Es gibt gute Nachrichten aus Bosnien-Herzegowina. Der FK Gruber hat acht zu eins gegen Derventa gewonnen. Der FK Gruber ist der Fußballclub von Srebrenica, wo vor zehn Jahren Serben an die 8.000 Muslime ermordet haben. Drei Tore hat der Muslim Ajet Muhamedbegovic geschossen, die andern fünf die beiden Serben Zoran Milinkovic und Luka Petrovic. Es ist das erste Spiel des FK Gruber seit 13 Jahren – und wie damals ist die Mannschaft, die in der dritten Liga spielt, ethnisch gemischt.
Doch es gibt auch Schlechtes zu berichten. In den Straßen von Travnik, der Heimatstadt des großen jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andric, der, als Kroate geboren, im diplomatischen Dienst des serbischen Könighauses stand, türmt sich der Müll. Es stinkt entsetzlich. In Travnik wohnen vorwiegend Bosniaken, wie die Muslime offiziell heißen, und die Mülldeponie befindet sich in Ovcarevo, das am Stadtrand liegt, aber ausschließlich von Kroaten bewohnt wird. Und die Dörfler, aufgehetzt von kroatischen Nationalisten, blockieren den Zugang zur Anlage. Sie sind überzeugt, dass von der Mülldeponie, die das hydrotechnische Institut von Sarajewo zu den modernsten des Landes zählt, Typhus- und Krebsgefahr ausgehen.
Seit zehn Jahren herrscht Frieden im Land. Am 21. November 1995 haben die Präsidenten Bosnien-Herzegowinas, Kroatiens und Serbiens, Alija Izetbegovic, Franjo Tudjman und Slobodan Milosevic – die ersten beiden inzwischen verstorben, der dritte im Gefängnis in Den Haag – auf dem Luftwaffenstützpunkt Dayton im US-Staat Ohio ein Abkommen paraphiert, das drei Wochen später in Paris unterzeichnet wurde und einen fast vier Jahre dauernden Krieg beendete. Noch sind die Spuren des Krieges sichtbar: Zerschossene Häuser, Einschusslöcher in den Mauern, wegen Minengefahr gesperrte Felder. Doch in Sarajewo pulsiert das Leben mehr denn je. Die Cafés sind voll. Aus den Discos dröhnt Rock und Techno-Musik. In den Gassen der türkischen Altstadt riecht es nach gebratenem Lamm.
Der serbische Potentat, der den Krieg entfesselt hatte, ließ sich in Dayton den Frieden teuer bezahlen: Der bosnische Präsident musste die Aufspaltung seines Staates in zwei ethnisch definierte Teilstaaten akzeptieren: die Bosniakisch-kroatische Föderation und die Serbische Republik (Republika Srpska). Der schwache Gesamtstaat wird von einem dreiköpfigen Präsidium geleitet, dem ein Bosniake, ein Serbe und ein Kroate angehören müssen. Bosnien-Herzegowina ist der einzige Staat in Europa, in dem aufgrund der Verfassung ein Jude nicht Präsident werden kann, stellte jüngst der grüne Europa-Abgeordnete Dany Cohn-Bendit sarkastisch fest.

Der oberste Machthaber im Staat ist aber kein Bosniak, kein Kroate und kein Serbe, sondern ein Ausländer, zur Zeit ein Brite: Paddy Ashdown, der Hohe Repräsentant, eingesetzt vom Leitungsgremium des Friedensimplementierungsrates, dem 55 Staaten angehören. Ashdown schaltet und waltet wie ein Gouverneur. Er darf missliebige Politiker absetzen und am Parlament vorbei Gesetze erlassen. Und da sich die nationalistischen Politiker so gut wie nie einigen können, macht der Brite – noch mehr als seine Vorgänger – von seinen Rechten ausgiebig Gebrauch. Nur ausländischem Befehl ist es zu verdanken, dass Bosnien heute nicht mehr drei verschiedene Währungen, drei verschiedene Autokennzeichen und drei verschiedene internationale telefonische Vorwahl-Nummern hat. Auch gibt es inzwischen ein einheitliches Zollsystem. Im Sommer wurden sogar die Armeen der beiden Teilstaaten einem gemeinsamen Oberkommando unterstellt. Und auf internationalen Druck hin hat die Serbische Republik im vergangenen Monat auch einer Polizeireform zugestimmt. Es war die letzte Bedingung der EU für die Aufnahme von Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, die wohl im Dezember noch beginnen werden. Ein solches Abkommen ist Voraussetzung für spätere Beitrittsverhandlungen.
