Für die einen ein Traum, für die andern ein Albtraum: Mit dem Begriff Europa sind Hoffnungen und Ängste verbunden. Hoffnung auf Wohlstand vor allem im Osten, Angst vor Armut vor allem im Süden der Europäischen Union. Am 25. Mai ist Europa-Wahl. Zwei Wochen lang sind wir deshalb vom Osten in den Süden Europas gereist, von Estland nach Portugal, im Zug. Und hatten ein paar Fragen im Gepäck: Kann der europäische Traum von einer leisen Supermacht, wie ihn der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin schon vor zehn Jahren hatte, Wirklichkeit werden? Oder entmündigt das sanfte Monster Brüssel ganz Europa, wie der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger befürchtet? Wer liebt Europa? Und wer hasst es? Und gibt es eine europäische Identität?

Tallinn


Der Landeanflug ist traumhaft. Es ist bald zehn Uhr nachts, aber noch Tag. In Tallinn, der Hauptstadt Estlands, im Norden Europas, geht die Sonne Ende April spät unter. Die Ostsee, die hier das Westmeer genannt wird, ist tiefblau. Eine weiße Fähre tuckert hinüber nach Finnland. Hier also, in Tallinn, beginnt die Zugreise, die uns nach Lissabon führen wird. Bis 1918 hieß die alte Hansestadt amtlich Reval. An den deutschbaltischen Adel erinnern die Namen der Hotels Kreutzwald und Stackelberg, an die deutschen Kaufleute die Restaurants Olde Hansa und Peppersack. Die Altstadt mit ihren Wehrtürmen gehört heute zum Weltkulturerbe der Unesco.

Tallinn strahlt mittelalterlichen Charme aus. Ansonsten aber lebt man supermodern hier. Kaum ein Café, das nicht wireless Zugang zum Internet bietet. Kaum ein Jugendlicher, der nicht am Smartphone hängt. Parkgebühren bezahlt man per SMS. Bis vor Kurzem besorgte man sich bei den Banken auch Kredite übers Handy. Estland hat europaweit – bezogen auf die Einwohnerzahl – die meisten Internet-Nutzer.

An die kommunistische Vergangenheit erinnert im Stadtbild nur wenig. Eine Plattenbausiedlung in einem Außenviertel und der Russenmarkt hinter dem Bahnhof, wo ältere Leute Pfannen und Töpfe, alte Duschköpfe und Wasserhähne, Abzeichen der Roten Armee und Insignien der Wehrmacht verkaufen. Im Zweiten Weltkrieg besetzten erst die Sowjets das unabhängige Estland, dann fielen die Deutschen ein, bevor sie von der Roten Armee wieder vertrieben wurden. Erst 1991 schüttelte Estland die Sowjetherrschaft ab. 2004 trat das Land der EU und der Nato bei, 2011 der Euro-Zone.

Seit Anfang Mai sichern vier dänische Kampfflieger den estnischen Luftraum. Estland gehört zu den wenigen Nato-Staaten, die eine gemeinsame Grenze mit Russland haben. Die ukrainische Krise wird in Estland sehr genau verfolgt. Etwa 25 Prozent der Einwohner des Landes sind Russen, eine knappe Mehrheit unter ihnen hat die estnische Staatsbürgerschaft, eine Minderheit die russische, und einige haben gar keine. Zu Sowjetzeiten war Estland offiziell zweisprachig. Jetzt gibt es nur noch eine Amtssprache, das Estnische. Es ist, wie das ihm verwandte Finnische, keine indogermanische Sprache und ist nicht leicht zu erlernen.

Im Viru Keskus, einer Shopping Mall mit riesigen Ausmaßen, treffen wir Sergei Stadnikov, geboren 1956. Er ist vermutlich weltweit der einzige Mensch, der die altägyptischen Hieroglyphen ins Estnische übersetzen kann. Er ist Russe. Seine Eltern sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingewandert. Und deshalb kann er – wie neun von zehn hier lebenden Russen – die estnische Staatsbürgerschaft und einen Job im öffentlichen Dienst nur nach einem Sprachtest und einer Prüfung seiner Kenntnisse der Verfassung erlangen. „Das ist unter meiner Würde“, sagt er, „also bleibe ich Russe mit russischem Pass.“ Die beste Lösung für Estland, meint er, wäre das finnische Modell: EU ja, Nato nein. Diese Ansicht vertreten hier sehr viele Russen. Aber nur sehr wenige Esten. Sie wollen nie wieder aus Moskau regiert werden. Sie wollen den Schutz der Nato. Jetzt, im Licht der Entwicklung in der Ukraine, erst recht.

