Die toten Seelen von Srebrenica

Ein schwarzes Kostüm mit burgunderroten Tressen, zwischen den ausgestreckten Händen ein feuerrotes Tuch: Ahmo Begic dirigiert einen Kolo. Sechs in Tracht gekleidete Mädchen führen den traditionellen serbischen Reigentanz auf. An den Tischen im gefüllten Saal wird Bier und Wein getrunken und Sliwowitz, serbischer Pflaumenschnaps. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Ort der Aufführung: ein heruntergekommenes Hotel in Srebrenica, einem Städtchen, das bis vor zehn Jahren kaum jemand kannte. Doch in Srebrenica wurde furchtbare Weltgeschichte geschrieben. Bosnische Serben erschossen hier 8.000 bosnische Muslime. Es war das schlimmste Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. »Mögen die Tränen der Mütter zum Gebet werden, damit Srebrenica nie wieder geschieht, niemandem und nirgendwo«, steht auf einem Gedenkstein am großen Friedhof im nahen Potocari, wo die Opfer begraben sind.

Zehn Jahre ist es nun her. Am 11. Juli 1995 überrannten die Serben unter dem Kommando von General Ratko Mladi? die UN-Schutzzone Srebrenica, eine Enklave im Osten Bosniens. Etwa 25.000 Muslime flüchteten sich ins sechs Kilometer entfernte Potocari. Dort hatten die holländischen Blauhelme ihr Hauptquartier. Unter ihren Augen wurden die wehrfähigen Männer – und als solche galten selbst Greise – selektiert (siehe Bericht: Abwiegeln in Den Haag ). Die Frauen und Kinder wurden in Busse verfrachtet und ins Niemandsland zwischen den Fronten gefahren. Von dort gingen sie zu Fuß ins Gebiet, das unter Kontrolle der bosnischen Regierung stand, und waren gerettet. Die Männer aber wurden abgeführt und erschossen. Genauso wie jene, die sich durch die Wälder aufgemacht hatten und auf der Flucht den bosnisch-serbischen Soldaten in die Hände fielen.

Wo früher schicke Boutiquen lockten, gähnen heute schäbige Läden

Vor dem Krieg auf dem Balkan galt Srebrenica als viertreichste Stadt Bosniens. Schon vor 2.000 Jahren hatten die Römer hier Silber abgebaut; sie nannten die Stadt Argentaria. Zu kommunistischen Zeiten wurde vor allem Blei und Zink gewonnen, Silber (Serbokroatisch: srebro) war zweitrangig geworden. Die Minen wie das in der ganzen Region bekannte Kurbad hatten der Bevölkerung zu einem beachtlichen Wohlstand verholfen. Die meisten Familien konnten sich Videorekorder und Kleinwagen – Marke Yugo – leisten. Und viele Arbeiter, die in den Bergwerken oberhalb der Stadt oder in der Batterie- und Bremsenfabrik unten im Tal ihr Auskommen fanden, besaßen sogar ein Ferienhäuschen.
Heute ist in der 21.000 Einwohner zählenden Stadt das Elend mit Händen zu fassen. Alte Frauen stricken vor zerschossenen Hausfassaden. Männer sitzen auf dem Bordstein an der Straße, als ob sie darauf warteten, dass hier endlich einmal etwas passiert. In einer Hausnische wird über der Glut ein Lamm gebraten. Die Leute hacken Holz. Man sorgt für die kalten Tage vor. Vom Supermarkt ist nur die Inschrift geblieben. Wo früher schmucke Boutiquen Kunden anlockten, gähnen heute schäbige Läden. Es gibt buchstäblich nichts Schönes im Ort, kein Platz, der zum Verweilen einlädt. In Srebrenica leben nur Verlierer. Die einen haben bloß ihre Arbeit und ihre Häuser verloren, die andern auch noch ihre Männer und Söhne.
