Der französische Präsident war erschüttert. Der Fall Tibhirine werde nun Chefsache, versprach Nicolas Sarkozy Anfang Oktober. Zusammen mit seiner Frau Carla Bruni hatte er sich im Elysée-Palast Xavier Beauvois‘ preisgekrönten Film „Von Menschen und Göttern“ angeschaut, der das Drama der Entführung und Ermordung von sieben französischen Mönchen in Algerien aufgreift und in dieser Woche in Deutschland angelaufen ist. Es ist ein Spielfilm. Aber der Drehbuchautor orientierte sich an der realen Geschichte: Im Kloster in Tibhirine, zwei Autostunden von der algerischen Hauptstadt entfernt, lebten 1996 sieben französische Trappistenmönche ein friedliches, asketisches Leben, in Eintracht mit der muslimischen Bevölkerung des Ortes, bis sie vom Krieg eingeholt wurden. Im Abspann des Filmes heißt es knapp: „Die Identität ihrer Mörder und die Umstände ihres Todes bleiben ein Rätsel.“
Tatsächlich ist vieles noch immer rätselhaft, aber einiges ist inzwischen durchaus zutage gekommen. In Paris läuft zurzeit ein Ermittlungsverfahren, das Licht in das Dunkel bringen will. Man darf gespannt sein, ob – Chefsache! – weitere Dokumente der französischen Geheimdienste freigegeben werden und Agenten und Beamte Aussagegenehmigungen erhalten. Denn Frankreich ist in den Fall durchaus involviert. Obwohl sieben französische Staatsbürger ermordet wurden, hat die französische Justiz von sich aus nichts getan, um das Verbrechen aufzuklären. Erst nach zähem und hartnäckigem Druck von Armand Veilleux, zur Tatzeit Generalprokurator des Zisterzienser-Ordens, dem die Trappisten angehören, und heute Abt eines Klosters in Belgien, wurden Ermittlungen aufgenommen.
Rückblick: Im Jahr 1996 herrschte in Algerien bereits seit vier Jahren Bürgerkrieg. Im Januar 1992 hatte die Armee fünf Tage vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang der ersten freien Parlamentswahlen des Landes geputscht und die „Islamische Heilsfront“ (FIS) um ihren sicheren Sieg betrogen. Zehntausende Mitglieder und Sympathisanten der FIS wurden in die Wüste verschleppt und gefoltert. Tausende Mitglieder der nach dem Putsch verbotenen Partei griffen zu den Waffen und formierten sich als AIS („Islamische Heilsarmee“). 1993 tauchte zum ersten Mal eine noch radikalere Gruppe, die GIA („Bewaffnete Islamische Gruppen“), auf.
Anders als die AIS, die sich mit Armee und Polizei Feuergefechte lieferte, verbreitete die GIA Terror unter der Zivilbevölkerung und stellte allen Ausländern ein Ultimatum, das Land zu verlassen. Zwischen Mai 1994 und November 1995 wurden sechs Nonnen und fünf Mönche ermordet.
Am 27. März 1996, um 1.15 Uhr nachts, tauchten vor dem Kloster Tibhirine 20 bewaffnete Männer auf und entführten sieben der anwesenden neun Mönche. Am 26. April übernahm die GIA in einem Kommuniqué die Verantwortung für das Kidnapping. Unterzeichnet war es von Djamel Zitouni, dem Chef der islamistischen Organisation. Am 21.Mai verkündete die GIA in einem weiteren Kommuniqué: „Der Präsident Frankreichs und sein Außenminister haben erklärt, dass sie mit der GIA nicht verhandeln. Sie haben den Faden des Dialogs abgeschnitten. Wir unsererseits haben nun den sieben Mönchen die Hälse abgeschnitten.“ Am 30. Mai wurden nur wenige Kilometer vom Kloster entfernt in Plastiksäcken, die an Bäumen hingen oder am Straßenrand deponiert waren, sieben Köpfe gefunden.
Ganz Frankreich war entsetzt über den Terrorismus der Islamisten. Der Zisterzienserabt Veilleux aber, der im Pariser Gerichtsverfahren als Nebenkläger auftritt, ist überzeugt, dass bei der Entführung der Trappisten die algerische Armee die Regie führte. Es sei ihr darum gegangen, die französische Öffentlichkeit aufzurütteln und die Politiker in Paris von der islamistischen Gefahr zu überzeugen. Eine gewagte These – für die allerdings vieles spricht.
Der im Juni 1996 unter ungeklärten Umständen ermordete Zitouni war nicht nur GIA-Chef, sondern stand offenbar auch im Dienst des Geheimdienstes der algerischen Armee. Der Erste, der dies behauptete, war Hauptmann Ahmed Chouchane. Er sagte im April 1995 aus, General Kamel Abderrahmane vom militärischen Geheimdienst habe ihm vorgeschlagen, Zitounis Stellvertreter zu werden, und ihm erklärt: „Zitouni ist ein Mann von uns.“ Chouchane lehnte ab. Er hat heute politisches Asyl in Großbritannien.
Ali Benhadjar, zur Tatzeit Mitglied eines GIA-Trupps, der in der Gegend von Tibhirine operierte, gab 1997, nachdem er die Waffen niedergelegt hatte, schriftlich zu Protokoll, Zitouni habe von seiner Gruppe verlangt, die Mönche zu entführen. Der Führer seiner Gruppe habe sich aber geweigert, weil man den Trappisten schon bei einem Besuch 1993, bei dem Benhadjar zugegen war, das „Aman“ gegeben habe, ein beeidigtes Versprechen, sie nicht anzugreifen. Daraufhin habe Zitouni, der vom militärischen Geheimdienst manipuliert gewesen sei, andere GIA-Gruppen eingesetzt.