Maarja Kangro (Poetin) Tallinn

„Die Spannungen zwischen estnischer Mehrheit und russischer Minderheit mögen zugenommen haben“, sagt Maarja Kangro, „aber dass die Russen Estlands nach Hilfe aus Moskau rufen, befürchtet hier niemand.“ Nein, Angst hat die 40-jährige estnische Schriftstellerin nicht. Selbst in Narwa, der drittgrößten Stadt Estlands, die an der russischen Grenze liegt und deren Einwohner zu 95 Prozent Russen sind, gibt es keine Bewegung für den Anschluss an Russland. Es lebt sich einfach besser im EU-Staat Estland. Selbst als Russe. Estland ist – pro Kopf gerechnet – ja auch der größte Nettoempfänger von Transferleistungen. „Keine relevante Partei will den Austritt Estlands aus der EU“, sagt Kangro. Die vielfach prämierte Autorin von einem Dutzend Büchern weiß das grenzenlose Europa zu schätzen. Vom Februar bis April war sie mit einem Stipendium in Wien, im Mai ist sie in Italien. Sie hat Gedichte, Erzählungen und Essays veröffentlicht. Sie spricht fließend Deutsch und Italienisch, hat Enzensberger, Umberto Eco und Giorgio Agamben übersetzt. „Von der Schriftstellerei kann man ja schlecht leben, wenn man in einer Sprache publiziert, die weltweit von nur knapp einer Million Menschen gesprochen wird“, sagt sie. Es ist, als ob jemand einen Roman verfassen würde, der bloß von einem Viertel aller Berliner verstanden werden kann und sonst von gar niemandem auf der ganzen Welt.


Krakau

Birkenwälder, dazwischen schmucke Dörfer und wieder Birkenwälder und wieder Dörfer. Der Zug von Tallinn nach Riga, der Hauptstadt Lettlands, braucht neun Stunden. Aber immerhin hat man – jedenfalls auf estnischem Territorium – WLAN-Zugang ins Internet. Über die litauische Hauptstadt Vilnius (Wilna) sind es weitere 15 Stunden nach Warschau. Hier wohnt Karol Modzelewski. Aber wir treffen ihn in Krakau. Er ist über die Osterfeiertage in die alte Hauptstadt gefahren, wo über Jahrhunderte die polnischen Könige gekrönt und begraben wurden. Vor der Marienkirche auf dem Marktplatz stehen Gläubige mit Brot, Kuchen, Würsten und Ostereiern. Ein Pfarrer segnet die Speisen.

Wenn es heute keinen Eisernen Vorhang mehr gibt, wenn Polen heute in der EU ist, so ist dies auch dem 76-jährigen Historiker Modzeleswki zu verdanken. Achteinhalb Jahre hat er insgesamt in Gefängnissen gesessen. Schon in den Sechzigerjahren war er wegen seines politischen Engagements zweimal in Haft. 1980 gehörte er zu den Gründern der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc. Ein Jahr danach kam er ein drittes Mal ins Gefängnis, nachdem der kommunistische Regierungschef Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen hatte. Solidarnosc wurde in den Untergrund gedrängt, doch der gesellschaftliche Umbruch, den die Gewerkschaft eingeleitet hatte, ließ sich letztlich nicht rückgängig machen. Im Sommer 1989 kam es in Polen zu den ersten freien Wahlen im Ostblock überhaupt. Modzelewski empfängt ganz in Schwarz.

Schwarze Schuhe, schwarze Hosen, schwarze Cordjacke. Auch die buschigen Augenbrauen sind schwarz, nur das widerborstige Haar ist ergraut. „Es gibt eine beachtliche euroskeptische Strömung in Polen“, sagt der Historiker, „frustrierte Transformationsverlierer, unter ihnen auch viele ältere Menschen, die einst all ihre Hoffnung in Solidarnosc setzten, dann doch arbeitslos wurden und keine Perspektive mehr sehen. Sie sind anfällig für ein autoritäres System. Ihr Auffangbecken ist die nationalkonservative, populistische Partei Recht und Gerechtigkeit.“ Deren Chef ist Jaroslaw Kaszynski, der von 2006 bis 2007 Ministerpräsident war. Er wirft Donald Tusk, seinem liberal-konservativen Nachfolger, vor, sich der EU gegenüber devot zu verhalten und die Souveränität Polens zur Disposition zu stellen.