Mit der Polizeireform stellt sich die Machtfrage. Täglich werden in Sarajewo Autos gestohlen und ins 15 Kilometer entfernte Pale gebracht, das in der Serbischen Republik liegt. Da darf die Polizei von Sarajevo nicht hin, und die Ganoven lachen sich ins Fäustchen. Das soll sich nun ändern. Doch für die Implementierung der Reform wurden fünf Jahre veranschlagt. Die Serben, so wird weithin befürchtet, werden sie blockieren und torpedieren, wo sie nur können. „Vor allem in der Serbischen Republik ist die organisierte Kriminalität mit der Polizei eng verbandelt“, sagt ein hoher Beamter im Büro Paddy Ashdowns, „wir müssen an die Schlangennester ran. Sie sind noch nicht ausgehoben.“
Korruption und organisierte Kriminalität sind allerdings nicht nur ein Problem der serbischen Teilrepublik. Ein Gesetz, das den Richtern erlaubt hätte, illegal erworbene Güter zu beschlagnahmen, wurde im April von den nationalistischen Parteien der Bosniaken, Kroaten und Serben, die sich sonst selten zusammenraufen können, im Parlament gemeinsam blockiert. Paddy Ashdown hätte es „Order per Mufti“ durchsetzen können. Er tat es nicht. Im Büro des Hohen Repräsentanten heisst es, man müsse zwischen Zwang von außen und Förderung von eigenverantwortlichem Handeln die Balance finden. Faktisch ist Bosnien ein Protektorat. Andererseits ist klar, dass ohne Abgabe von Macht Passivität und Obstruktion der gewählten Politiker nur bestärkt werden.
Nach der Rückkehr hunderttausender Flüchtlinge und Vertriebener hat der Vorgänger von Paddy Ashdown, der Österreicher Wolfgang Petritsch, durchgesetzt, dass in beiden Teilstaaten offiziell drei staatstragende Völker leben. In der Bosniakisch-kroatischen Föderation gibt es seither einen serbischen Vizepräsidenten, und in der Serbischen Republik einen bosniakischen und einen kroatischen Vizepräsidenten. Und wie schon die Föderation hat nun auch die Serbische Republik eine zweite legislative Kammer, in der die drei staatstragenden Völker gleich viel Sitze einnehmen. An den realen Machtverhältnissen hat dies so gut wie nichts geändert, aber die Bürokratie, ohnehin ein Grundübel des Staates, wurde noch weiter aufgebläht. Heute verschlingen die Kosten für die kompliziert aufgebaute Administration zwei Drittel des Budgets.

Die Stadt Mostar feiert Bajram, das wichtigste religiöse Fest der Muslime, und der Mufti hat zum Empfang im Hotel Bristol geladen, das direkt an der Neretva liegt, dem Fluss, der die Stadt teilt. Am gegenüberliegenden Ufer steht die Ruine eines Hotels, dessen fensterloses Skelett wie ein Mahnmal in den Himmel ragt. Es wurde von serbischen Soldaten zerschossen, die gegen die vereinten Kräfte der Bosniaken und Kroaten kämpften. Doch die weltberühmte Alte Brücke haben dann ein Jahr später die Kroaten zerstört, als sie gegen ihre muslimischen Verbündeten den Krieg aufnahmen. Nun sind alle, die in der Stadt etwas zu sagen oder die richtigen Beziehungen haben, gekommen, um dem Mufti ein schönes Fest zu wünschen: der serbisch-orthodoxe Pope, der kroatische Bürgermeister, ein bosniakischer General und natürlich auch Emir Balic, die Legende von Mostar. Balic hat sich 45 Jahre lang am Wettkampf der Brückenspringer beteiligt. Als 16jähriger hat er sich zum erstenmal von der über 400 Jahre Alten Brücke 23 Meter tief in die türkisblauen Fluten der Neretva gestürzt. Beim letzten Sprung zählte er 61 Jahre. 13 mal hat er die Meisterschaft der Brückenspringer gewonnen. Ja, auf einer offiziellen Briefmarke ist er sogar verewigt. Die Alte Brücke wurde wieder aufgebaut. „Sie ist ein Symbol des Zusammenwachsens“, sagt Balic, „ob sie uns aber wieder zusammenführt, liegt an uns selbst.“ Heute leitet der 70jährige Brückenspringer, der über einen Monat lang in einem kroatischen Gefangenenlager verbrachte, einem „KZ“, wie er sagt, ein „Zentrum für Frieden und multiethnische Zusammenarbeit.
Über acht Jahre lang war Mostar nach Kriegsende eine geteilte Stadt. Die Westufer der Neretva war kroatisch, das Ostufer muslimisch. Es gab zwei Stadtverwaltungen, zwei Feuerwehren, zwei Telefonsysteme und auch die Versorgung mit Wasser und Elektrizität war ethnisch getrennt. Vergeblich versuchte der frühere Bremer Bürgermeister Hans Koschnick als Administrator der EU die Stadt zu vereinen. Er scheiterte vor allem am hartnäckigen Widerstand kroatischer Nationalisten. Seit einem Jahr aber hat die Stadt nun eine einheitliche Verwaltung und ein kompliziertes Sonderstatut: Im Stadtrat müssen die staatstragenden Völker – Bosniaken, Kroaten und Serben – mindestens vier, dürfen aber höchstens 15 Vertreter haben, und einer muss auch ein „anderer“ sein. Zur Zeit ist dieser „andere“ ein Jude, es könnte aber notfalls auch ein Rom sein.
