HAMMELBURG. Im Kriegsgebiet soll man als Journalist nie alleine unterwegs sein. Das ist eine eiserne Regel. Zu viert also – ein Kameramann, eine Reporterin der Deutschen Welle, ein freischaffender Journalist und ich – fahren wir im Kleinbus über den holprigen Weg durch den Wald. Es ist kalt. Weithin keine Seele in dieser Einöde. Da versperren plötzlich aufgeschichtete Äste die Weiterfahrt. Wir schauen uns an. Zum Wenden ist es bereits zu spät. Maskierte Männer reißen die Tür auf, fuchteln mit Kalaschnikows, stoßen uns auf den Weg, schreien uns auf Englisch an: „Los! Los!“, „Auf die Knie!“, „Hände hinter den Kopf!“In jedem zweiten Satz, den sie bellen, kommt das Wort „fucking“ vor. Unter sich sprechen sie russisch.

Wir sind an einen Checkpoint der Aufständischen geraten. Geld, Dokumente, Handys, alles müssen wir abgeben. Eine halbe Stunde lang knie ich im kalten Matsch, Kopf nach unten, Hände hinter dem Kopf verschränkt. Sobald ich mich auch nur ein bisschen bewege, um die schmerzhafte Stellung zu ändern oder um aus den Augenwinkeln zu erspähen, ob meine Kollegen noch da sind, schreit mir ein Mann ins Ohr: „Don’t move!“ – Keine Bewegung! Schließlich werde ich zum Kommandanten gebracht. Er knallt einen Dolch auf den Tisch. Das Verhör beginnt. Wenn er meint, ich lüge, schreit er mich an. Neben ihm fuchtelt ein maskierter Mann mit seinem Revolver. Schließlich muss ich mich zusammen mit dem Kommandanten vor einer Fahne der Rebellen ablichten lassen. Widerstand ist zwecklos. Sie haben Kalaschnikows, ich nur mein Notizbuch.

Das Wichtigste: Überleben

Die Szene könnte sich etwa so in Tschetschenien abspielen. Aber wir sind im Nordwesten Bayerns, unweit von Schweinfurt. Und die maskierten Männer sprechen russisch, weil sie Russlanddeutsche sind. Es sind Soldaten der Bundeswehr, die auf einem Truppenübungsgelände bei Hammelburg Journalisten in „Schutz und Verhalten in Krisenregionen“ schult. Eigentlicher Anlass für die Kooperation zwischen dem Verteidigungsministerium und der Berufsgenossenschaft Druck und Papierverarbeitung war vor elf Jahren der Tod der Journalisten Gabriel Grüner und Volker Krämer.

Die beiden Stern-Reporter waren am 13. Juni 1999, dem Tag des Einmarsches internationaler Truppen ins Kosovo, zusammen mit ihrem mazedonischen Dolmetscher Senol Alit erschossen worden. Der Mörder war höchstwahrscheinlich ein russischer Söldner in serbischen Diensten, der das Auto der Journalisten benötigte, um vor den anrückenden Truppen zu fliehen.

Grüner und Krämer waren erfahrene Kriegsreporter. Das kann man von vielen Journalisten, die das Interesse, der Kitzel oder das Honorar an die Front zieht, oder die von der Redaktion in ein Krisengebiet geschickt werden, nicht behaupten. Kriegsreporter gilt vielen als Traumberuf. So geht manch einer für die große Story oder für das eine, finale Bild einen Schritt zu weit. 57 Journalisten wurden weltweit allein im vergangenen Jahr bei der Ausübung ihres Berufes getötet – im Durchschnitt mehr als einer pro Woche. Einige von ihnen würden wohl noch leben, hätten sie alle Regeln strikt befolgt, die den Kursteilnehmern in Hammelburg eingebläut werden.

„Das Wichtigste ist: Überleben“, doziert Oberstleutnant Volker Dewenter, der die Ausbildung leitet. „Spielen Sie nie den Helden!“ Überleben heißt: Bei Beschuss sofort in Deckung gehen – jede Zehntelsekunde zählt. Die Straße nicht verlassen um zu pinkeln – man könnte auf eine Mine treten. Dem Entführer nicht in die Augen schauen – er könnte es als Aggression auffassen. Am Checkpoint im Auto nachts die Innenbeleuchtung einschalten – das mindert das Risiko, dass eine Bewegung als Griff zur Waffe missverstanden wird. Sich den Befehlen des Kidnappers nicht widersetzen – er hat ohnehin die stärkeren Mittel. Und vor allem Ruhe bewahren.

Bloß, wie soll man Ruhe bewahren, wenn von rechts – oder war es doch von links? – geschossen wird, vorne eine Handgranate explodiert, röhrend ein Panzer heranrollt und ein Schwerverletzter erbärmlich um Hilfe schreit? So wie es in Bonnland geschieht, einem Dorf unweit von Hammelburg. Der Reporter der Deutschen Welle wirft sich in einen Graben, der Fotograf packt schnell seine Fototasche, er will – ein möglicherweise lebensgefährlicher Fehler – seinen teuren Apparat und die Objektive retten. Ich sehe im Fenster eines Hauses erst einen Mann und dann das Mündungsfeuer.