„Natürlich muss der Nationalstaat überwunden werden, wenn man die Globalisierung in den Griff kriegen will“, sagt Modzelewski, „aber die Vereinigten Staaten von Europa, tja, noch ist das ein schöner Traum. Da fehlt es an sozialer Kohäsion im europäischen Maßstab, es fehlt eine europäische Zivilgesellschaft.“

Bratislava

Die Slowakei grenzt zwar an Polen. Aber die Karpaten stehen dem Zug im Weg. Also führt der Weg nach Bratislava über Tschechien. In einem Vorort der slowakischen Hauptstadt wohnt Martin Leidenfrost. Irgendwann, als er noch in Wien lebte, ist er nach Marchegg gefahren, ein kleines Städtchen an der March, dem Grenzfluss zwischen Österreich und der Slowakei. „Die March ist dort nicht sehr breit“, sagt er, „trotzdem gab es keine Brücke nach drüben, und noch seltsamer war, dass eine solche niemand vermisste.“

Leidenfrost aber war neugierig, fuhr einen langen Umweg und gelangte auf die andere Seite – nach Devínska Nová Ve. Dort, am Rand von Bratislava, ließ er sich – wenige Monate vor der Osterweiterung der EU 2004 – nieder und mietete sich in einer Plattensiedlung ein. Er wollte erkunden, wie es sich „an der langsam vernarbenden Naht des Eisernen Vorhangs“ so lebt. Ein Jahr sollte das Experiment dauern. Zehn Jahre sind es schon geworden. „Das ist mir also entglitten“, resümiert der heute 42 Jahre alte österreichische Schriftsteller nüchtern in einer Bar, in der das Glas Birnenschnaps – 0,05 Liter – einen Euro kostet.

Leidenfrost hat seine Erfahrungen mit dem Leben in der Platte in seinem Buch „Die Welt hinter Wien“ festgehalten. Eine starke antieuropäische Bewegung gibt es in der Slowakei nicht. Allenfalls mosert die rechtsliberale Partei Freiheit und Solidarität gegen die Politiker in Brüssel. Sie hatte vor zwei Jahren mit ihrer Weigerung, den Euro-Rettungsschirm aufzustocken, eine Regierungskrise ausgelöst. Nach einer Umfrage der Eurostat sei die Slowakei der europhilste aller EU-Staaten, sagt Leidenfrost, aber das sei möglicherweise ein Missverständnis. Wie sonst könne man erklären, dass die Slowakei unter allen 28 EU-Staaten einen traurigen Rekord hält: Bei den Wahlen zum Europaparlament 2004 gingen bloß 16,96 Prozent der Slowaken – ihr Staat war gerade der EU beigetreten – zu den Urnen.

„Die Slowaken haben keine Tradition, sich selbst zu regieren“, sagt Leidenfrost, „sie ließen sich die Politik immer gern von außen vorschreiben, unter der Habsburger Doppelmonarchie von Budapest, später von Prag, dann von Moskau, heute von Brüssel. Sie sagen: ‚Unsere Leute sind noch viel beschissener, sollen die in Brüssel mal machen. Die können wir zwar auch nicht sonderlich leiden, aber sie sind wenigstens weit weg.'“ Der Österreicher sagt dies mit hintersinnigem Charme, Wiener Schmäh eben.