Zum Ort des Grauens führt am Ende ein verschlungener Feldweg. Seit Wochen schon graben auf einem Acker bei Lipje, 50 Kilometer von Srebrenica entfernt, eine kanadische Anthropologin und eine norwegische Archäologin Knochen, alte Schuhe und verrottete Kleider aus. Schädelfragmente, Schulterblätter, Beckenknochen, alles wird sortiert, fotografiert, mit Kennziffern versehen und schließlich in einen Plastiksack gesteckt. Gesäuberte Stellen markieren die Wissenschaftler mit roten Fähnchen. Die Kommunikation beschränkt sich auf knappe Anweisungen. Jeder weiß, was er zu tun hat: der Baggerfahrer, der Polizist, die Wissenschaftler, der Ausgrabungsleiter. Nur eine Bäuerin mit Kopftuch hat keine Aufgabe. Sie steht einfach da. Bewegungslos und stumm betrachtet sie die gespenstische Szene.
Noch ist unklar, ob nicht eine Schicht tiefer weitere menschliche Überreste liegen. »Es ist ein Sekundärgrab«, sagt Murat Hurti?, »die Täter haben die Leichen aus dem Primärgrab herausgeholt, um die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen.« Der ehemalige Lehrer, der die Ausgrabungen in ganz Ostbosnien leitet, ist seit neun Jahren schon mit dieser grauenhaften Arbeit beschäftigt. Und noch immer werden neue Massengräber gefunden. Schon 6.500 Opfer hat Hurti? ausgraben lassen. Wie hält man das aus? Kann man da noch ein normales Leben führen? Abends nach getaner Arbeit ein Bier trinken? »Sie haben meinen Bruder ermordet«, gibt der Ausgrabungsleiter zur Antwort. Mehr sagt er nicht.
Wie in den meisten »Sekundärgräbern« wurden auch in Lipje keine intakten Skelette gefunden. Die exhumierten Leichen wurden seinerzeit aus Lastwagen gekippt und von Raupenfahrzeugen zerquetscht. Die Zuordnung der Knochen ist schwierig. Über 67.000 Verwandte von im Bosnienkrieg (1992 bis 1995) verschollenen Personen haben sich Blutproben entnehmen lassen. Nur vergleichende DNA-Analysen ermöglichen die Identifizierung der Opfer. Es ist ein langwieriges und teures Verfahren. Doch nur wer identifiziert ist, wird beerdigt. Über 5.500 mit Knochen gefüllte Leichensäcke lagern noch in Kühlhallen im nordbosnischen Tuzla.
Abdulah Purkovi?, 57, erinnert sich gut, wie der Krieg in Srebrenica begann, das damals zu drei Vierteln von Muslimen und einem Viertel von Serben bevölkert wurde. Am oberen Ortsausgang der Stadt führt er heute ein Restaurant. Seine Brennnessel-Pilzsuppe schmeckt vorzüglich. Die traditionellen Burek, Blätterteigtaschen, füllt er mit Löwenzahn und wildem Spinat. Er weiß, wo er die Zutaten findet. Einen Monat lang hat er mit Tausenden Muslimen im Wald gelebt, nachdem die »Tiger«, serbische Paramilitärs, am 17. April 1992 Srebrenica mit schwerer Artillerie angegriffen, Häuser gebrandschatzt und geplündert hatten. Kurz darauf eroberten muslimische Verbände unter dem Kommando von Naser Ori?, einem ehemaligen Leibwächter Miloševi?s, die Stadt zurück. Sie brannten mehrere serbische Dörfer der Umgebung nieder, an die hundert Serben starben dabei. Danach verließen fast alle Serben Srebrenica.
Und dann war es, als öffnete sich die Hölle. Drei Jahre lang wurde Srebrenica von Mladi?s Soldaten belagert und mit Granaten beschossen. In der eingekesselten Stadt, die vor dem Krieg 6.000 Einwohner zählte, lebten auch noch 40.000 muslimische Flüchtlinge, die aus anderen Städten Ostbosniens vertrieben worden waren. »Es gab nichts mehr zu essen«, erinnert sich Purkovic, »ein Kilo Salz kostete 50 Mark, eine Schachtel Zigaretten 100.« Anfangs wurde der Preis noch in der alten deutschen Währung festgelegt, schließlich aber wurde das Salz zur Maßeinheit aller Geschäfte.
