Wo der Terror Alltag ist, machen Massaker keine Schlagzeilen. So will es nun mal die Logik des publizistischen Geschäfts. Wir haben uns daran gewöhnt, daß in Algerien die Islamisten unschuldigen Leuten die Hälse durchschneiden, Frauen wie Vieh abschlachten, Schulbusse entführen und Autobomben legen. Und wir haben uns daran gewöhnt, daß die Militärs fast täglich, bei Razzien oder bewaffneten Auseinandersetzungen Terroristen außer Gefecht setzen, töten oder – welch schrecklich sauberes Wort – liquidieren. Auf der einen Seite heimtückische, religiös verblendete, bärtige Männer, die Menschen wie Schafen nach muslimischem Ritus die Kehlen aufschlitzen, auf der andern Seite eine Armee, die verzweifelt versucht, wieder Ruhe und Ordnung herzustellen. Das ist das Bild, das die algerischen Machthaber der internationalen Öffentlichkeit verkaufen. Sie sprechen von einem „terrorisme residuel“, einen „Rest-Terrorismus“, dessen Beseitigung nur noch eine Frage der Zeit sei.
Ein anderes Bild zeichnen die Berichte von „Amnesty international“, „Middle East Watch“ und anderer humanitärer Organisationen. Danach herrschen in weiten Teilen des Landes militärische Auseinandersetzungen, und alles deutet darauf hin, daß der Terror der Armee sich mit jenem der Islamisten durchaus messen lassen kann. Da gibt es Mord und Folter, Entführung und Sippenhaft, da werden abgeschlagene Köpfe ausgestellt und dürfen Leichen zwecks Abschreckung nicht von der Straße entfernt werden. Die Urheberschaft der Verbrechen ist im übrigen oft schwer zu ergründen, weil Islamisten in der Uniform von Soldaten auftauchen und Soldaten sich als Islamisten verkleiden.
Sich ein Bild von der wirklichen Lage im Land zu machen, ist schlechterdings unmöglich. Die algerischen Medien dürfen über die Auseinandersetzungen nur berichten, was das Regime zuläßt – also nur über den Terror der andern Seite. Ausländische Journalisten getrauen sich bestenfalls noch in die Hauptstadt und verlassen das Hotel in der Regel nur noch unter militärischem Schutz. Eine Reise durchs Land ist ein selbstmörderisches Unternehmen. In diesem Klima also finden am kommenden Donnerstag nun Parlamentswahlen statt. Die Islamische Heilsfront (FIS), die bei den letzten Wahlen vor fünfeinhalb Jahren in der ersten Runde fast die Hälfte aller Stimmen erhalten hat und nach der zweiten Runde, der die Militärs mit ihrem Putsch vom 11. Januar 1992 zuvorkamen, höchstwahrscheinlich über zwei Drittel der Parlamentssitze erobert hätte, ist diesmal nicht zugelassen – ganz nach der Devise „keine Demokratie für die Feinde der Demokratie“.
Nun ist die FIS gewiß keine demokratische Partei. Doch lagen ihre antidemokratischen Züge schon offen zutage, als sie 1989 aus taktischen Gründen zugelassen wurde, obwohl das im Rahmen der politischen Öffnung erlassene Gesetz die Bildung von Parteien auf religiöser, ethnischer oder linguistischer Grundlage verbot. Die Militärs haben im Januar 1992 verfassungswidrig Staatspräsident Chadli Bendjedid abgesetzt, der sich mit dem Wahlsieger arrangieren wollte, zwei Tage später den zweiten Wahlgang abgesagt und einen Hohen Staatsrat eingesetzt, der in der Verfassung gar nicht vorgesehen ist. Just diese Militärs, die 1989 das Mehrparteiensystem nur unter dem Druck der Straße zuließen und erst nachdem über 500 Jugendliche ihren Kugeln zum Opfer gefallen waren, just diese Militärs, die sich um Demokratie einen Dreck scherten, wenn sie ihre Macht bedroht sahen, just diese Militärs also maßen sich nun an, darüber zu befinden, wer an der Demokratie teilhaben darf und wer nicht. Der vom Militär eingesetzte Staatschef General Liamine Zeroual ist zwar im nachhinein vom Volk im November 1995 zum Präsidenten gewählt worden. Doch es waren Wahlen, zu denen die stärkste Partei, die FIS, nicht zugelassen war und die von der zweit- und drittstärksten Partei boykottiert wurden. Es gibt in Algerien keine demokratisch legitimierte Macht. Diese liegt – de facto – fraglos weiterhin bei den Militärs. Der Volksmund drückt diesen Sachverhalt einfacher aus: In Algerien hat nicht der Staat eine Armee, sondern die Armee einen Staat.