Nachdem Leidenfrost die slowakische Seele weitgehend erforscht hatte, machte er sich nach Brüssel auf. Er wollte sich den Moloch ansehen, in dem zwei Drittel aller Gesetze gemacht werden, die in den EU-Staaten gelten. 33 000 Beamte beschäftigt dieser Koloss. „Ich wollte wissen, was für Menschen das sind“, erzählt der Schriftsteller, „ich hoffte, dort über alle 28 Nationen etwas zu erfahren, aber ich habe dann das 29. Volk gefunden, einen eigenen Stamm, der kaum nationale Züge hat und sich nicht einmal durch eine besondere Leidenschaft für Europa auszeichnet. Die meisten wissen über sehr viele Mitgliedstaaten sehr wenig. Aber es sind gut organisierte, freundliche, offene Menschen, denen oft persönliche Züge fehlen, perfekte Beamte, wie sie sich jeder Regierungschef wünscht. Das sind richtig gute Leute. Sie arbeiten auch.“ Seine Brüsseler Erfahrungen hat der Schriftsteller in dem Buch „Brüssel zartherb“ zusammengefasst.

Trotz aller spöttischen Töne hat sich Martin Leidenfrost ernsthafte Gedanken über die Zukunft der EU gemacht. Sein Fazit: „Wir brauchen einen europäischen Staatenbund. Aber viele Kompetenzen, die sich Brüssel oder die Nationalstaaten anmaßen, können weiter unten, auf regionaler oder gar auf kommunaler Ebene, angesiedelt werden. Andere Kompetenzen muss Brüssel an sich ziehen. Jede Kompetenz muss dahin, wohin sie von ihrer Tragweite her gehört.“

Budapest

Von Bratislava nach Budapest ist es ein Katzensprung. Der Zug fährt vorbei an blühenden Rapsfeldern, immer an der Donau entlang. Auf einem Berg auf der anderen, der ungarischen Seite des Flusses thront weithin sichtbar einer der größten Kirchenbauten Europas, die klassizistische Kathedrale von Esztergom, Geburtsort von Stephan I., der im Jahr 1 000 das Ungarische Reich gründete, und die erste ungarische Hauptstadt. Budapest.

In einem kleinen Park am Fuß des Schlossbergs ist eine Ausstellung über den „Alltag des Zusammenlebens zwischen Juden und Nichtjuden“ in Ungarn zu sehen. Fotos aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Alles in allem scheint man sich prächtig verstanden zu haben. Dass in Ungarn schon zwölf Jahre vor der Machtübernahme Hitlers die ersten antijüdischen Gesetze erlassen wurden, erfährt man in einem Halbsatz. Dass überhaupt ungarische Juden in Auschwitz ermordet wurden, erfährt man in zwei Nebensätzen. Dass die Deportation von 440 000 Juden unter deutscher Besatzung im Wesentlichen von ungarischen Behörden durchgeführt wurde, erfährt man gar nicht.

Für Rudolf Ungváry ist die Ausstellung typisch dafür, wie in Ungarn unter dem Regime Viktor Orbáns mit Geschichte umgegangen wird. Der Schriftsteller empfängt den Besucher in roter Hose und in lila Pullover. Man sieht ihm – trotz des schlohweißen Haars – seine 78 Jahre nicht an. Die Altbauwohnung, in der er mit seiner Frau wohnt, ist voll von Büchern. Und so schnell, wie er von einem Regal zum andern läuft, so schnell springt er in der Diskussion durch die Jahrhunderte.

Ungváry hat die Zäsuren der jüngeren Geschichte Ungarns hautnah erlebt. An die zwei Monate andauernde Belagerung Budapests durch Sowjettruppen am Ende des Zweiten Weltkriegs und an den Einmarsch der Roten Armee erinnert er sich noch gut. Als 20-jähriger Student nahm er 1956 am ungarischen Aufstand teil und wurde damals drei Monate interniert. Vor der Wende 1989 war er prominentes Mitglied der Kommission zur Wiederherstellung der historischen Wahrheit, die die Neubeerdigung des nach der Niederschlagung des Aufstands hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy durchsetzte und damit symbolisch alle Opfer des Stalinismus rehabilitierte.