In den Straßen lagen Hunderte von Verletzten, Verbandsmaterial war nicht mehr aufzutreiben. »Wir betäubten die Verwundeten mit Schnaps«, berichtet Purkovi?, der den Ärzten geholfen hat und nicht nur wilden Spinat, Löwenzahn und Brennnessel, sondern auch Heilkräuter kannte. »Einigen Schwerverletzten amputierten wir Glieder mit einer Metzgersäge.« Mehrere der Eingeschlossenen waren schon vor Hunger gestorben, als nach zehn Monaten Belagerung im März 1993 endlich ein UN-Konvoi mit Hilfsgütern in der Enklave eintraf. Kaum waren die Lebensmittel entladen, stürmten Tausende von Frauen und Kindern die Lastwagen, um der belagerten Stadt zu entkommen. Sechs Menschen wurden bei der Evakuierung von 5.000 Personen in völlig überladenen Fahrzeugen zu Tode gequetscht.

Begic, der Tanzlehrer, hat eine Kladde mit traditionellen Tänzen gerettet
Die Lage war so alarmierend, dass die UN im April 1993 die erste Schutzzone ihrer Geschichte einrichteten. Zunächst kamen kanadische, später holländische Blauhelme nach Srebrenica. 750 leicht bewaffnete UN-Soldaten sollten die muslimischen Verteidiger entwaffnen und die weit überlegeneren serbischen Aggressoren abschrecken. Beides misslang. Die Muslime gaben zwar ihre wenigen schweren Waffen ab, im Vertrauen, von den Blauhelmen geschützt zu werden. Die leichten aber behielten sie vorsichtshalber zurück.

Srebenica

Und die Serben setzten, ungehindert von den Blauhelmen, am 6. Juli 1993 zum Sturm auf die Enklave an. Fünf Tage später rollten ihre Panzer durch Srebrenica. In der Stadt brach Panik aus. Alle flüchteten. »Wer Verletzte und Invaliden hatte, stellte sie vors Krankenhaus«, erinnert sich Purkovi?, der als Koch bei den Ärzten ohne Grenzen arbeitete, »ich sorgte dann dafür, dass sie nach Potocari gefahren wurden.« Der Selektion und dem sicheren Tod entging er selbst nur, weil er sich als Mitarbeiter der internationalen Hilfsorganisation ausweisen konnte. Vor seiner Ausreise nach Kroatien zwangen ihn serbische Soldaten jedoch, vor einem Radio-Mikrofon eine Botschaft zu verlesen: »Die Serben kamen als Befreier, alle Menschen sind nun glücklich, dass sie in Frieden leben können.« Solche Sätze habe er, bedroht von Gewehrläufen, gestottert. »In Potocari haben sich schreckliche Szenen abgespielt«, sagt Purkovi?, »5.000 völlig verängstigte Menschen lagerten auf dem UN-Gelände und 20.000 davor, Familien wurden auseinander gerissen, alte Männer in einer Fabrikhalle gefoltert, ein von Soldaten mehrfach vergewaltigtes Mädchen beging Selbstmord …« Die Stimme des Kochs stockt, stumm wendet er sich ab.
Auch der Muslim Ahmo Begi?, der im Hotel den Kolo-Tanz der sechs serbischen Mädchen dirigiert, hatte Glück im Unglück. 1993, im ersten Jahr der Belagerung, wurde er verwundet. Der Schuss ging knapp an der Beinschlagader vorbei. Die Verletzung fesselte ihn drei Monate lang ans Bett. »Auch ich hätte mich damals mit den übrigen Verwundeten evakuieren lassen können«, sagt er, »aber ich konnte doch meinen Vater nicht allein zurücklassen.« Als Mladi?s Soldaten schließlich 1995 in Srebrenica einmarschierten, gehörte Begi?, damals 24 Jahre alt, zu den letzten, die Srebrenica verließen. »Ich floh in den Wald, wo sich viele Menschen versammelt hatten«, berichtet er. »Wir bildeten eine lange Kolonne und machten uns in Richtung Tuzla auf.« Tuzla lag auf dem Gebiet, das von der bosnisch-muslimischen Regierung kontrolliert wurde, 70 Kilometer von Srebrenica entfernt. Von den über 10.000 Männern, von denen allenfalls jeder Dritte eine Waffe besaß, zumeist einen alten Karabiner oder eine Pistole, überlebten vermutlich nicht einmal 5.000 den einwöchigen Todesmarsch. Tausende kamen in den Minenfeldern um, wurden von Granaten zerfetzt, von Maschinengewehren niedergemäht, starben an Erschöpfung oder wurden von serbischen Soldaten füsiliert, nachdem sie sich ergeben hatten.
