Am Anfang stand eine Frau, und es war wirklich Liebe auf den ersten Blick. Griechische Seefahrer waren an der Küste Liguriens an Land gegangen. „Sie suchten den König der Segobriger auf, der Nann hieß, und warben um seine Freundschaft“, berichtet der römische Schriftsteller Justinus über 400 Jahre später, „denn auf seinem Territorium wollten sie eine Stadt gründen. Zufällig aber war nun der König an jenem Tag damit beschäftigt, die Hochzeit seiner Tochter Gyptis auszurichten, die er nach dem Brauch seines Volkes jenem zur Gemahlin geben wollte, den sie während des Festmahls auswählen würde. Als alle zur Hochzeit geladenen Freier eingetroffen waren, wurden auch die Griechen gebeten, am Tisch Platz zu nehmen. Dann wurde die junge Frau hereingeführt, und als ihr Vater sie anwies, demjenigen das Wasser anzubieten, den sie zum Gemahl haben wolle, ging sie an allen Freiern vorbei, wandte sich den Griechen zu und bot Protis das Wasser an, der vom Gast zum Schwiegersohn wurde und von seinem Schwiegervater ein Stück Land erhielt, um eine Stadt zu gründen. So wurde in der Nähe der Rhonemündung, in einem abgelegenen Winkel des Meeres, Marseille gegründet.“
Marseille hat seinen Ursprung also in der Liebe der Tochter eines ligurischen Bauernkönigs zu einem dahergelaufenen Ausländer. Über den Wahrheitsgehalt der Legende mag man streiten. Tatsache ist, dass Marseille von Griechen aus Phokäa, einer Küstenstadt Kleinasiens, im Jahr 600 v.u.Z. gegründet wurde. Und da die griechischen Siedler in der Regel ohne Frauen zur See fuhren, darf man annehmen, dass schon die frühen Bewohner der Hafenstadt vorwiegend ethnische Mischlinge waren. Und Marseille sollte wie keine zweite Mittelmeerstadt, mit Ausnahme von Istanbul vielleicht, ein „melting pot“ werden. Die älteste Stadt Frankreichs hat bis in die jüngste Zeit immer wieder Massen von Ausländern angezogen, ihnen Arbeit oder Zuflucht geboten. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war jeder sechste Einwohner Marseilles Italiener. Anfang der 20er Jahre landeten über 60.000 Armenier, die den Völkermord überlebt hatten, im Hafen der Stadt. Ein Drittel von ihnen blieb, die andern zogen weiter in den Norden Frankreichs. Dann kamen die italienischen Antifaschisten, die von Francos Truppen geschlagenen Republikaner Spaniens, deutsche Antifaschisten, in den 50er Jahren die tunesischen Juden, nach dem verlorenen Indochinakrieg Vietnamesen und in jüngster Zeit vor allem Maghrebiner und Schwarzafrikaner aus den ehemaligen französischen Kolonien.
Die einen vermischten sich mit der ansäßigen Bevölkerung, andere bildeten Ghettos. Für viele aber war Marseille nur eine Durchgangsstation. Sie kamen von der andern Seite des Mittelmeeres und wollten nach Europa, das erst jenseits der Hügel hinter der Hafenstadt begann. Oder sie mussten aus diesem Europa fliehen, warteten auf das Visum und die Schiffskarte für die Reise nach Amerika und „schwatzten alle unaufhörlich von ihren Transits, von ihren abgelaufenen Pässen, von Dreimeilenzonen und Dollarkursen, von Visa de sortie und immer wieder von Transits“, wie die deutsche Schriftstellerin Anna Seghers, die bis 1940 im Pariser Exil lebte und dann über Marseille nach Mexiko floh, in ihrem Roman „Transit“ schreibt.
