Don Camillo und Peppone in der Karibik

Die Herzen der Kubaner werden ihm zufliegen. Papst Franziskus versteht es, auf die Menschen zuzugehen. Er kennt die Nöte der Armen, und Kuba ist ein armes Land, ein sehr armes sogar. Und außerdem ist der Heilige Vater ein Latino. Nach dem Polen Wojtyla und dem Deutschen Ratzinger wird der Argentinier Bergoglio der dritte Papst sein, der das kommunistische Kuba besucht. Auf der Insel macht sich neue Hoffnung breit. Die Eiszeit in den Beziehungen zwischen der Insel und den USA ist zu Ende gegangen. Seit Mitte August flattert wieder das Sternenbanner am Malecón, der Uferpromenade Havannas.  Und dies ist auch Papst Franziskus zu verdanken. Denn schließlich hat der Pontifex Maximus (wörtlich: der Oberste Brückenbauer) in aller Stille vor einem Jahr die Gespräche zwischen Havanna und Washington eingefädelt.

Als Brückenbauer versteht sich auch Kardinal Jaime Ortega, der Erzbischof von Havanna. Seit nunmehr drei Jahrzehnten nimmt unter seiner Führung die katholische Kirche Kubas immer wieder eine Vermittlerposition zwischen  Gesellschaft und Regime ein. Bei der Freilassung der 75 Journalisten und Menschenrechtler, die im „Schwarzen Frühling“ 2003 zum Teil zu jahrzehntelangen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren, kam der Kirche vor fünf Jahren eine Schlüsselrolle zu. Aber es gibt unter den Dissidenten auch Hardliner, die Kardinal Ortega vorwerfen, mit seiner Suche nach Kompromissen die Diktatur Raúl Castros aufzuwerten. Im Übrigen, so giften böse Zungen, wäre den Kubanern vieles erspart geblieben, wenn vor über 60 Jahren nicht just ein Kirchenmann seinem Bruder Fidel, der die Insel von 1959 bis 2006 regierte, das Leben gerettet hätte.

In der Tat hat Fidel Castro sein Leben gewissermaßen Enrique Pérez Serantes, dem früheren Erzbischof von Santiago, zu verdanken. Am 26. Juli 1953 versuchte der bärtige Revoluzzer mit 130 verwegenen Genossen die Kaserne der zweitgrößten Stadt Kubas zu stürmen. Das abenteuerliche Unternehmen scheiterte kläglich. Zahlreiche Guerilleros wurden vor Ort niedergemetzelt oder gefangengenommen und danach zu Tode gefoltert. Fidel Castro aber entkam mit einigen Mitstreitern in die nahe Sierra Maestra. Pérez Serantes rang damals dem örtlichen Armeekommandanten die Zusage ab, die flüchtigen Rebellen vor ein ordentliches Gericht zu stellen, falls sie sich ergäben. Und der Erzbischof machte sich sogar selbst auf, den Revolutionär zu suchen. Entdeckt wurde Fidel Castro von einer Patrouille der Gendarmerie. Sie stieß in einer abgelegenen Berghütte auf drei bewaffnete, schlafende Männer. Der Leutnant, der den Trupp kommandierte, verbot seinen Gendarmen, die Guerilleros zu töten und brachte Castro unter Beobachtung zahlreicher Zeugen zum Stadtgefängnis, wo er sie unversehrt übergab.

Als fünfeinhalb Jahre später Fidel Castro vom Balkon des Rathauses von Santiago den Sieg der Revolution verkündete, lud er den Erzbischof ein, sich neben ihm aufzustellen. Und wenige Tage später erklärte er der Presse, die Revolution habe die „totale Unterstützung der Kirche“. Doch schon ein halbes Jahr später, als liberale Kräfte, die die Revolution unterstützt hatten, ausgeschaltet wurden, forderte Enrique Pérez Serantes die Kubaner auf, „mit dem Kommunismus in gar keiner Weise zusammenzuarbeiten“. Noch hatte sich die Revolution nicht unter die Fittiche der Sowjetunion begeben. Aber nach der von der CIA logistisch unterstützten, aber gescheiterten Invasion von Exilkubanern in der Schweinebucht 1961, an der im Übrigen auch drei spanische Priester teilnahmen, schlug das Revolutionsregime erbarmungslos zu.

Das Bildungssystem wurde verstaatlicht, das bedeutete auch die Schließung von über 150 kirchlichen Schulen und der katholischen Universität in Havanna. Und nachdem in der Hauptstadt eine kirchliche Prozession zu einer Demonstration gegen das Regime wurde und es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, verwies die Regierung kurzerhand 132 Priester, unter ihnen den Auxiliarbischof von Havanna, des Landes. Hatte es unter der Diktatur Batistas in den 1950er Jahren noch 800 katholische Priester in Kuba gegeben, drei Viertel von ihnen waren Spanier, waren es jetzt gerade noch 200. Rund 500 Priester hatten, wie viele Angehörige der oberen Gesellschaftsschichten auch, schon in den Monaten nach dem Sieg der Revolutionäre die Insel verlassen. Von den 2.000 Ordensschwestern war gerade jede zehnte geblieben.

