mehr. Es gibt so gut wie überhaupt nichts mehr zu kaufen. Und da, wo der Bazar auf den schönsten Platz von Sarajevo, die Bascarsija, mündet, warnt ein Schild: „Pazi Snajpers!“ – Achtung, Heckenschützen! Daneben hängt ein Plakat: „Wo Granaten fallen, werden Lilien blühen.“
Einige hundert Meter weiter ist vor sieben Wochen eine Granate eingeschlagen und hat 22 Menschen zerfetzt, die um Brot anstanden. Heute schmücken Blumen die Stelle des Grauens. Und noch immer kommt der Cellist Vedran Smailovic jeden Tag an den Ort des Verbrechens und spielt unerschütterlich sein schwermütiges Adagio von Albinoni. „Ich bleibe hier, bis das alles vorbei ist, und dann komme ich nie wieder zurück“, sagt der Musiker fest entschlossen beim Bier im „Ragusa“, einem Künstlercafé, in dem es mangels Wasser keinen Kaffee gibt. Auch der Schriftsteller Admiral Mahic brütet hier und hat nun schon sein fünftes Glas intus. Er müsse nur gerade mal den Schock hinunterspülen, sagt er. Auf einem Marktplatz außerhalb der Altstadt sei vor einer halben Stunde eine Granate eingeschlagen, erzählt er immer wieder. Er habe fünf Meter daneben gestanden, einer Frau sei der Arm abgerissen worden. Zwei Verrückte, signalisiert mir einer vom Nebentisch, unmißverständlich den Zeigefinger an die Stirn haltend. Die Geschichte eines Besoffenen? „Ich weiß, ich habe getrunken, aber glaub mir“, fleht der Poet mit Tränen in den Augen, und dann: „Wir brauchen Waffen, Waffen, Waffen.“ Zwei Stunden später kommt die Nachricht übers Radio: eine tote Frau und sieben Verletzte bei Granateinschlag in einen Markt.
Diffuse Angst, die Munition könnte ausgehen
„Glauben Sie mir, wir können gut drei Tage ohne Nahrung leben“, behauptet auch Drago Balic (*), Angestellter der 450 Jahre alten Religionsschule gegenüber der Gazi Husrevbeg-Moschee, „aber nicht mehr ohne Waffen.“ Im islamischen Internat, einst Hohe Schule der sufistischen Philosophie, sind 350 Flüchtlinge untergebracht, fast alle aus den von serbischen Freischärlern eroberten Vororten Sarajevos. Einmal pro Tag gibt es zu essen – heute eine Kraftbrühe, in der ein wenig Reis schwimmt, morgen vielleicht ein bißchen Fisch aus der Dose. Die Ernährung ist miserabel. Die Flüchtlinge fürchten eine Krankheit, die sie „Bere-bere“ nennen. Sie komme aus Indien und sei dem Mangel an Proteinen und Vitaminen geschuldet. Kinder bis zu fünf Jahren bekommen Milch, „Pulvermilch natürlich“, wenn es welche gibt. In den letzten drei Monaten sei dies viermal der Fall gewesen, sagt Balic.
Doch nach der Errichtung der Luftbrücke vor zwei Wochen sind erste Hilfsgüter in der Stadt angekommen. „Europäische Sandwiches im bosnischen Leichenhaus“, schlagzeilt die Muslimanski Glas (Muslimische Stimme), die immer noch wöchentlich erscheint, in ihrer neuesten Ausgabe. Balic hält sie mir unter die Nase. „Wir brauchen Waffen“, wiederholt er. Wie den meisten hier ist auch ihm unbegreiflich, weshalb „Europa“ nicht interveniert oder wenigstens Waffen schickt. „Wollt ihr warten, bis man uns abschlachtet?“
Die Frage stellt auch Mato Celic(*). Er liegt auf einer Matratze im Nachtclub des Hotel Drina (*). Nur drei Tage hat der 19jährige Tankwart – „es gab ja kein Benzin mehr zu verkaufen“ – in der Miliz gekämpft, bis ihn die Kugeln des Feindes niederstreckten. Nun pflegt er hier sein verwundetes Bein. Im Hotel, wo früher bis zu hundert Gäste nächtigten, drängen sich nun schon weit über tausend Flüchtlinge. Etwa hundert von ihnen halten sich aus Sicherheitsgründen auch tagsüber im Keller auf; immerhin hat im vierten Stockwerk eine Granate zehn aneinanderliegende Zimmer durchbohrt. Seit fünf Tagen gibt es dort keinen Strom mehr. Es ist ein Leben in Katakomben, von dem niemand weiß, wann und wie es zu Ende sein wird.