Die jüngere Geschichte sei in Ungarn nie ernsthaft aufgearbeitet worden, sagt Ungváry, und deshalb habe Viktor Orbán so leichtes Spiel beim Rückbau der Demokratie. Der rechtspopulistische Ministerpräsident hat über seine Zweidrittelmehrheit im Parlament die Kompetenzen des Verfassungsgerichts beschnitten, die Selbstständigkeit der Nationalbank aufgehoben und kujoniert erfolgreich die Medien. Ungarn verwandelt sich unter den Augen Europas in einen autoritären Staat. „Es ist ein Aufstand gegen die Demokratie“, sagt Ungváry, „eine faschistoide Mutation in demokratischer Form.“

Rechts von der regierenden Fidesz hat sich mit 20 Prozent der Stimmen als drittstärkste politische Kraft Jobbik etabliert, eine offen antisemitische, rechtsradikale Nazi-Partei, deren paramilitärischer Arm Jagd auf Roma macht. Jobbik stellt sich in die Tradition der Pfeilkreuzler, die in den sechs Monaten vor dem Einmarsch der Roten Armee in Ungarn ein Terrorregime errichteten und mehrere Zehntausend Menschen ermordeten. Jobbik möchte die alte Größe Ungarns wiederherstellen. Mit dem Vertrag von Trianon verlor Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Staatsgebiets.

Auch die Fidesz beschwört immer wieder die einstige Größe Ungarns. „Für die Ungarn war der Trianon-Vertrag ein kulturelles Trauma, das heute wiederbelebt und missbraucht wird“, sagt Ungváry, „die Linken und Liberalen erkannten nach 1945 und bis heute nie, welch politische Kraft aus solchen Traumata erwachsen kann, wie tief der Brunnen der Vergangenheit ist, um mit Thomas Mann zu sprechen.“

Das ungarische Regime stelle die EU gewissermaßen als imperiale Unterdrückungsmaschinerie dar, sagt Ungváry, die die ungarische Unabhängigkeit gefährde. Solche Töne würden allerdings nur im innenpolitischen Diskurs fallen, wo unentwegt der „Freiheitskampf“ beschworen werde. Dass 95 Prozent aller staatlichen und privaten Investitionsprojekte Ungarns nach 2008 unter Beteiligung von EU-Geldern zustande kamen, steht auf einem anderen Blatt. Für ausländische Ohren spricht Orbán vom „Europa der Nationen“.

Vergeblich hat Ungvary schon an die Europäische Volkspartei appelliert, endlich einzugreifen. Dem Bündnis von christlich-demokratischen und konservativ-bürgerlichen Parteien Europas, das die stärkste Fraktion im Europaparlament stellt, gehören sowohl die CDU wie die Fidesz an. „Die konservativen Parteien Europas erkennen die Gefahr nicht, die von Ungarn ausgeht“, behauptet der Schriftsteller, „vielleicht wachen sie auf, wenn das faschistoide ungarische Modell in Europa Schule macht.“

Turin

Der Zug von Budapest nach Italien fährt durch die Steiermark und durch Kärnten. Hinter Villach ist die Grenze – oder der „neue Eiserne Vorhang“, von dem der portugiesische Außenminister jüngst sprach. Es gibt keine Passkontrollen, keine Wachtürme, keine Zäune. Aber bei jeder Diskussion über Europa südlich dieser unsichtbaren Grenze merkt man schnell, dass man nun auf der anderen Seite angekommen ist – auf der Seite der Verlierer, der Abgehängten. Ein guter Nährboden für Populismus jeglicher Art. Die Lega Nord, einst Bündnispartner Berlusconis, spricht von „Roma ladrona“, dem diebischen Rom, der Bürokratie in der Hauptstadt, und fordert ein unabhängiges Padanien. Der Komiker Beppe Grillo wettert generell gegen alle, die nicht seiner Meinung sind, und zögert nicht, seine eigene Bewegung Fünf Sterne von Dissidenten zu säubern.

Auch Alessandra Quarta will ein anderes Italien – und ein anderes Europa. Die 28-jährige Juristin lehrt an der Universität Ostpiemont Zivilrecht. Sie gehört keiner Partei an, kandidiert aber auf der Liste „Das andere Europa mit Tsipras“, die von namhaften Intellektuellen initiiert worden ist. Alexis Tsipras ist Präsident der griechischen Linkskoalition Syriza und Kandidat der europäischen Linken für das Präsidium der EU-Kommission.

Hoch über der Industriemetropole Turin thront die Superga, die Barock-Basilika, in deren Krypta zahlreiche Mitglieder des Hauses Savoyen ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Unter der Dynastie der Savoyer gelang vor 150 Jahren die Einigung Italiens. Im Risorgimento, dem mühsamen Prozess dieser Einigung, gaben die mittelitalienischen Fürstentümer ihre Souveränität auf, wurde Mailand von der Herrschaft der Habsburger und Neapel von jener der Bourbonen befreit, entstand ein italienisches Nationalbewusstsein, eine italienische Identität. Gibt es aber ein europäisches Unionsbewusstsein, eine europäische Identität? Vermutlich nicht. Und deshalb sieht man wohl in Turin so gut wie keine Wahlplakate.