Vor drei Jahren ist er in seine Heimatstadt zurückgekommen. Um die kleine Moschee wiederaufzubauen, die sein Vater einst hatte errichten lassen und vor deren Ruinen er nun beerdigt ist. Vom Horror mag auch Begi? nicht erzählen. Er stammelt nur von etwas »Unbeschreiblichem«, von einer »Katastrophe ohne Vergleich« und deutet an, dass einige schwer verletzte Flüchtlinge ihre Kameraden darum baten, sie zu erschießen, um ihnen nicht zur Last zu fallen. »Bitte fragen Sie nicht nach Details«, fleht er, »ich will mich nicht daran erinnern, ich will das aus meiner Erinnerung tilgen, als ob das alles nie stattgefunden hätte.«
Und dann holt er ein dickes, zerfleddertes Heft hervor. »Auf der Flucht habe ich Jacke und Zahnbürste weggeworfen«, sagt er, »aber das hier habe ich behalten.« Während der dreijährigen Belagerung Srebrenicas hatte er sich oft mit alten Leuten getroffen, um die traditionellen Tänze zu lernen. Irgendetwas wollte er über die Katastrophe hinwegretten. »Die Dreiecke bezeichnen die Männer und die Kreise die Frauen«, erklärt Begi? seine Tanzskizzen, die zeigen, wo die Tänzer stehen müssen und welche Schritte sie zu tun haben. Er hat auch selber einige Tänze kreiert. In der Zeit der Belagerung hatte er eine Tanzgruppe geleitet. Der Metzger zählt nach: »Es waren 38 Mitglieder, davon 15 Frauen. Von den Männern haben nur drei überlebt, von den Frauen hingegen alle bis auf eine, die von einer Granate getroffen wurde.«
Als der Krieg im November 1995 zu Ende ging, lebte kein einziger Muslim mehr in Srebrenica. Heute zählt die Stadt, die nach dem Friedensschluss von Dayton der Serbischen Republik Bosnien zugeschlagen wurde, wieder halb so viele Einwohner wie vor dem Beginn der militärischen Auseinandersetzungen. Etwa 2.500 sind Serben. Die meisten von ihnen sind Ortsfremde, zugezogen aus den Vororten Sarajevos, die mit dem Friedensabkommen von Dayton an die bosniakisch-kroatische Föderation fielen. Nur knapp 400 sind muslimische Rückkehrer.
Srebrenica ist vom Krieg schwer gezeichnet. Zahlreiche Hausruinen zeugen vom Artilleriebeschuss, in den Mauern fast aller Gebäude klaffen noch Einschusslöcher. Von den fünf komplett zerstörten Moscheen wurde nur eine – mit Geld aus Malaysia – wieder aufgebaut. Selbst der Hügel über der Stadt ist nicht mehr derselbe wie früher. Neben der mittelalterlichen Burg, von deren Zinnen aus der Sage nach die Witwe eines serbischen Grafen jeden Morgen einen erschöpften Mann, den sie sich ins Schlafgemach hatte bringen lassen, in den Tod stieß, steht jetzt ein hohes Eisenkreuz. Es wurde nach der Eroberung der Stadt im Juli 1995 in die Erde gerammt. Das Signal war klar: Hier ist christliche, das heißt serbische Erde.