Vor allem eines der 111 Viertel Marseilles ist von dieser Geschichte der Ein- und Durchwanderung geprägt: Belsunce. Es liegt im Herzen der Stadt, zwischen dem Bahnhof und dem Alten Hafen. Hier findet man in den kleinen Hotels und schäbigen Absteigen noch für 50 Francs, umgerechnet 15 DM, ein „individuelles Zimmer“ oder für 30 Francs „une place“, einen Schlafplatz im Mehrbettsaal. Belsunce hat sein eigenes Flair. Namen von Cafes und Restaurants wie „Tausendundeine Nacht“, „Scheherezade“ oder „Die Verschleierte Prinzessin“ künden von der Exotik des Orients, die Schwärmer und Schriftsteller im vergangenen Jahrhundert hier zu schnuppern glaubten. Doch die Varietes und Musikcafes sind längst von gewöhnlichen Kinos und Porno-Schuppen verdrängt. Und vom „Alcazar“, dem legendären Konzertsaal, steht nur noch die Fassade. Belsunce, einst Mischung von Glitzer und Glamour, Halb- und Unterwelt, Boheme und Elend, ist heute ein heruntergekommenes Viertel.
Und doch hat Belsunce seinen Charme: Händler preisen orientalische Teppiche mit babylonischen Löwen oder der Kaaba von Mekka an, auf dem Boulevard dröhnt algerische Rai-Musik, und es riecht nach gebratenen Merguez, den scharfen Würsten aus Lammfleisch. In algerischen Kaffeestuben wird ein süßes schwarzes Gebräu serviert. Die Tunesier haben sich eher aufs Konditoreiwesen kapriziert, und die Marokkaner kontrollieren den Handel mit Kultgegenständen. In vielen Hauseingängen sitzen afrikanische Frauen in farbigen Gewändern. Geschäftige Araber, schwarze Schönheiten mit Dreadlocks, versoffene Clochards bevölkern Belsunce, das „Viertel der Armut“.
Andere sprechen vom „goldenen Dreieck“ oder der „Höhle des Ali Baba“. In den Spitzenzeiten Mitte der 80er Jahre setzten die arabischen Geschäfte in Belsunce, so der Zeithistoriker Emile Temine, ein intimer Kenner des Viertels, Waren im Wert von vermutlich umgerechnet einer Milliarde Mark um. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass Belsunce damals etwa 13.000 Einwohner zählte, von denen die meisten unter ärmlichen Bedingungen lebten. Doch ein beachtlicher Teil der Kundschaft machten maghrebinische Zwischenhändler aus dem Großraum Marseille aus. Und über ein Drittel des Umsatzes war den rund einer Million Algeriern zu verdanken, die jährlich nach Marseille kamen, um dort mit dem Geld von Verwandten, die in Frankreich arbeiteten, einzukaufen, was in der Heimat nicht oder nur zu wesentlich höheren Preisen erhältlich war. Belsunce wurde insofern zurecht die Lunge der algerischen Wirtschaft genannt. Die Einführung der Visumspflicht für Maghrebiner 1986 hat denn auch nicht nur zu Versorgungsschwierigkeiten in Algerien geführt, sondern auch zu einer weiteren Verarmung von Belsunce.
Für die meisten Politiker und vor allem für die Geschäftswelt der zweitgrößten Stadt Frankreichs ist Belsunce ohnehin nur ein Geschwür, das man am besten möglichst schnell aus dem Stadtkörper entfernen sollte. Der schlechte Ruf des Viertels hat Geschichte. Schon 1912 beklagten sich Händler in einem Brief an den Präfekten, dass die armenischen und levantinischen Einwanderer „eine sehr große Gefahr für die öffentliche Hygiene“ darstellten. „Jeder weiß“, schrieben sie, „wie schmutzig sie sind, Feinde jeder Hygiene, gekleidet in dreckige Lumpen. In ihrer schmutzigen Wäsche tragen diese Leute den Samen der Cholera und Pest, von den eiternden Augenentzündungen ganz zu schweigen.“ 1928 bemerkte der Publizist Henri Fluchere gewiss korrekt, aber dennoch verräterisch, es gebe in Belsunce „Kaffeestuben, Restaurants, Mädchen, Zuhälter, Griechen, Juden, Araber, Pissoirs, und Platanen.“ Der deutsche Schriftsteller Walter Benjamin, wiewohl eigentümlich fasziniert von der Stadt, schrieb ein Jahr später: „Das Hafenvolk ist eine Bazillenkultur; Lastträger und Huren menschenähnliche Fäulnisprodukte.“ Alfred Rosenberg hingegen, der nationalsozialistische Rassentheoretiker, ortete das Problem auf anderer Ebene. Marseille sende „immer neue Bastardisierungskeime“ ins Landesinnere, diagnostizierte er bereits 1930, schon sehe man in Paris „Neger und Mulatten am Arm weißer Frauen“.