„Die Europawahlen werden hier allenfalls als Gradmesser für die Zustimmung zur Politik der Regierung in Rom angesehen“, sagt Quarta im Café des selbstverwalteten Kulturzentrums, dessen Vizepräsidentin sie ist, „alles wird aus einer nationalen Perspektive gesehen.“ Was ist eine europäische Identität? Kann es ein europäisches Wir-Gefühl geben? „Man darf die europäische Identität nicht auf derselben Ebene ansiedeln wie die nationale Identität“, sagt Quarta, „die europäische Identität muss von einer anderen Basis her entwickelt werden, und sie wird nicht dieselbe Bindungskraft wie die nationale Identität haben. Die Basis für die gemeinsame Europabürgerschaft ist die Anerkennung von zivilen, politischen und sozialen Rechten, die allen gemeinsam sind.“ Bislang sei die Integration Europas vorwiegend als wirtschaftspolitische Integration unter neoliberalem Vorzeichen verstanden worden. „In Italien setzen viele Europa generell mit Sparpolitik und Kürzungen sozialer Leistungen gleich.“

Dass die Sparpolitik vom mächtigen Deutschland diktiert wird, scheint im Volk Konsens zu sein. Die linksliberale Partei Italia dei Valori greift diese Angst auf. „Wir wollen europäische Bürger sein, keine Untertanen Deutschlands“, heißt es auf ihren Wahlplakaten. Quarta findet eine solche Kampagne abscheulich, aber klar ist: „Wir brauchen eine radikale Neuorientierung – weg von einem neoliberalen, hin zu einem sozialen Europa, einem Europa mit mehr Partizipation und mehr Demokratie.“

Barcelona

Der Zug fährt weiter nach Genua und dann an der Mittelmeerküste entlang. In den allermeisten Städten Südfrankreichs hat der rechtsextreme Front National bei den Kommunalwahlen im März zwischen 20 und 30 Prozent der Stimmen geholt, in Fréjus und Béziers stellt er sogar die Bürgermeister. Das wird oft mit der hohen Anzahl von Immigranten und der wirtschaftlichen Vernachlässigung der Region erklärt. Bei Portbou, wo sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis das Leben genommen hat, fährt der Zug über die Grenze.

Spanien ist viel härter von der Krise gebeutelt als andere, und es ist der EU-Staat, der in den letzten zehn Jahren am meisten Ausländer aufgenommen hat. Und doch gibt es hier keine rechtspopulistische Partei, die man mit der ungarischen Fidesz, der italienischen Lega oder dem französischen Front National vergleichen könnte.

Cristina Fallarás hat glücklichere Tage gekannt. Als Journalistin hat sie für verschiedene Rundfunkstationen und in einer Reihe von Redaktionen gearbeitet, sechs Bücher verfasst. Sie reiste zu Lesungen und internationalen Kongressen. Im November 2008 war die Karriere Knall auf Fall zu Ende. Als Stellvertretende Chefredakteurin eines Gratisblattes wurde sie gefeuert. Da war sie 40 Jahre alt und gerade im achten Monat schwanger. Wenn Fallarás davon erzählt, was ihr widerfahren ist, redet sie sich in Wut, schüttelt ihr langes rotes Haar, lacht abrupt, es ist ein Lachen, das ihre Verbitterung nur schlecht verbergen kann.

Sie erzählt ihre Geschichte auf einem versteckten Plätzchen im Gassengewirr hinter der Kathedrale von Barcelona, der Stadt, in der sie studiert, gearbeitet und gewohnt hat. Hat. Denn nun lebt sie in den Bergen hinter der Stadt. Sie ist mit ihren Kindern bei einem Freund untergeschlüpft.