„Sämtliche großen Parteien haben das Statut abgelehnt“, berichtet Bürgermeister Ljubo Beslic, ein Kroate, „und es wurde vom Stadtrat auch nie verabschiedet. Der Hohe Repräsentant hat es einfach verordnet.“ Doch Beslics größtes Problem ist ein anderes. In den Verwaltungen, die vereinigt wurden, waren zusammen 674 Personen beschäftigt. Zur Zeit sind es noch immer 398, die Zielvorgabe der EU aber ist 225. Der Bürgermeister muss Kündigungen aussprechen, und da muss er höllisch aufpassen, dass er den ethnischen Proporz wahrt.
„Nur auf dem Papier ist Mostar vereint“, sagt Mijo Brajkovic, „in den Köpfen gibt es zwei Städte. Recht hat er. Doch als er selbst Bürgermeister der kroatischen Hälfte war, hat er alles dafür getan, damit es auch so bleibt. Koschnick kann ein Lied vom kroatischen Hardliner singen. Als Manager hingegen ist Brajkovic höchst erfolgreich. Er leitet das größte Unternehmen ganz Bosniens, die Aluminium-Fabrik von Mostar. Sie liegt außerhalb der Stadt, und auf dem werkseigenen Gelände grasen auch 150 Schafe, es gibt eine Forellenzucht, einen Karpfenteich und einen Rebberg, die Firma produziert ihren eigenen Tropfen. Ein kleines Paradies. Heute sind zwar fast viermal weniger Personen beschäftigt als vor dem Krieg, aber sie produzieren einen Drittel mehr: 120.000 Tonnen Aluminium jährlich. Daimler-Benz, Debis und auch die Westdeutsche Landesbank haben in die Fabrik investiert. Brajkovic schnurrt Zahlen über Kredite, Umsatz und Export herunter. Er hat sie alle im Kopf. Fast alle. Wie hoch unter den Beschäftigten der Anteil an Muslimen ist, weiß er nicht. Brajkovic stelle nur Kroaten ein, behaupten die Muslime in der Stadt einmütig.
Von den Kroaten trennt die Muslime vielleicht noch mehr als von den Serben. Von den Serben wurden sie nur angegriffen, von den verbündeten Kroaten auch noch verraten. In drei Viertel aller Gemeinden der Föderation gehen muslimische und kroatische Kinder in verschiedene Schulhäuser, im übrigen Viertel sind die getrennten Schulen wenigstens unter einem Dach. Gemischte Schulen sind absolute Ausnahmen. Im Geschichtsunterricht werden nationalistisch verbrämte Mythen, die den Krieg genährt haben, an die nächste Generation weitergegeben. Wer für die einen ein Nationalheld ist, kann für die andern ein Verräter, ein Feind, ein Terrorist sein.
Solche Trennung erschwert Bosnien-Herzegowina den Übergang zu einem modernen Staat, in dem die ethnische Zugehörigkeit keine Rolle spielt, in dem es eben nur Staatsbürger mit individuellen Rechten gibt. In Brüssel haben am vergangenen Samstag die Vorsitzenden der acht größten Parteien des Landes Verhandlungen über eine Reform der Verfassung aufgenommen. Eine Jugendgruppe in Sarajewo hat ihnen vorgeführt, wie man die Ethnokratie durch eine Demokratie ablöst. Sie hat eine eigene Verfassung ausgearbeitet, in der die Wörter Serben, Kroaten, Bosniaken kein einziges Mal vorkommen. Der Text schließt mit den Worten: „Diese Verfassung markiert den Beginn einer völlig neuen Zeit. Es ist der Tag, an dem das Land aus tiefen Träumen aufwacht, Träume voll von Liebe, Träume, die wahr werden.“ Und in Mostar, der geteilten Stadt, in der die Nationalisten Dutzende von Straßen umbenannt haben, will eine Gruppe von Künstlern in der kommendenWoche auf dem zentralen Platz ein Denkmal aufstellen: eine Statue von Bruce Lee. Der amerikanische Filmschauspieler chinesischer Herkunft, bekannt durch seine Action-Filme mit Kung-Fu-Szenen, war vor dem Krieg bei allen Völkern und Stämmen Jugoslawiens gleichermaßen beliebt.
Thomas Schmid, „Die Zeit“, 17.11.2005
(hier in unredigierter Fassung)