Trotzdem ist der amtierende Bürgermeister von Srebrenica ein Muslim. Obwohl in der Gemeinde, zu der neben der Stadt noch ein Dutzend Dörfer gehören, dreimal mehr Serben als Muslime leben und obwohl so gut wie alle Einwohner Parteien ihrer Ethnie gewählt haben. Das verdankt er einer Besonderheit des bosnischen Wahlrechts. Danach konnten Flüchtlinge auch in ihrem ursprünglichen Wohnort wählen. So wurde Abdurahman Malki?, ein smarter Mittdreißiger, mit den Stimmen der vertriebenen Muslime Bürgermeister von Srebrenica. Aber es ist ein leerer Titel. Die Mehrheit der Einwohner straft ihn mit Missachtung. Er ist Muslim, also nicht ihr Bürgermeister.
Als Soldat der muslimischen Armee hatte er die Enklave gegen die serbischen Angreifer verteidigt. Zweimal wurde er verwundet. Als Srebrenica fiel, wollte er sich, wie so viele Soldaten, durch die Berge und Wälder nach Tuzla durchschlagen. Er schaffte es nicht. So flüchtete er nach Serbien. Die Serben aber lieferten ihn an die bosnische Serbenrepublik aus. Zum Glück gelang es ihm, sich vom Internationalen Roten Kreuz registrieren zu lassen. Sonst hätte er wohl das Schicksal seines Vaters geteilt. Der wurde aus Potocari abgeführt und erschossen.
»Wir müssen über die Vergangenheit reden«, sagt Malki?. Er hat seinen Wahlkampf mit dem Slogan »Idemo dalje« , »Lasst uns nach vorne schauen«, bestritten. Aber jetzt fordert er: »Die Verantwortlichen müssen bestraft werden, es gibt keine Kollektivschuld eines Volkes, sondern Individuen, die Verbrechen begangen haben.« Doch es will in Srebrenica kaum jemand über das reden, was geschehen ist. Die Muslime nicht, weil die Wunden noch schmerzen oder weil sie immer wieder die Erfahrung machen, dass ihr Leid hier niemanden interessiert. Die Serben nicht, weil sie gern verdrängen und zuerst ihr eigenes Schicksal sehen. Mussten nicht auch sie ihre Dörfer verlassen? Und gab es nicht auch unter den Serben Tote? »Mit dem Massaker haben wir nun wirklich nichts zu tun gehabt«, heißt es immer wieder, »wir wussten ja nicht einmal davon, wir waren ja damals gar nicht hier.«
Vor dem Krieg waren 2.000 Bergleute in den Minen beschäftigt, heute sind es nur noch 350. In der Drina, der Holzverarbeitungsfabrik der Stadt, fanden vor dem Krieg 617 Personen Arbeit, heute sind es 53. Und das Kurbad Crni Guber mit seinen 48 Heilwasserquellen, das 1980 noch 25.577 Übernachtungen verbuchte, ist eine Ruine. Im Hotel Donavia, einst ein Prunkstück der Stadt, nächtigen keine Kurgäste mehr, sondern serbische Flüchtlinge, die die Häuser verlassen mussten, als die rechtmäßigen muslimischen Besitzer zurückkehrten.
Zum Beispiel Marko Ili?. Auf dem Tisch seines Zimmers steht neben zwei übervollen Aschenbechern eine Zweiliterflasche aus Plastik. Da steht zwar »Pivo«, Bier, drauf, aber es riecht nach Pflaumenschnaps. Nasse Wäsche hängt an einer Leine, die vom Fensterkreuz quer durch das Zimmer zum Kleiderschrank führt. Auf dem Boden steht ein Kaminstein, an dem, ungesichert, zwei elektrische Kupferkabel enden: eine primitive Heizung für kalte Wintertage. Als Soldat weiß man sich schließlich zu helfen. Und Ili? hat viele Kriege geführt. In der Truppe des radikalen Serbenführers Vojislav Šešelj, der in Den Haag wegen Kriegsverbrechen angeklagt ist, kämpfte er bei Vukovar gegen die Kroaten. Später stand er mit montenegrinischen Verbänden vor Dubrovnik, und bei Srebrenica ging es dann gegen die »Türken«, wie er die Muslime nennt.
