Vogelkundler lieben nun mal die Natur. Und so schöpfte niemand Verdacht, als die drei Dutzend Ornithologen, die vor hundert Jahren aus zahlreichen Ländern in der Schweiz zusammenkamen, in Bern vier Pferdefuhrwerke bestiegen und aufs Land hinausfuhren. In Zimmerwald, einem Dörfchen zehn Kilometer außerhalb der Stadt, in einer sanften Hügellandschaft zwischen Wäldern und Wiesen gelegen, da, wo Amsel, Drossel, Fink und Star um die Wette zwitschern, hatten sie das Hotel Beau-Séjour (Schöner Aufenthalt) für ihre Tagung reserviert. Einige nächtigten dort, andere in der benachbarten Pension Schenk. Dem Staatsschutz war nichts aufgefallen. Auch dem Landjäger nicht, der dem Wirt des Hotels eine Strafe aufbrummte, weil der die Polizeistunde nicht einhielt und weil die lustige Gesellschaft zu laut zechte. Und die Dörfler erfuhren erst, als die illustren Gäste abgereist waren, wen sie da beherbergt hatten.
In Europa tobte bereits seit über einem Jahr ein Krieg, der etwa 17 Millionen Menschen das Leben kosten sollte, als in Zimmerwald Weltgeschichte geschrieben wurde. In der abgelegenen Herberge hatten sich, als schrullige Wissenschaftler getarnt, prominente Sozialisten eingefunden, unter ihnen Wladimir Iljitsch Uljanow und Lew Dawidowitsch Bronstein, schon damals als Lenin und Trotzki bekannt, aber auch der polnische Sozialdemokrat Karl Radek, der an der Russischen Revolution von 1905 beteiligt war und 1907 nach Deutschland emigrierte, wo er der SPD beitrat. Aus Italien, Frankreich, Schweden, Bulgarien, Rumänien und den Niederlanden waren ebenfalls Genossen angereist. Und auch drei Genossinnen waren gekommen, unter ihnen die Deutsche Bertha Thalheimer, die später die KPD mitgründete, aus der sie dann ausgeschlossen wurde, und die als Jüdin das KZ Theresienstadt überlebte.
Sie alle vereinte ihre Gegnerschaft zum „Burgfrieden“, den die meisten Parteien der Zweiten (Sozialistischen) Internationalen mit der Regierung in ihren Ländern geschlossen hatten. Der Antimilitarismus war nach Kriegsausbruch dem Patriotismus gewichen. Überall in Europa unterstützten Sozialdemokraten und Sozialisten die Kriegsanstrengungen ihrer innenpolitischen Gegner. Angesichts der nationalistischen Aufwallungen appellierten die Genossen, die in Zimmerwald vom 5. bis zum 8. September 1915 zusammentrafen, an die internationale Solidarität der Arbeiterklasse.
„Europa gleicht einem gigantischen Menschenschlachthaus“, heißt es im „Zimmerwalder Manifest“, das im Wesentlichen vom wortgewaltigen Trotzki verfasst und von den versammelten Genossen verabschiedet wurde, „die Kapitalisten aller Länder, die aus dem vergossenen Blut des Volkes das rote Gold der Kriegsprofite münzen, behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes, der Demokratie, der Befreiung unterdrückter Völker. Sie lügen (…) Kulturelle Verödung, wirtschaftlicher Niedergang, politische Reaktion – das sind die Segnungen dieses gräuelvollen Völkerringens.“ Das Manifest schließt mit den Worten: „Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter! Witwen und Waisen! Verwundete und Verkrüppelte! Euch allen, die ihr vom Kriege und durch den Krieg leidet, rufen wir zu: Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg, Proletarier aller Länder vereinigt euch!“
Ein radikalerer Entwurf von Lenin, der aufforderte, den „imperialistischen Krieg“ in einen revolutionären Krieg gegen die herrschende Klasse umzuwandeln, fand keine Mehrheit. Aber die Minderheit um ihn formierte sich als „Zimmerwalder Linke“. Im Dorf bei Bern nahm damit die Spaltung der Arbeiterbewegung in eine sozialdemokratische und eine kommunistische Strömung ihren Anfang, eine Spaltung, die später den Sieg der Faschisten in Italien und der Nationalsozialisten in Deutschland erleichtern sollte.