Abdelkader Tighani, zur Tatzeit Offizier des militärischen Geheimdienstes in Blida, etwa 30 Kilometer von Tibhirine entfernt, behauptete nach seiner Flucht aus Algerien, in der Nacht zum 27. März 1996 seien die Mönche in zwei Kleinbussen der Armee vor seiner Kaserne vorgefahren.
Dass die GIA vom militärischen Geheimdienst unterwandert war und von ihm manipuliert wurde, ist inzwischen hinreichend belegt. Mohamed Samraoui, hoher Geheimdienstbeamter und zuletzt Militärattaché an der algerischen Botschaft in Bonn, bezeugte vor Gericht: „Von einem gewissen Zeitpunkt an kontrollierten wir die Gruppen, die wir gebildet oder infiltriert hatten, nicht mehr.“ Der abgesprungene Geheimdienstler genießt heute politisches Asyl in Deutschland.
Auch die französischen Geheimdienste wussten von der Instrumentalisierung der GIA durch die algerische Armee. Während in ganz Frankreich die Schuld an der Entführung und Ermordung allein der GIA angelastet wurde, notierte General Philippe Rondot vom französischen Inlandsgeheimdienst DST, Zitouni genieße „seit sehr langer Zeit – aus taktischen Gründen – eine relative Duldung seitens der algerischen Dienste“. Rondot, Spezialist für die arabische Welt und der arabischen Sprache mächtig, war bereits am 5.April, zehn Tage nach der Entführung der Mönche, nach Algier beordert worden, wo er sich regelmäßig mit seinem langjährigen Bekannten, dem General Smail Lamari, Chef des algerischen Geheimdienstes, traf.
Am 30. April sprach in der französischen Botschaft in Algier ein gewisser Abdullah, Emissär der Kidnapper, vor und übergab den Franzosen eine Kassette, auf der die Stimme von Père Christian, dem entführten Prior des Klosters von Tibhirine, zu vernehmen ist: „Die französische Regierung wird aufgefordert, im Gegenzug zu unserer Freilassung eine gewisse Zahl von Geiseln, die der GIA angehören, freizulassen.“ Mit Abdullah verhandelte ein Agent des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE, der einen bis heute geheim gehaltenen Bericht an Staatschef Jacques Chirac schickte. Weshalb bestand Rondot auf direkten Verhandlungen mit den Terroristen, wenn sein Kollege vom Auslandsgeheimdienst schon einen Draht zu einem Emissär der Entführer hatte? Dieser wurde übrigens schon kurz nach seinem Besuch der Botschaft ermordet. Höchstwahrscheinlich vom algerischen Geheimdienst, der sich nicht in die Karten schauen lassen wollte.
Was wussten die Franzosen? Im vergangenen Jahr kam es im Gerichtsverfahren in Paris zu einem Eklat. Da erklärte General François Buchwalter, zur Tatzeit Militärattaché an der französischen Botschaft in Algier, dem französischen Ermittlungsrichter Marc Trévidic an Eides statt, er habe vom Bruder eines algerischen Piloten erfahren, dass die Armee ein Lager der GIA aus Hubschraubern beschossen und dabei versehentlich die Mönche getötet habe. Um die Schuld den Islamisten in die Schuhe zu schieben, habe man den Trappisten die Köpfe abgeschnitten. Er habe damals dem Verteidigungsministerium, dem Generalstab und auch Michel Levêque, dem französischen Botschafter in Algier, schriftlich Bericht erstattet. Der Botschafter habe ihn danach angewiesen, über die Geschichte zu schweigen. Dass damals in der Gegend von Tibhirine Militäroperationen stattfanden, was Algier immer geleugnet hatte, geht auch aus Dokumenten hervor, die der Ermittlungsrichter Trévidic vor zwei Jahren in einem Safe fand, der ihm zunächst vorenthalten worden war.
Als Veilleux, zur Tatzeit Prokurator des Zisterziensterordens und heute Nebenkläger, nach Algier flog, um die ermordeten Mönche zu identifizieren, sagte ihm Botschafter Levêque, die Särge seien bereits versiegelt. Doch Veilleux beharrte darauf, die Toten zu sehen. Schließlich wurden die Särge geöffnet. Zum Vorschein kamen nur Köpfe. Dass die Körper nicht in den Särgen lagen, wusste Levêque nachweislich. Doch hatte er dies der Öffentlichkeit verschwiegen – auf Bitten der algerischen Behörden, wie er angab. Die Körper der sieben Trappisten sind bis heute nicht aufgetaucht.
Der Elysée-Palast war aus Gründen der Staatsräson an einer Aufklärung des Verbrechens bislang nicht interessiert. Denn die Suche nach der Wahrheit droht das gute Verhältnis zu den algerischen Generälen, den eigentlichen Machthabern des Landes, zu beschädigen und die Zusammenarbeit zwischen den Geheimdiensten dies- und jenseits des Mittelmeers infrage zu stellen. Hehre Prinzipien stehen gegen Realpolitik. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, der Tibhirine zur Chefsache erklärte, wird sich entscheiden müssen.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 18.12.2010