Das war schon seit der Unabhängigkeit so und ist eine Erblast der jüngsten Geschichte. Anders als die Nachbarstaaten Marokko und Tunesien konnte Algerien die Kolonialherrschaft nur auf militärischem Weg abschütteln. An die 300.000 Tote forderte der Unabhängigkeitskrieg, der acht Jahre dauerte und das Primat des Militärischen über das Politische etablierte. Schon 1962, zwei Monate nach der Unabhängigkeit, setzten sich im neuen Staat die Soldaten gegen die Zivilen durch. Mit seiner in Marokko und Tunesien stationierten „Grenzarmee“, die am Krieg nie beteiligt war, eroberte Oberst Boumediene die befreite Hauptstadt, zwang die dortige provisorische Regierung zum Rücktritt und setzte Ben Bella als Präsident ein. 1965 putschte er sich selbst an die Staatsspitze. Nach dem Tod Boumedienes setzten die Militärs 1979 Chadli Bendjedid als neuen Präsidenten durch. 1992 erzwangen sie seinen Rücktritt. Auch alle nachfolgenden Staatschefs – Boudiaf, Kafi, Zeroual – wurden direkt von der Militärspitze ernannt.
Die zweite Erblast des Kolonialkrieges ist die Bedeutung des Islams in der Politik. Die Religion war ein zentrales Moment der Mobilisierung der ländlichen Massen gegen die französische Herrschaft. Gefallene Mudjaheddin, wie sich die Partisanen des Unabhängigkeitskrieges nannten, wurden zu „Chouhada“, Glaubensmärtyrern, erklärt. Viele Bauern verstanden den Krieg gegen die Kolonialherren als einen „Djihad“, als einen Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen und für die Wiedererrichtung einer islamischen Herrschaft. Die Franzosen hatten ja die Koranschulen geschlossen und den „Oulemas“ (islamischen Gelehrten) das Predigen in den Moscheen verboten. In der Proklamation der Nationalen Einheitsfront FLN vom 31. Oktober 1954, mit der diese der französischen Regierung den Krieg erklärte, wird denn auch als Ziel „die nationale Unabhängigkeit über die Wiedererrichtung des souveränen, demokratischen und sozialen algerischen Staates im Rahmen der islamischen Prinzipien“ angegeben.
In der FLN, die das Land nach der Unabhängigkeit als Staatspartei 30 Jahre lang regieren sollte, kam es schon während des Befreiungskrieges zum offenen Konflikt zwischen einem marxistisch orientierten Flügel, der für einen laizistischen Staat eintrat, und einem Flügel, der den Islam in die Regelung öffentlicher Angelegenheiten einbinden wollte und der sich 1962 mit der militärischen Bestellung Ben Bellas zum ersten Staatspräsidenten durchsetzte. Schon ein Jahr danach gründeten religiös orientierte Kreise die Vereinigung „Al-Qiyam al-islamiyya“ („islamische Werte“), die beklagte, daß die FLN von ihrem ursprünglichem Ziel, der Errichtung eines islamischen Staates, abgekehrt sei. Ein Aktivist dieser zunächst regimenahen Vereinigung, die 1966 dann aufgelöst wurde, war übrigens Abassi Madani, der heute als Führer der FIS eine zwölfjährige Haftstrafe verbüßt.
Oberst Houari Boumediene, der 1965 die Macht an sich riß, war ein sehr populärer Politiker. Denn er war ein gläubiger Mensch und lebte asketisch. Sozialismus und Islam waren für ihn gleichermaßen wichtig. Er verstaatlichte die Wirtschaft, führte eine Agrarreform durch und überließ das Feld der Kultur und der Erziehung weitgehend den „Oulemas“. Es entstanden Seminare für islamisches Denken. Es wurde ein regimetreuer Klerus herangezüchtet. Das neu geschaffenen Ministerium für religiöse Angelegenheiten stellte die Imame ein und verfaßte oft auch ihre Predigten. Und vor allem wurde die Arabisierung vorangetrieben. Schon Ben Badis, der Führer der Oulema-Vereinigungen während der Kolonialzeit hatte gepredigt: „Arabisch ist meine Sprache, Algerien mein Land, Islam meine Religion“. Seine Erben machten sich nun daran, in einem Land, dessen (arabische) Elite vorwiegend französisch sprach, das von der französischen Kolonialmacht 1938 zur Fremdsprache erklärte Hocharabisch als offizielle Staatssprache durchzusetzen, eine Sprache, die die Dialekt sprechende Bevölkerung kaum verstand.