In den Jahren 1941 und 1942, als Marseille zum unbesetzten, von Marschall Petain regierten Teil Frankreichs gehörte, wurde viel über eine Modernisierung der alten Viertel am Hafen diskutiert, die bald als „lepröse Inseln“, bald als „Kloaken, in denen sich der Abschaum des Mittelmeers sammelt“, beschrieben wurden. Und es war von Sanierungsprojekten die Rede, die mit den „ungesunden Vierteln“ aufräumen sollten. Doch die kamen nicht mehr zur Ausführung. Mitte November 1942 marschierten die Nazis in der Hafenstadt ein und sanierten auf ihre Weise. Marseille sei ein internationales Banditennest, der Krebs Europas, verkündete der Höhere SS- und Polizeiführer Karl Oberg, Himmlers Vertreter im besetzen Frankreich, und Europa werde nicht leben können, solange Marseille nicht gesäubert sei. Im Februar 1943 wurden große Teile der Altstadt gesprengt, nachdem über 20.000 ihrer Bewohner zwangsevakuiert worden waren. Etwa 1.500 wurden nach Deutschland deportiert. Ein Drittel von ihnen kam nicht mehr zurück. 780 Juden waren schon vor der Evakuierung bei Razzien im Hafenviertel festgenommen und abtransportiert worden.
Es ist viel darüber gestritten worden, weshalb Himmler ausdrücklich die „radikale Sprengung des Verbrecherviertels“ forderte. Wollte man einen schwer kontrollierbaren Stadtteil aus strategischen Gründen zerstören, spielten Immobilienspekulationen eine Rolle, oder war es einfach Vergeltung für Bombenattentate des Widerstands? Ein Greuel war das kosmopolitische Chaos des Hafenviertels den nach ethnischer Sauberkeit strebenden Nazis allemal. In einem Polizeibericht heißt es, man habe „durch den Reichsführer SS den Sonderauftrag erhalten, Stadtgebiet und Hafen von Marseille, als das größte, durch Tausende von fremdrassigen, vor allem politischen Elementen beherrschte Verbrecherzentrum des Kontinents zu säubern und zu vernichten und dieses Gebiet durch umfangreiche Maßnahmen, auch städtebaulicher Art, wieder zu einer sauberen Stadt zu machen“.
An die einst so quirlige Altstadt mit ihrem Völkergemisch erinnern heute nur noch die wenigen Straßenzüge von Belsunce. Welche „Maßnahmen städtebaulicher Art“ die Nazis durchgeführt hätten, um Marseille zu säubern, wissen wir heute nicht. Aber nun droht ein urbanistisches Großprojekt das pittoreske Viertel weiter einzuschnüren. Unter dem Titel „Euromediterranee“ sollen in einem Dreijahresplan, für den umgerechnet 400 Millionen DM budgetiert sind, zwischen dem Bahnhof und dem im letzten Jahrhundert gebauten Hafen Joliette 313 Hektar Land saniert werden. Von den 100.000 Quadratmetern Nutzfläche der alten Docks von Joliette ist schon die Hälfte renoviert. Doch aus den hochfliegenden Plänen, dort Kultur und Kommerz zu vereinen, ist nichts geworden. Vermietet und verkauft wird an den, der bezahlen kann. Die Türschilder sprechen eine klare Sprache: Union Steel, World Water Council, Asia Atlantic Group, Intercon Shipping. Die Gemäldeausstellung des internationalen Rotary-Clubs in einem kleinen Raum des Erdgeschosses der sechs Stockwerk hohen und 365 Meter langen Docks wirkt da wie ein Alibi.