Die Zimmerwalder selbst erfuhren vermutlich aus der „Berner Tagwacht“, dem Organ der Sozialdemokratischen Partei des Kantons, wer sich hinter den angeblichen Ornithologen verbarg, die in ihrem Dorf zu einem Geheimtreffen zusammengekommen waren. Denn Chefredakteur der Tageszeitung war Robert Grimm, der zur Konferenz eingeladen hatte. In jedem Weltatlas der Sowjetunion war schon bald der Ort Zimmerwald eingezeichnet. Aber stolz auf das historische Treffen waren die Dörfler nicht. Im Gegenteil, sie fanden es offenbar peinlich, dass sich „die rote Gefahr“ just bei ihnen eingenistet hatte. Jedenfalls waren sie gar nicht „amused“, als nach dem Krieg kommunistische Touristen ihren Ort aufsuchten und zahlreiche Briefe und Postkarten eintrafen, die Schulklassen oder Arbeiterkollektive aus der Sowjetunion abgeschickt hatten. Also ergänzten in einer Gemeindeversammlung die Männer (die Frauen erhielten erst neun Jahre später das Stimmrecht) die Gemeindebauordnung um einen Paragraphen „zum Schutz des gesunden Wohnens“, der die Aufstellung von Denkmälern und die Anbringung von Gedenktafeln jeder Art verbot. Man fürchtete offenbar, ein kupferner Lenin-Koloss oder ein Trotzki, gemeißelt in Stein, könnte das Dorfbild dauerhaft beschädigen.
Längst ist die Berliner Mauer gefallen und die Sowjetunion kollabiert. Und in Zimmerwald, wo einst als Vogelkundler getarnte Sozialisten eintrafen, befindet sich nun die Zentrale von Onyx, dem Schweizer Satellitenabhörsystem, die, getarnt als Mehrzweckhalle, vom militärischen Auslandsgeheimdienst errichtet wurde. Aus dem lauschigen alten Dorfplatz ist ein gewöhnlicher Parkplatz geworden. Das Hotel Beau-Séjour ist längst abgebrochen, und die Pension Schenk musste einer Filiale der regionalen Sparkasse weichen. Zimmerwald hat sich verändert, und seine Bewohner haben inzwischen ein unverkrampfteres Verhältnis zur Geschichte ihres Dorfes.
So nötigte es den Zuschauern nur noch ein Schmunzeln ab, als 1996 – das Dorf feierte den 700. Jahrestag seiner ersten urkundlichen Erwähnung – im Umzug ein Glatzkopf mit akkurat gestutztem Ziegenbärtchen mitlief, der dem Gründer der Sowjetunion zum Verwechseln ähnlich sah. Im selben Jahr trat im Dorf auch zum ersten Mal die lokale Jazz-Band „Hot Lenin“ auf, die vor allem Bossanova und Swing auf ihrem Programm hatte. Der Geiger der schrägen Musiktruppe, der Zimmerwalder Lehrer Caspar Bieler, hatte zuvor den FC Lenin gegründet. Heute gehören dem Fußballclub der etwas über tausend Seelen zählenden Gemeinde zwölf Amateursportler an, der Jüngste ist ein Teenager im Alter von 14 Jahren, der Älteste ist mit 66 ein rüstiger Rentner. Und auch eine Frau kickt mit. Unter den Trophäen des illustren Clubs befindet sich ein Pokal mit der Aufschrift: „Die Ornithologen gratulieren dem FC Lenin zum 11-jährigen Jubiläum“.
Zum 99. Jahrestag der Zimmerwalder Konferenz schrieben die beiden Schweizer Autoren Ariane von Graffenried und Matto Kämpf im vergangenen Jahr unter dem Titel „Alle Vögel sind schon da“ ein Theaterstück, gesprochen in Russisch und Schweizerdeutsch, das in Bern und Zürich aufgeführt wurde. Zum 100. Jahrestag findet nun zum ersten Mal im Regionalmuseum bei Zimmerwald selbst eine Ausstellung über die im Dorf lange Zeit verdrängte historische Konferenz statt. Die 40 Teilnehmer – unter ihnen Lenin, Trotzki, Radek und Grimm – sind alle, als Vögel dargestellt, auf einer Wäscheleine aufgereiht.
@ Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 24.08.2015