3 000 Euro netto hat Fallarás als Stellvertretende Chefredakteurin verdient. Nach ihrer Entlassung erhielt sie noch anderthalb Jahre Arbeitslosengeld. Dann lebte sie einige Monate von ihren Ersparnissen. Im Jahr 2010 war sie pleite. Zwar war sie nun freischaffende Journalistin, aber dafür musste sie monatlich 280 Euro in die Sozialversicherung einzahlen. Hinzu kamen 300 Euro für die Schulspeisung und Kita, 250 Euro für Gas, Wasser, Elektrizität und Telefon plus Hypothekenzinsen von monatlich 1 200 Euro, weil sie sich – die Preise und Zinsen waren günstig – wie so viele andere auch eine Eigentumswohnung gekauft hatte. Kurzum, sie schaffte es nicht. Erst wurde ihr die Elektrizitätsversorgung gesperrt, dann das Telefon, und nachdem sie einige Monate mit den Hypothekenzinsen im Verzug war, wurde sie auf Veranlassung der Bank mit ihren Kindern auf die Straße gesetzt.

Ein übliches Schicksal, ein Schicksal von vielen. Seit Ausbruch der Krise 2008 wurden in Spanien über 250 000 Wohnungen zwangsgeräumt – in 70 Prozent aller Fälle konnten die Eigentümer die Bank nicht mehr bedienen, weil sie ihren Job verloren hatten. Spanien hat knapp sechs Millionen Arbeitslose. Die Arbeitslosenrate beträgt 25,3 Prozent (in Deutschland 5,1 Prozent), unter Jugendlichen sind es 53,9 Prozent (in Deutschland 7,8 Prozent). Das heißt, mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Spanien findet keinen Job. Viele, sehr viele wandern aus, in die USA, nach Deutschland, selbst nach Marokko.

Rund 9 000 Journalisten wurden seit Beginn der Krise entlassen. Allein die größte Zeitung des Landes, die renommierte El País, hat vor anderthalb Jahren fast ein Drittel der Belegschaft gefeuert. Fallarás hatte keine Chance auf eine feste Stelle. „Ich musste permanent Freunde anpumpen“, sagt sie, „einmal stand ich sogar beim Roten Kreuz um Milch für mein Kind an, schließlich habe ich eine Goldkette, ein Erbstück meiner Urgroßmutter, verkauft – für gerade 900 Euro. Das nagt am Selbstbewusstsein.“

Immerhin hat Fallarás bei El Mundo, der zweitgrößten Zeitung Spaniens, inzwischen eine wöchentliche Kolumne. Zudem tritt sie als freie Mitarbeiterin zweimal pro Woche im Fernsehen auf. Anfang Mai wurde sie sogar nach Mexiko eingeladen, um ihr neues Buch vorzustellen. Es trägt den Titel „A la puta calle“ – „Auf der Scheißstraße“ – und beschreibt die Stationen ihres Abstiegs in die Misere. Eine eigene Wohnung für sich und ihre beiden Kinder zu mieten, kann sie sich noch immer nicht leisten.

Was die Massenarbeitslosigkeit, die Obdachlosigkeit, Armut, das Fehlen jeglicher Lebensperspektive für viele Spanier bedeutet, davon habe man in Deutschland keine Vorstellung, behauptet Fallarás. „Gewiss, die Krise ist hausgemacht. Dass noch immer viele Banken aufgrund der 2008 geplatzten Immobilienblase auf faulen Krediten sitzen, hat Spanien verschuldet“, sagt Fallarás, „aber die Lösungen werden uns jetzt vom Internationalen Währungsfonds und Europa aufgezwungen.“ Mit Europa meint sie Merkel.

Lissabon

Die letzte Station dieser Reise quer durch Europa. Es ist der 1. Mai. Der Demonstrationszug der Dachgewerkschaft CGTP wälzt sich die Avenida Almirante Reis hoch, einen der großen Boulevards der portugiesischen Hauptstadt. Der Zug ist diesmal eher klein, es sind höchstens 20 000 Demonstranten. Lissabon ist anderes gewohnt. Die meisten Plakate richten sich gegen die „Troika“ aus Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank, die dem Land 2011 ein Darlehen von 78 Milliarden Euro gegeben und ihm im Gegenzug ein striktes Sparprogramm auferlegt hat. „Caça Merkel“ („Verjag Merkel!“), steht auf einem Karton, den ein alter Mann vor sich herträgt.