Im Rahmen der „Euromediterranee“ sollen auch 14.400 neue Wohungen gebaut werden. Nur der Rand Belsunces ist direkt betroffen. Auf den Hochglanzbroschüren, die das Projekt Investoren und Bevölkerung schmackhaft machen will, ist von „Wiederinstandsetzung“, „Funktionsverbesserung“, „Aufwertung des Raums“, „Verbesserung der Ost-West-Synergie“ die Rede. Große Worte, die mehr verschleiern als erklären. Man werde sich weder von der Obsession, zu demolieren, noch von der Obsession, alles zu erhalten, leiten lassen, erklärt mit ausgewogener Neutralität Renaud Muselier, Präsident des Organs, das mit der Durchführung des Großprojekts betraut ist.
Doch bei Abschluss der „Euromeditarrenee“ wird das alte Belsunce wieder etwas kleiner sein, eingezwängt zwischen dem bereits bestehenden Kommerzzentrum „Centre Bourse“, den neuen Universitätsinstituten hinter dem Bahnhof, den Neubauten im Norden und der Canebiere, der Prachtmeile Marseilles, im Süden. Seine Bewohner, zur Hälfte Ausländer, zu einem weiteren Viertel Franzosen maghrebinischer Herkunft, werden dann noch exotischer wirken.
Über kurz oder lang aber wird auch das Zentrum von Belsunce saniert werden. Da gibt es für Henry Roux-Alezais keinen Zweifel. Der Präsident der ältesten Handelskammer der Welt residiert im Palais de la Bourse, einem der prächtigsten Paläste ganz Marseilles, just am Rand von Belsunce. Zudem ist er auch noch Präsident des hypermodernen 68 Kilometer langen autonomen Hafens von Marseille-Fos, Präsident des Vereins der Handelskammern des Mittelmeerraums und Präsident des „Klubs von Marseille“, einer Vereinigung von Wissenschaftlern, Geschäftsleuten, Juristen und Notabeln wie dem Kommandanten der Fremdenlegion und dem Erzbischof, die regelmäßig über die Zukunft des Mittelmeerraums debattiert und eine eigene wissenschaftliche Publikationsreihe herausgibt. Auch in Belsunce werden, wenn das Viertel einmal saniert ist, die Mieten steigen. Dass seine traditionellen Bewohner, die Schmuddelkinder der Stadt und Überbleibsel ihres einst kosmopolitischen Zentrums, dann in entferntere Viertel verdrängt werden, liegt auf der Hand. „Marseille wird eine moderne, funktionale Innenstadt mit einem gesunden Verhältnis von Geschäftsleben und Wohnraum haben“, sagt Roux-Alezais „das ist das Ziel.“
Von vergangener Größe und vergangenem Großmut der Stadt, die einst Arbeitssuchende und Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen hat und in der der Rechtsextremist Le Pen bei den letzten Präsidentschaftswahlen am meisten Stimmen erhalten hat, werden dann nur noch die Ausstellung im historischen Museum im Sous-sol des Centre Bourse oder die großen steinernen Skulpturen der Seefahrer Pytheas und Euthymene am Palais de la Bourse zeugen, die für Marseille vor vielen hundert Jahren die Handelswege bis Schottland hinauf und hinunter bis Senegal erschlossen haben – und nicht mehr lebende Menschen in komischen Gewändern und mit seltsamen Mützen.
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 24./25. Mai 1997