Doch er kann die vielen Schlachten nicht mehr klar ordnen. Schließlich steckt noch immer eine Kugel in seinem Kopf. Von einem serbischen Polizisten, wie er sagt. Eine Operation konnte er sich nicht leisten. Ein Dokument bescheinigt ihm eine 80-prozentige Arbeitsunfähigkeit wegen epileptischer Anfälle. Über das serbische Volk ist Ili? verbittert. Den Schnaps trinkt er lieber zusammen mit den »Türken«. Um seinen Hals aber baumelt eine Medaille. Das »Kreuz für die ehrenvolle Freiheit«, das ihn als guten Kämpfer ausweist, habe er 1993 persönlich von Mladi? und Karadži? erhalten, behauptet er. General Ratko Mladi?, Generalstabschef der Armee der bosnischen Serben, hat das Massaker von Srebrenica geleitet. Der Psychiater Radovan Karadži?, Parteichef der radikal-nationalistischen SDS, war damals Präsident der bosnischen Serbenrepublik. Beide werden seit Jahren wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord vom Haager Tribunal gesucht.
Später treffen wir Ili? im Parteilokal dieser SDS an. Sie hat in der Stadt bei den letzten Wahlen fast ein Drittel der serbischen Stimmen gewonnen. Das Lokal ist schmucklos und düster. Man trinkt Bier. Die Haltung der anwesenden Parteigänger Karadži?s ist offen feindselig. Miloš Milovanovi?, der für die SDS im Gemeinderat sitzt und beim Ausbruch des Krieges die Serbische Garde, eine paramilitärische Einheit, angeführt hat, spricht nicht mit uns. Ebenso wenig Dragan Zeki?, der örtliche Parteichef, der ein Bataillon der Brigade angeführt hat, die Srebrenica eingenommen hat.
Srebrenica ist eine elend heruntergekommene Stadt. Vor allem alte Serben sind geblieben und alte Muslime zurückgekehrt. Sie leben von der Rente, von umgerechnet monatlich 40 Euro die Serben, die von der bosnischen Serbenrepublik bezahlt werden, von 70 Euro die Muslime, die sich das Geld in Tuzla, in der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, abholen. Auch Begi?, der einzige Metzger des Dorfes, bekommt die Armut zu spüren. Am Anfang hatte er fast nur muslimische Kunden. Inzwischen sind es mehr Serben, obwohl er noch immer kein Schweinefleisch anbietet. »Selbst Kriegsverbrechern verkaufe ich«, sagt Begic.
Tanja und Kosa nehmen beim Metzger Tanzunterricht. Beide stehen kurz vor dem Abitur. Beide wollen Journalistinnen werden. »Zu den Muslimen unserer Klassen haben wir ein normales Verhältnis«, sagt Tanja, »aber über das Massaker reden wir nicht.« Es sei eben ein unangenehmes Thema, erklärt Kosa, und für die Muslime sei es schmerzlich. »Wir wissen ja nicht viel darüber, eigentlich interessiert es uns nicht«, gesteht sie und redet für beide. Ob sie sich vorstellen könnten, einen Muslim zu heiraten? Die Antwort kommt aus zwei Mündern gleichzeitig: »Nein.« Weshalb nicht? Die beiden schauen sich etwas verlegen an. »Die sind eben anders«, entscheidet sich Tanja. »Die haben eine andere Religion«, meint Kosa. »Und wenn du dich in einen Muslim verliebst?« – »Na ja, verlieben kann man sich ja«, räumt sie schließlich ein, »aber heiraten? Nein.«
Zwei haben das Unerhörte gewagt. Vor langer Zeit. Amira und Miloš Markovi? sind das einzige muslimisch-serbische Ehepaar in ganz Srebrenica. Doch sie haben vor dem Krieg geheiratet – nur beim Standesamt, weder in der Kirche noch in der Moschee. Das war 1977. »Wir haben uns als Jugoslawen verstanden«, sagt Amira, die im Stadtzentrum einen Friseursalon besitzt, »die Probleme kamen ja erst auf, als sich die nationalistischen Parteien bildeten.« Kurz vor Kriegsausbruch sind die beiden nach Serbien geflüchtet. Dort haben sie sich mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen. Miloš musste sich zudem vor der Polizei verstecken, die ihn für den Krieg rekrutieren wollte. Im Jahr 2000 kamen sie nach Srebrenica zurück. Eine Hilfsorganisation gab Amira einen Kredit für den Friseursalon, um der Familie einen Neustart zu ermöglichen.