Normalerweise wäre ich jetzt tot.

Bonnland hat alles, was zu einem richtigen Dorf gehört: Kirche, Bürgermeisteramt, Gasthaus, Bäckerei, Wohnhäuser, Ställe, einen Markt und einen Friedhof – nur keine Einwohner. Unter der Nazi-Herrschaft wurde das Dorf 1938 abgesiedelt, wie es im Fachjargon heißt. Nach dem Krieg wurden Flüchtlinge dort untergebracht. Als die Bundesrepublik dann ihre Armee aufbaute, wurde Bonnland erneut abgesiedelt. Heute dient es als Übungsdorf für den militärischen Häuserkampf – und ab und zu auch für die Ausbildung von Journalisten.

Wir verlassen die gespenstische Siedlung, gehen die Straße Richtung Hammelburg, als es plötzlich knallt. Fünf Meter vom Wegrand entfernt liegt eine jammernde Frau in der Wiese. Sie blutet, ist offenbar auf eine Mine getreten. Sofort eilt ein Reporter hin, um ihr zu helfen. „Stopp!“, ruft Hauptfeldwebel Alexander Christ, „falsch!“ Man muss die Frau jammern lassen, jeder Schritt in die Wiese kann tödlich enden! Vielleicht liegen noch mehr Minen herum. Es bleibt nichts anderes übrig, als mit einer Sonde – notfalls mit einer Stricknadel – auf einer Breite von anderthalb Metern alle fünf Zentimeter vorsichtig schräg in den Boden zu stechen, um eventuell Minen aufzuspüren, dann fünf Zentimeter vorzurücken und wieder von vorn zu beginnen. Um ein Feld von anderthalb mal fünf Metern auf diese Weise abzusuchen, müsste man etwa 3000 Mal kontrolliert in den Boden stechen. Würde man das ungefähr alle fünf Sekunden tun, bräuchte man dazu über vier Stunden. Da könnte die Frau allerdings längst verblutet sein.

Noch gefährlicher als Tretminen sind die Sprengfallen in Gebäuden. Der Hauptfeldwebel führt uns in ein Haus. Es ist ein wahres Gruselkabinett. Macht man die Tür auf, fällt eine Mine zu Boden. Will man ein schräg hängendes Bild geraderücken, löst man eine Explosion aus. Setzt man sich auf den Toilettendeckel, verbinden sich automatisch zwei Drähte zu einem Kurzschluss. Der mörderischen Heimtücke sind offenbar keine Grenzen gesetzt. Auf freiem Feld lässt der Offizier zwei Gramm Plastiksprengstoff an eine Schweinspfote binden – nur zwei Gramm. Als wir nach der Explosion aus der Deckung kommen, zeigt er uns einen blutigen Fleischklumpen. Die Pfote des Schweins und die Hand des Menschen sollen eine ähnliche Konsistenz aufweisen.

Kriegsberichterstatter leben gefährlich. Oft bewegen sie sich zwischen allen Fronten. Das war nicht immer so. Bis in die jüngere Vergangenheit bemühten sie sich gar nicht um eine unabhängige Berichterstattung, sondern waren Partei, und manchmal sind sie es auch heute noch.

Der erste, der erkannt hat, wie wichtig es ist, die Öffentlichkeit für seinen Krieg zu gewinnen, war vermutlich Alexander der Große. Auf seine Feldzüge nahm er Schreiber mit, die von seinen ruhmreich geschlagenen Schlachten künden sollten. Über tausend Jahre später meinte Napoleon Bonaparte, drei feindliche Zeitungen seien mehr zu fürchten als tausend Bajonette. Im Ersten Weltkrieg war es selbstverständliche Aufgabe der Kriegsreporter, die Moral der Truppe aufrechtzuerhalten und die Daheimgebliebenen zu besänftigen. Auch im Zweiten Weltkrieg waren die Kriegsberichterstatter oft Teil der kämpfenden Truppe und trugen – wie Ernest Hemingway – selbstverständlich Uniform. Wie im Dritten Golfkrieg dann wieder die „embedded journalists“, die in Kampfeinheiten der US-Armee eingebetteten Reporter, die von diesen völlig abhängig waren und mitunter auch gezielt mit falschen Informationen versorgt wurden.

In Afghanistan wiederum kann sich der Journalist zumindest in gewissen Gebieten von der Bundeswehr oder anderen westlichen Truppen absichern lassen. In vielen Ländern aber ist er weitgehend auf sich selbst gestellt, zum Beispiel in Somalia, wo sich islamistische Banden befehden, an der Elfenbeinküste, die vor einem Bürgerkrieg steht – oder auch in Rhönland.