Die Kubaner sind zwar ein religiöses Volk. Aber die katholische Kirche hatte auf Kuba nie annähernd die Bedeutung, die sie in den meisten Ländern Lateinamerikas hatte. Der Grund ist einfach: In den meisten Ländern des Subkontinents wurden die einheimische Bevölkerung missioniert, in Kuba hingegen ausgerottet und durch aus Afrika importierte Sklaven ersetzt. Auch vor der Revolution waren nur etwa 40 Prozent der Kubaner getauft, und zur Sonntagsmesse ging nur etwas mehr als ein Prozent. Mit der Enteignung ihrer Ländereien und Immobilien sowie der Verstaatlichung des Schulwesens war die Kirche nun zu einem Mauerblümchendasein verurteilt.

Für Gläubige brachen schwierige Zeiten an. Kirchgänger wurden mitunter von Stoßtrupps der kommunistischen Parteijugend mit Steinhagel empfangen. Und viele Priester, unter ihnen auch Jaime Ortega, heute Erzbischof von Havanna, wurden zusammen mit Schwulen und andern, die das Regime für asozial hielt, in Umerziehungslager gesteckt, die UMAP hießen. Die Abkürzung steht für „Militärische Einheiten zur Unterstützung der Produktion“.

In der Kommunistischen Partei waren Mitglieder der Kirche laut Parteistatut von 1975 nicht zugelassen, und in der Verfassung von 1976 wurde Kuba zum atheistischen Staat erklärt. Die Kirche wurde zum Verstummen gebracht, wurde zur „Kirche des Schweigens“. Eine Wende schien sich 1985 abzuzeichnen. Da erschien in Kuba ein Buch mit dem Titel „Fidel und die Religion“. In 23 Stunden nächtlichen Gesprächen berichtete der Revolutionsführer dem brasilianischen Dominikanerpater Frei Betto von seiner Kindheit aus dem Land, von seiner Erziehung im Jesuitenkolleg, von seiner Beziehung zur Religion.

Noch im Jahr seines Erscheinens wurde der fast 400 Seiten dicke Schmöker allein in Kuba über eine halbe Million mal verkauft. Hinter der publizistischen Offensive stand ein strategisches Kalkül. Castro suchte das Bündnis mit der Befreiungstheologie, die der polnische Papst im Vorjahr ex cathedra verurteilt hatte. Es pries die progressive Kirche der Armen, die in ganz Lateinamerika die Machthaber mit sozialen, aber auch politischen Forderungen konfrontierte.

Mit dem Kollaps der Sowjetunion, der die Insel in eine tiefe Wirtschaftskrise stürzte, von der sie sich bis heute nicht erholt hat, löste ein Tauwetter die Eiszeit zwischen Kirche und Regime auf: 1991 revidierte die Partei ihre Statuten und nahm nun auch bekennende Gläubige in ihre Reihen auf. Mit der neuen Verfassung von 1992 wurde jede religiöse Diskriminierung explizit verboten. Gewiss nicht zufällig sprachen sich im selben Jahr die kubanischen Bischöfen zum ersten Mal öffentlich gegen das US-Embargo aus. 1998 kam Papst Johannes Paul I. nach Kuba und hielt auf dem Platz der Revolution, wo sonst Fidel vor die Massen zu treten pflegte, vor Hunderttausenden eine katholische Messe.

Die Eiszeit schien endgültig zu Ende zu sein. „Kuba möge sich der Welt öffnen, und die Welt möge sich Kuba öffnen“, hatte der Pontifex maximus über den riesigen Platz gedonnert. Doch sechs Jahre nach dem ersten Besuch eines Papstes auf der kommunistischen Insel bilanzierte Kardinal Jaime Ortega, Erzbischof von Havanna, nüchtern: „Die Predigten des Papstes waren sehr klar, aber sie haben keine Antwort erhalten. Außer dass man Weihnachten zum Feiertag erklärt hat, hat man all unsere Stellungnahmen und Forderungen ignoriert.“

Erst nachdem Fidel den Stab an seinen jüngeren Bruder Raúl übergab, wurde ab 2009 sehr zaghaft mit der Restitution einiger weniger nach der Revolution enteigneter Kirchengebäude begonnen. Und im vergangenen Jahr erlaubte das Regime zum ersten Mal seit der Revolution den Bau eines neuen Gotteshauses. Viele Dissidenten halten die Konzessionen an die Kirche für ein taktisches Manöver der Machthaber und werfen dem Klerus vor, das Regime letztlich zu stützen. Angesichts der scharfen Wirtschaftskrise ist in Kuba der soziale Frieden permanent gefährdet. Da mag in der Tat jede Konzession des Regimes – ob gegenüber den USA, der Kirche oder der Internet-Gemeinde – das Herrschaftssystem stabilisieren, andererseits aber bietet jede Öffnung oppositionellen Kräften innerhalb und außerhalb der alles kommandierenden Partei mehr Raum und mehr Möglichkeiten, die Diktatur herauszufordern und Alternativen ins Gespräch zu bringen.

In Kuba gibt es zwischen Kirche und Staat einen Dialog und eine Fehde, die mitunter an Don Camillo und Peppone erinnert. Jede Seite verfolgt ihre eigenen Interessen. Der Ausgang ist offen. Historiker mögen später rückblickend beurteilen, ob der Besuch des Papstes zur Stabilisierung oder zur Zersetzung des kommunistischen Regimes beigetragen hat –  oder für die meisten Kubaner, die sich im grauen Alltag abmühen, irgendwie über die Runden zu kommen, einfach nur eine willkommene Abwechslung, ein Event war.

Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 18.09.2015 (dort unter anderem Titel erschienen)