»Wenn die Jugendlichen die Stadt verlassen, ist sie wirklich bald tot«
Die Arbeit macht vor allem ihre Tochter Diana, die im Exil eine Lehre als Friseurin absolviert hat. Ob sie sich als Muslimin oder Serbin fühlt? Die 24-Jährige lacht. »Ich habe weder die Bibel noch den Koran gelesen«, bekennt sie, »mein Freund ist Muslim, und mein Bruder geht mit einer Serbin.« Ihr ist das alles schnurzegal. Hauptsache, sie kommt eines Tages weg aus dieser öden, langweiligen Stadt. Auch Miloš, ihr Vater, will weg. Hier findet er keine Stelle. Die Arbeitslosigkeit beträgt 80 Prozent. Sechs Monate lang hat er im zehn Kilometer entfernten Bratunac bei einem Fleischer gearbeitet. Schwarz. Nur einen Monat hat man ihm ausbezahlt. Dann ist er gegangen. Nun will er weg. Aber wohin? »Srebrenica ist eine tote Stadt«, sagt er.
Tot. Langweilig. Öde. Nichts los in Srebrenica. Man hört es immer wieder. Eine Gruppe von zehn Studentinnen und Studenten hat sich mit dem Schicksal, das der Stadt beschieden scheint, nicht abgefunden. Wochenlang haben sie den Schutt einer Ruine weggeräumt. Es war das alte Kino, von Granaten zerstört, abgebrannt bis auf die Grundmauern. Anderthalb Jahre lang haben sie mit dem Gemeinderat und dem Bürgermeister verhandelt. Schließlich hat die Gemeinde eine Baufirma beauftragt, das Gebäude wieder instandzusetzen. Nun wird hier ein Jugendzentrum eröffnet – mit einem Saal für Theater und Konzerte, mit einem Internet-Café‚ und einem Tourismusbüro. Die Gruppe hat Nutzungsrechte für 15 Jahre ausgehandelt. Alle werden sie hier arbeiten. Zehn Arbeitslose weniger.
Aco Perendi? ist der Anführer der Gruppe. Der 27-Jährige leitet ein kleines Theater, das gerade von einer Tournee durch Kroatien, Serbien und Mazedonien nach Bosnien zurückgekommen ist. Er hat auch ein eigenes Drama verfasst. Es trägt den Titel »Fortschreitender Zerfall« und handelt von Menschen, die zu Robotern werden. Roboter, die auf Knopfdruck gedankenlos Befehle ausführen, sind das beste Kanonenfutter. »Wir wollen nicht in den Krieg ziehen«, heißt es auf Perendi?s T-Shirt, »wir wollen reisen.« Bei der Eröffnung des Jugendzentrums tritt der Theatermann ans Mikrofon und zitiert Albert Einstein: »Ich weiß nicht, welche Waffen im nächsten Krieg zur Anwendung kommen, wohl aber, welche im übernächsten: Pfeil und Bogen.« Nationalistische Verblendung und Hass haben die Balkankriege geprägt. »Wir müssen Toleranz lernen«, sagt Perendi?, dem die Gnade der späten Geburt eine Rekrutierung erspart hatte.
Religion und ethnische Zugehörigkeit spielen in der Gruppe der Fernstudenten, die den Bau des Jugendzentrums durchgesetzt haben, keine Rolle. »Wir sind sechseinhalb Serben und dreieinhalb Muslime«, rechnet Perendi? durch und grinst. Die beiden Hälften zusammen sind Dejan. Er ist Sohn des muslimisch-serbischen Ehepaars Amira und Milos Miloš Markovi?. »Manche Leute behaupten, Srebrenica habe keine Zukunft, es sei eine tote Stadt«, sagt der Student, »da bin ich anderer Meinung, wir müssen uns eben um eine bessere Zukunft bemühen. Wenn die Jugendlichen die Stadt verlassen, dann wird sie tatsächlich bald eine tote Stadt sein.« Er wünscht sich, einen Job zu finden, eine Familie zu gründen und in Srebrenica eine Zukunft zu haben.