In Rhönland führten die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, aber auch die wachsende wirtschaftliche Kluft zwischen dem reichen, industrialisierten Süden und dem landwirtschaftlich geprägten, verarmten Norden zu Spannungen. Die Revolutionären Streitkräfte von Nordrhönland riefen schließlich eine eigene provisorische Regierung aus. Im Süden des Landes operieren die reguläre Armee, aber auch paramilitärische Gruppen. Blauhelmen der Uno gelang es schließlich, eine Pufferzone zu installieren. Doch es kommt immer wieder zu Scharmützeln.

Das ehrwürdige Schloss Greifenstein, das sich am Rand von Bonnland befindet und in dem wir genächtigt haben, liegt schon jenseits der UN-Pufferzone, auf südrhönländischem Gebiet. Wir haben gerade gefrühstückt, als uns brüllend und wild um sich schießend ein Dutzend Männer in einen Nebenraum drängt. Ich werde gefesselt und man verpasst mir eine schwarze Augenbinde, wie man sie in den Flugzeugen aufsetzt, wenn man schlafen will. In einen Bus geschubst begreife ich: Ich bin entführt. Man schreit mich an, lässt mich niederknien, wieder aufstehen, bedroht mich, befiehlt mir, einen Eimer mit Sand aufzufüllen. Mit verbundenen Augen ertaste ich den Sandberg und den Eimer und fülle diesen. Doch er wird nie voll, weil er keinen Boden hat. Die Terroristen lachen, machen sich über mich lustig, beleidigen mich, schubsen mich herum, brüllen mich an. Ich werde zum nächsten Ort gefahren, denke, nun ist alles vorbei. Aber nein, alles beginnt von vorne. Man will meinen Willen brechen.

Schließlich werde ich zum Anführer der südrhönländischen Paramilitärs gebracht. Er fragt in gebrochenem Englisch, was ich vom Konflikt zwischen den Süd- und Nordrhönländern halte. Ich erwidere, ich sei erst dabei, den Konflikt zu recherchieren. Er wirft mir vor, mit den Nordrhönländern unter einer Decke zu stecken. Ich bestreite dies vehement. Er lässt kurz meine Augenbinde entfernen und zückt ein Foto, das mich mit einem nordrhönländischem Kommandanten vor der nordrhönländischen Flagge zeigt. Ich sage, man habe mich dazu gezwungen, für das Foto zu posieren. „Du elende Memme!“, schreit er und lässt mir die Augen wieder verbinden. Ich werde abgeführt, und irgendwo mitten im Schnee geht alles wieder von vorne los: niederknien, Hände hinter den Kopf, aufstehen, weitermarschieren.

Nach vier Stunden wird abgepfiffen. Das Spiel ist zu Ende. In der Regel dauert eine Entführung eher vier Wochen oder vier Monate.

Trotzdem, es hat gereicht.

Ich musste mir während der vier Stunden in den Händen der Entführer immer wieder einhämmern: Es ist nur ein Spiel, ein Spiel, ein Spiel. Sonst hätte ich diese Situation wohl schlecht durchgehalten. Vorsichtshalber hatte Oberstleutnant Dewenter schon am ersten Tag des Kurses bekannt gegeben, dass es hart werden würde, aber jeder jederzeit aussteigen könne. Doch sei der Ausstieg dann unwiderrufbar. Ich hätte nur das Codewort „Exit“ sagen müssen, und man hätte mir die Augenbinde weggenommen, mich freundlich zur Kaserne begleitet und zum Bahnhof gebracht.

Versteckte Gefahren

Die Nachbereitung der Übung findet in der Kaserne statt. Unser Verhalten während der Entführung und des Verhörs wurde, was wir mit verbundenen Augen nicht bemerken konnten, auf Video aufgenommen. Wir haben gelernt, wie wir uns bei Beschuss verhalten sollen, wir haben eine Ahnung davon bekommen, wie hilflos man sich als Opfer von Gewalt fühlt. Wir haben unsere Grenzen gespürt. Der Kurs sensibilisiert für versteckte Gefahren, das kann im entscheidenden Fall das Überleben sichern. Der Kriegsreporter auf dem Weg in den Einsatz lernt in Hammelburg manch Nützliches: wie er sich auf eine Reise ins Krisengebiet vorbereitet, wie er sich im Notfall verhält.

Eine andere Geschichte ist das Danach. Wie verarbeiten Reporter den Anblick von Toten, wie verkraften sie Terror und vielleicht Entführung? Für Soldaten, die traumatisiert aus dem Krieg zurückkehren, gibt es längst eine professionelle Betreuung. Aber auch Journalisten sehen dort Bilder, die sie nie wieder vergessen werden. Traumatische Erfahrungen und posttraumatische Belastungen bei Journalisten sind nur selten ein Thema. Vielleicht, weil sich Kriegsreporter, anders als mittlerweile viele Soldaten, noch immer gern als Helden fühlen.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 11.01.2011

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