Auch Tiago Gillot marschiert mit, ein Mann mit kantigem Gesicht und markanten Augenbrauen. Zurzeit ist der 35-Jährige wieder einmal arbeitslos. „Mein Rekord“, sagt er lachend, „das war ein Jahr und sieben Monate ununterbrochen Arbeit.“ Mit einer Gruppe Gleichgesinnter hat er vor sechs Jahren die „Precários inflexíveis“ gegründet , „die unbeugsamen Prekären“, in unsicherer Stellung Beschäftigten. Sie hatten eine breite Protestbewegung angestoßen. Vor einem Jahr noch waren Hunderttausende gegen die Troika auf die Straße gegangen. Aber jetzt hat sich Müdigkeit breitgemacht.

„Die makroökonomischen Ziffern – Bruttoinlandsprodukt, Export, etc. – stabilisieren sich, der Absturz ist aufgehalten“, sagt Gillot, „aber den Leuten geht es nicht besser, sondern schlechter. Sie verdienen deutlich weniger als vor der Krise.“ Auch die Arbeitslosigkeit hat sich stabilisiert – auf hohem Niveau. Jedes Jahr verlassen etwa 150 000 Portugiesen das Land. „Wer trotz Diplom in der Tasche hier bleibt“, sagt Gillot, „wird inzwischen scheel angeschaut.“ Anders als in der Generation ihrer Großväter sind es nicht mehr Landarbeiter von Latifundien und verarmte Kleinbauern, die auswandern, sondern gut ausgebildete junge Menschen. Sie suchen Jobs in den USA, in Deutschland, Frankreich, aber auch in Brasilien und der portugiesischen Ex-Kolonie Angola mit ihrer boomenden Hauptstadt Luanda.

Der Musterschüler Portugal hat die Auflagen der Geldgeber fast alle erfüllt. Rechtzeitig zu den Europa-Wahlen hat nun die Regierung den „sauberen Ausstieg“ aus dem am Wochenende ablaufenden Hilfsprogramm der Troika verkündet. Vizepremier Paulo Portas sprach vom „Ende des Protektorats“. Portugal will den Euro-Rettungsschirm verlassen, ohne vorsorgliche Kreditlinien in Anspruch zu nehmen. „Von wegen sauberer Ausstieg“, sagt Gillot, „Armut und Arbeitslosigkeit bleiben.“

Von Tallinn nach Lissabon. Europa besteht aus Nationalstaaten und Bürgern. Die Nationalstaaten werden immer mehr zusammenwachsen, sich auf europäischer Ebene institutionell verzahnen. Aber auch die Bürger werden ein bisschen mehr Rechte haben. Der Vertrag von Lissabon hat die Möglichkeit europäischer Bürgerinitiativen eröffnet. Das Parlament, das am 25. Mai von den Bürgern Europas gewählt wird, wird Einfluss auf die Wahl des Präsidenten der EU-Kommission nehmen können.

Doch die Unionsbürger leben in Welten, die auseinanderdriften. Im Osten Europas, wo die Diktatur noch zur Lebenserfahrung eines Großteils der Bevölkerung zählt, hält sich der Verdruss über Europa in engen Grenzen. Die EU hat zudem den allermeisten ein Mehr an Wohlstand beschert. Im Süden Europas hingegen, wo familiäre und soziale Netze den Fall von Millionen in die Armut nicht mehr aufzufangen vermögen, wo Lebenschancen verloren gehen und Lebensperspektiven verblassen, macht sich eine gefährliche Europamüdigkeit breit. Brüssel, Troika, Merkel – man wähnt sich von fremden Mächten bestimmt, auf die man keinen Einfluss hat.

Gemeinsam aber ist allen Staaten von Estland bis Portugal: Der Europa-Wahlkampf erhitzt die Gemüter kaum. Vielerorts findet er gar nicht statt. Was für ein Europa wollen wir? Diese zentrale Frage ist kein Thema. Darin drückt sich auch ein Versagen der politischen Eliten aus. Eine europäische Öffentlichkeit gibt es allenfalls im Ansatz. Sie ist wohl Voraussetzung und Resultat für das Gelingen eines europäischen Integrationsprozesses, an dessen Ende eine Europäische Union steht, mit der sich ihre Bürger identifizieren können, weil sie gemeinsame Grundwerte teilen.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 17.05.2014

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