Auch Begi?, der Metzger und Tanzlehrer, will sich nicht damit abfinden, dass Srebrenica stirbt. Übers Internet hat er ein Motorradtreffen in Srebrenica organisiert. Über hundert Biker aus ganz Bosnien donnern auf schweren Maschinen heran. Begi? hat seine Yamaha aus der Garage geholt und seine Lederklamotten mit dem Schriftzug »Harley Davidson« angezogen. Am Abend lassen die Biker dann Kinder auf dem Sozius Platz nehmen, kurven auf dem Schulhof herum und machen mit ihrem Krach den Rockgruppen aus Kroatien, Serbien und den Niederlanden Konkurrenz, deren Musik aus riesigen Lautsprecherboxen ins Tal hämmert. Hunderte Jugendliche – die Mädchen bauchfrei, die Jungen in Hiphop-Hosen – tanzen zur Musik. Alles tobt. Srebrenica lebt. Bis plötzlich der Strom ausfällt. Beweisen kann es niemand, aber alle halten es für Sabotage. Bestimmt haben die unten in Bratunac den Strom abgestellt. Genauso war es ja auch beim letzten Konzert vor einem Jahr. Srebrenica soll sterben, Srebrenica, wo wieder über 400 Muslime leben, der einzige Ort der bosnischen Serbenrepublik mit einem muslimischen Bürgermeister. Nein, an einen Zufall glaubt hier niemand. Man behilft sich mit einem Generator. Um fünf Uhr früh ist die Fete zu Ende.
Unten in Potocari, sechs Kilometer von Srebrenica entfernt, gegenüber der alten stillgelegten Batteriefabrik, wo einst die holländischen Blauhelme ihr Hauptquartier hatten, ist der große Friedhof. 1.327 Gräber in Reih und Glied, wie auf einem Soldatenfriedhof. Doch nicht Kreuze stehen über den Gräbern, sondern grüne Holzstelen, und sie tragen alle dieselbe Inschrift: »Juli 1995«. Später, wenn sich die Erde dann gesenkt hat, wird man sie durch weiße Steine ersetzen. Am 11. Juli, am zehnten Jahrestag des Falls von Srebrenica, werden noch einmal über 500 Opfer des Massakers hier begraben werden. 30.000 Trauergäste werden erwartet. Aber noch herrscht Ruhe in Potocari.
Eine alte Frau kommt die Straße herunter, in einer dimje , der traditionellen Pluderhose der Musliminnen, einen selbst gepflückten Blumenstrauß in der Hand. »Alle Ehre den Vätern«, sagt sie, »aber Mutters Schmerz ist der größte. Ich habe sie alle großgezogen, ausbilden lassen und ihnen die Hochzeit finanziert. Meine Söhne waren Schreinermeister, während des Krieges haben sie Beinprothesen hergestellt …« Ihre Stimme erstickt. Einer ihrer Söhne wird noch immer vermisst, wie auch weitere sechs Verwandte. Sie begibt sich zur Gruppe der Witwen, die am Eingang des Friedhofs steht.
Plötzlich kommen die Biker angedonnert, manch einer mit Braut auf dem Sozius, und stören die Totenruhe. Auch Ahmo Begi?, der Tanzlehrer und Metzger, ist unter ihnen. Die Witwen drücken sich an die Mauer. Die Biker parken ihre Maschinen, setzen den Helm ab, gehen breiten Schrittes auf die Witwen zu und überbringen ihnen Geschenke. Wortlos. Dann setzen sie sich wieder auf ihre Motorräder und brausen davon. Der Lärm ebbt ab. Die alte Frau mit dem Blumenstrauß winkt den Bikern mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung hinterher. In Srebrenica kehrt wieder Ruhe ein. Die Stadt fällt wieder in ihre Depression zurück.

Thomas Schmid – DIE ZEIT 07.07.2005 Nr.28

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