Täglich werden in Sarajevo Leute von Heckenschützen erschossen oder von Granaten getötet. Es gibt die diffuse Angst, der bosnischen Miliz, die die Stadt verteidigt, könne bald die Munition ausgehen. Dann werde es kein Erbarmen geben, hört man immer wieder, dann gehe das große Schlachten los. Weshalb sollten Freischärler, die ziellos oder gezielt Granaten in Wohngebiete feuern, weshalb sollten Heckenschützen, die aus dem Versteck die Köpfe von Menschen ins Fadenkreuz ihrer Hochpräzisionsgewehre rücken, um mit einer kleinen Fingerbewegung ein ihnen völlig unbekanntes Leben auszulöschen, ja weshalb sollten die vor dem großen Massaker zurückschrecken, wenn unten in der Stadt die Patronen ausgehen?
Jovan Divjak ist sicher. Sie, die serbischen Freischärler, werden die Stadt nicht einnehmen. Der Vizekommandant der bosnischen Streitkräfte, ein drahtiger Mittvierziger mit ergrautem Haar, spricht fließend französisch: „Non, monsieur, pas de chance“, sie hätten keine Chance. Aber wie Zerstörung und Terror Einhalt geboten werden kann, weiß auch er nicht. Im übrigen bittet er, nicht von einem Krieg zwischen Serben auf der einen Seite und Muslimen und Kroaten auf der anderen zu schreiben. „Es ist kein Krieg zwischen Völkern, es gibt einen terroristischen Aggressor und ein bosnisches Volk, das sich verteidigt.“ Divjak selbst ist Serbe und lebt seit über zwei Jahrzehnten hier. Von den 180.000 Serben, die vor einem Jahr noch in Sarajevo lebten und 28 Prozent der Bevölkerung ausmachten, dürfte vermutlich etwa ein Drittel bis die Hälfte in der Stadt geblieben sein; viele von ihnen leben allerdings in den von den serbischen Kräften kontrollierten Außenbezirken, andere aber auch im Zentrum. Von den 22 Menschen, die eine Granate vor der Bäckerei im Stadtzentrum tötete, wurden neun auf dem Friedhof der serbisch-orthodoxen Kirche beerdigt. Nein, die Serben hätten hier in Sarajevo nichts zu befürchten, meint Divjak, jedenfalls nicht mehr als andere Bürger auch.
Es ist Freitag. Der Besuch des britischen Außenministers Hurd ist angekündigt. Eine gute Chance für den Reporter, diese gespenstische Stadt zu verlassen, dem Horror zu entfliehen. Denn heute findet sich bestimmt ein Fahrer, der ihn die gefährliche Strecke aus der Stadt hinausfährt – vorbei am Checkpoint der bosnischen Verteidiger und dem Checkpoint der serbischen Belagerer zum Flughafen, der unter Kontrolle der Vereinten Nationen steht und wo am Mittag eine deutsche Militärmaschine mit Hilfsgütern landet.
(Die mit * gekennzeichneten Namen wurden von der Redaktion geändert)
Thomas Schmid, DIE TAGESZEITUNG, 20.07.1992