Die Arabisierung führte zu zwei Konflikten. Auf der einen Seite wurde eine arabophone Elite herausgebildet, die kaum Zugang zu den Schaltstellen in Wirtschaft und Politik fand, die weiterhin von der frankophonen Elite besetzt waren. Sie war deshalb besonders empfänglich für eine islamistische Ideologie, die sich gegen den Westen schlechthin richtete. Auf der andern Seite wurde das Regime zum erstenmal mit einer breiten Protestbewegung konfrontiert. Die Berber der Kabylei, deren Muttersprache, wie die jedes vierten Algeriers überhaupt, nicht arabisch, sondern tamazight ist, wehrten sich gegen die Arabisierung, die ihre kulturelle Identität bedrohte. Bis heute konnte die FIS in der Kabylei kaum Fuß fassen.
Chadli Bendjedid, der 1980 die Nachfolge des verstorbenen Boumediene antrat, schlug den „Berberfrühling“ militärisch nieder und kam dafür den islamistischen Kräften entgegen. Der Fünfjahresplan 1981-1986 sah den Bau von 160 neuen Moscheen, die Eröffnung von ebenso vielen Koranschulen und die Schaffung von 5.000 Arbeitsplätzen für Korangelehrte vor. Die größte Konzession aber machte der Führer des sozialistischen Staates den islamistischen Kräften in Partei und Gesellschaft mit einer Familiengesetzgebung, die sich an der „Scharia“, dem islamischen Recht, orientiert. So ist in Algerien die rechtliche Stellung der Frau heute weit schlechter als in den Nachbarstaaten Marokko und Tunesien. Nach dem 1984 verabschiedeten „code de la famille“ muß jede Frau, die heiraten will, die Einwilligung einer männlichen Schutzperson – das kann der Vater, der Bruder, der Sohn, der Onkel oder notfalls auch der Richter sein – vorweisen. Eine Frau kann sich nur scheiden lassen, wenn sie – wie soll sie es? – nachweisen kann, daß ihr Mann den ehelichen Pflichten nicht nachkommt. Sonst bleibt ihr nur der Weg des „khol“, des Rückkaufs der Freiheit, indem sie eine zwischen Richter und Ehemann ausgehandelte Summe Geld bezahlt. Will ein Mann hingegen seine Frau loswerden, reicht die ausgesprochene Verschmähung. In diesem Fall steht ihm dann sogar die bis anhin gemeinsame Wohnung oder das gemeinsame Haus zu. Die Frau sitzt auf der Straße – mit ihren Kindern, über die der Mann weiterhin ein Mitspracherecht hat. Bei der Diskussion über dieses Gesetz, das jeder Erpressung Vorschub leistet und die Frau faktisch zum Sklaven ihres Mannes macht, wurde im Parlament auch über die Länge des Stockes gestritten, mit der der Mann seine Frau züchtigen soll.
Anders als die heutige kriegerische Auseinandersetzung und die sie begleitende Rhetorik von einem Kampf zwischen laizistischem Staat und fundamentalistischem Terrorismus glauben machen will, ist der Islamismus in Algerien also weder vom Himmel gefallen noch ein Produkt der vorsichtigen Öffnung des politischen Systems Ende der 80er Jahre. Die Machthaber, viele von ihnen selbst gläubige Muslime, haben die Trennung von Religion und Politik nie gewollt, den Islam zum Teil politisch instrumentalisiert und die Islamisten in gewisser Weise hochgepäppelt. Doch dann sind den Hexenmeistern die Zauberlehrlinge aus dem Ruder gelaufen. Als im Oktober 1988 in ganz Algerien eine frustrierte Jugend, die in dem quasi bankrotten Staat nichts mehr zu gewinnen hatte und nach Frankreich nicht mehr auswandern konnte, auf die Barrikaden ging, verstanden die Islamisten den Protest, der kaum religiöse Züge trug, zu kanalisieren. Während die demokratischen Parteien ein noch völlig klandestines Leben führten, wurden nun die Moscheen zu Zentren der Diskussion und Agitation. Die Islamisten mit ihrer antiwestlichen Ideologie vermittelten einer Jugend, der der Westen verschlossen blieb und der die „westliche“ frankophone Elite des Landes nichts mehr anzubieten hatte, die Perspektive eines gerechten islamischen Staates an, für den es sich zu kämpfen lohne. Der Islam wurde zur Auffangstation, die Tausenden und Abertausenden von Jugendlichen psychischen Halt und über ein kapillares Netz von Hilfsorganisationen auch ein Stück soziale Sicherheit bot. Auch Teile des von der Wirtschaftskrise hart getroffenen Mittelstandes waren für die Botschaft der Islamisten durchaus empfänglich.
In der 1989 gegründeten FIS gab es von Anbeginn an zwei Strömungen. Beiden gemeinsam ist das Endziel eines islamischen Staates. Der gemäßigte Flügel (der „Djazara“) unter Abassi Madani, von Beruf Professor der Soziologie und Pädagogik, wollte diesen auf dem Weg über demokratische Wahlen erreichen. Der radikale Flügel (der „Salafisten“) unter dem Imam Ali Benhadj, einem feurigen Prediger einer Moschee im Zentrum Algiers, hingegen machte aus seiner Ablehnung der „westlichen“ Demokratie keinen Hehl. Als im Sommer 1991 die Regierung nach einem politischen Generalstreik der Islamisten den Belagerungszustand ausrief und Madani und Benhadj verhaftete, brach der Konflikt in der Partei offen aus. Der gemäßigte Flügel gewann die Oberhand und führte die FIS erfolgreich in die erste Runde der Parlamentswahlen. Erst nachdem die Militärs den zweiten Wahlgang und damit einen fulminanten Wahlsieg der Islamisten verhinderten, gewannen in der FIS die radikalen Kräfte Auftrieb, die von den Wahlen ohnehin nie viel erwartet hatten. Und immer mehr Mitglieder des radikalen Flügels wanderten zu den terroristischen Gruppen der GIA ab, die der Kontrolle der FIS nicht nur entglitten sind, sondern diese mittlerweile militärisch bekämpfen.
Hätte die Dynamik der Islamisierung gebrochen werden können, wenn die Militärs 1992 den zweiten Wahlgang und ein von der FIS dominiertes Parlament zugelassen hätten? Die Chancen standen nicht schlecht. Die FIS war gespalten und hatte im Vergleich zu den Gemeindewahlen vom Vorjahr über eine Million Stimmen verloren. Doch die Frage ist nur noch akademischer Natur. Auch die Auseinandersetzung zwischen dem Lager der „éradicateurs“, den demokratischen Kräften, die auf ein Bündnis mit den Militärs setzen, um den Terrorismus mit Stumpf und Stiel auszurotten, und den „reconciliateurs“, den demokratischen Kräften, die auf einen Dialog mit der FIS setzen, ist Schnee von gestern. Die jüngste Geschichte hat ihr Urteil gefällt. Die Strategie der „éradicateurs“ ist nicht aufgegangen. Fünf Jahre lang haben die Militärs jeden ernsthaften Dialog mit der FIS verweigert, in der trügerischen Hoffnung, eine militärische Lösung erzwingen zu können. Auch die „Plattform von Rom“, in der die FIS und sechs weitere Parteien, die bei der ersten Runde der letzten Parlamentwahlen im Dezember 1991 zusammen über 80 Prozent der Stimmen erreichten, den Dialog forderten und sich demokratischen Prinzipien verpflichteten, wiesen die Militärs vor zwei Jahren zurück. In fünf Jahren haben 70.000 Menschen ihr Leben verloren, und der islamistische Terror und Widerstand scheint ungebrochen.
Die Wahlen vom kommenden Donerstag werden Algerien dem Frieden vermutlich nicht näher bringen – selbst wenn sie – immer unter den Bedingungen des Ausnahmezustands – einigermaßen regulär ablaufen sollten. Dutzende von Parteien sind zugelassen, nur der Sieger der bisher einzigen demokratischen Parlamentswahlen nicht. Mag sein, daß die FIS inzwischen einen Großteil ihrer Wählerschaft verloren hat. Doch nur ihre Zulassung zu den Wahlen könnten da Klarheit schaffen. Nur ihre Einbindung in die demokratische Auseinandersetzung könnte den terroristischen Gruppen den Boden entziehen. Auch im günstigsten Fall würde dann Algerien wohl noch auf Jahre hinaus mit unkontrollierter Gewalt leben müssen, einem wirklichen „terrorisme résiduel“, einem Rest-Terrorismus – als Preis der späten Einsicht der Mächtigen. Noch aber deutet nichts darauf hin, daß die Militärs zu einem Dialog mit der islamistischen Opposition bereit sind. Offensichtlich geht es ihnen nicht vorrangig um die Befriedung der algerischen Gesellschaft und noch weniger um die Herstellung demokratischer Verhältnisse geht, sondern vor allem um die Erhaltung ihrer eigenen Macht und die Verteidigung der damit verbundenen Pfründe.
Thomas Schmid, 05.05.1997 (unveröffentlicht)